Gemischte Tage und Gefühle

Orscha, 8. Dezember 2018. – Seit meinem letzten Eintrag ist es Dezember und damit Advent geworden und der Heimaturlaub ist noch einmal näher gerückt. Es hat seinen Grund, dass ich länger als üblich nichts geschrieben habe, aber ab jetzt geht es hoffentlich normal weiter.

Nach dem Ende des Seminars war meine Ansprechpartnerin eine Woche lang auf einer Fortbildung und ich daher bei den anderen Lehrerinnen eingesetzt, meistens mit weniger Stunden als normal. Genauso wie immer läuft das manchmal gut, manchmal weniger. Mittlerweile kann ich die Schüler wie auch die Lehrer besser einschätzen, kenne die Klassen besser, kann die Lehrer besser „beurteilen“, sofern mir das überhaupt zusteht. Nach einer Weile sind manche Menschen doch etwas anders, als zunächst erwartet, meine Meinung hat sich bei einigen etwas verändert- positiv und negativ…

Es ist eben so, dass viele Unterrichtsstunden sich letztendlich für keinen der Beteiligten lohnen. Klasse 4 und 5 ist da meistens sehr dankbar, aber in Klasse 8 (wo ich oft bin) kann viel danebengehen. Die Schüler dürfen Texte über „Musikfestivals in Deutschland“ auswendig lernen oder in Gruppenarbeit erarbeiten. Und es ist viel zu klar, dass mindestens die Hälfte der Klasse den Zusammenhang des Textes nicht versteht. Eine andere achte Klasse darf ihre Lieblingssänger vorstellen, wirkt dabei aber genauso motiviert wie Klasse 8б beim Aufsagen der Biographie Beethovens.

(Diese Biographie war als Text im Buch und übrigens nicht mal korrekt, um ehrlich zu sein. Im Text stand, dass Mozart Beethovens Lehrer war, doch die beiden haben sich nicht einmal getroffen.)

Der spannendste Tag dieser vorigen Woche war der Donnerstag, an dem ich in eine weitere Schule eingeladen war: Дубровно (Dubrowna) liegt noch etwas östlich von Orscha, nur noch dreißig Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Die Straße Orscha-Dubrowna führt schnurgerade von meiner Einsatzstadt in den 8000-Einwohner-Ort, der offiziell Stadt ist, sogar Zentrum des dortigen Landkreises, aber irgendwie auch ziemlich Dorf. „Dorfstadt“ oder „Stadtdorf“ passt meiner Meinung nach am besten. Von Dubrowna aus würde die Straße vermutlich genauso gerade weiter nach Russland führen. Das Bittere: die Grenze ist offen und wird nicht kontrolliert, aber genau deshalb darf ich sie nicht überschreiten. Belarus und Russland arbeiten so eng zusammen, dass man alle Grenzkontrollen gestrichen hat; das bedeutet gleichzeitig, Ausländer dürfen die Grenze nicht passieren, da sie dann nicht kontrolliert werden können und ihr Visum so nicht überprüft werden kann. Demnach werde ich leider nicht ins nahe Russland fahren können und Dubrowna bleibt vorerst der östlichste Punkt Europas, an dem ich je war.

Den Kontakt nach Dubrowna hat eine Lehrerin in Orscha hergestellt. Es ist relativ offensichtlich, warum ich die Schule besuchen soll: die Schüler haben kaum Sprachpraxis und werden außer mir in nächster Zeit kaum noch einen Deutschen treffen. Diese Erwartung bestätigt sich in der Schule: die Schüler scheinen wenig darauf vorbereitet, ihre Sprachkenntnisse tatsächlich anzuwenden, und sind sehr scheu. Ich möchte die Schule gerne noch einmal besuchen, um vor allem sprechen zu üben.

Neben dem Austausch mit den Schülern werde ich noch von einigen Lehrern empfangen, darunter die beiden Deutschlehrer, eine Englischlehrerin und die Schulleitung. Es geht vor allem um Sprachen, wie schade es doch ist, dass immer mehr Schüler Englisch lernen wollen und so weiter. In Dubrowna gibt es bisher noch Deutsch und Französisch, und ich als Freiwilliger werde auch nicht verhindern können, dass beides neben Englisch weiter und weiter schrumpfen wird.

Am Abend komme ich noch zur Probe der Schulmusikgruppe, die zurzeit deutsche Weihnachtslieder einstudiert. Eigentlich mache ich nicht viel außer ein bisschen Aussprache üben, aber die Lehrerin findet es trotzdem toll und stellt irgendwelche Videos davon auf Facebook. Nach dem Weihnachtsteil üben die SuS- es sind tatsächlich zwei Jungs dabei, für die ich großen Respekt habe – noch die spaßigeren Stücke, ihre belarussischen und russischen Lieder und Tänze. Ich bitte eine weitere anwesende Lehrerin, sie möge mir doch bitte jeweils die Namen der Stücke aufschreiben, sodass ich später noch mal reinhören kann, und sie schreibt gleich den ganzen Text mit. Problem dabei: die Texte sind teilweise auf Belarussisch, der Sprache, die eigentlich niemand in Orscha spricht. Über die Rechtschreibung muss die Lehrerin sich also wieder mit anderen Kollegen beraten. Eine insgesamt ziemlich lustige Situation, finde ich, aber vielleicht muss man hier sein, um das zu verstehen. Jedenfalls kenne ich jetzt etwas mehr Musik auf Russisch und Belarussisch.

Am ersten Adventswochenende bin ich wieder in Minsk, Denise aus Sluzk hat Geburtstag. Wir verbringen das Wochenende zusammen, unsere „Feier“ gefällt mir insgesamt aber weniger, ich schreibe hier nichts mehr dazu. Ich bin jedenfalls relativ froh, als ich am Sonntag gegen 18 Uhr wieder in Orscha ankomme und noch ein bisschen telefonieren kann, doch schon am nächsten Tag bin ich krank. Vermutlich habe ich mich über das Wochenende erkältet, das trifft mich in dieser Woche mit voller Wucht. Ich gehe noch in die Schule, weil es gerade noch geht, aber ohne große Lust.

Am Mittwoch bin ich wieder in Minsk, für das „Kulturmittlertreffen“. Weil ein Zug ausfällt, muss ich frühmorgens losfahren und komme abends am gleichen Tag zurück, insgesamt fünf Stunden im Zug. Im Voraus hatte ich gar keine Lust, am Ende ist es aber doch sehr okay. Dieses Mal sind wieder alle fünf Freiwilligen da, was relativ selten ist. Vor dem Treffen sind wir мальчики noch im ГУМ, dem staatlichen Kaufhaus, wo man von allen Seiten beim Einkaufen oder Bummeln überwacht und damit unsanft daran erinnert wird, in welchem Land man sich gerade befindet. Trotzdem spricht mich hier eine Verkäuferin an, ich soll beurteilen, welche von zwei Farben modischer ist, als junger Mann müsse ich das doch wissen. Das wiederum könnte auch Deutschland sein.

Nachdem mein Russisch zwischendurch ein paar Mal Aussetzer hatte, habe ich am Mittwoch überraschend noch einen Erfolg: ein ziemlich langes Gespräch im Zug. Mein Gegenüber wird neugierig, als ich (endlich mal wieder :/ ) meine Karteikarten durchgehe, und spricht mich darauf an. Als meine Situation klar wird, kommt ein Feuerwerk der Standardfragen. Ich werde über alles ausgefragt, der junge Familienvater ist fasziniert. Er will mich am Ende sogar zu sich nach Hause einladen und mich seiner Familie vorstellen, wir haben auch Telefonnummern ausgetauscht – aber trotz seiner Beteuerung „я позвоню!“ ist bisher, am Samstag Abend, nichts gekommen.

Dann Freitag wieder Schule, Wochenende eher frei. Habe mir endlich die Haare schneiden lassen, es war höchste Zeit. Gerade liegen die Temperaturen bei etwa -3°, aber natürlich wird es noch kälter. Momentan ist außerdem alles glatt, nachdem der Schnee für einen Tag geschmolzen und dann wieder gefroren ist.

Zum Schluss noch etwas zum Schmunzeln: Klasse 4 redet gerade über ihre Familie, ein tolles Thema, weil die Schüler dafür einen schönen Stammbaum gestalten durften. Sie verwechseln nur immer mal Wörter und sagen Dinge wie „Meine Mutter ist sechsunddreißig Jahres Zeit“. Knuffig.

Всё… До свидания и всего хорошего!

Jonathan

Halbzeitpause in der Ukraine

Orscha, 26. November 2018. – Nach unserem Zwischenseminar kommt die schwierige Aufgabe auf mich zu, unsere völlig gefüllte gemeinsame Woche einigermaßen gut in einen Blogeintrag zu verpacken. Es war so eine besondere Zeit, dass ich das unbedingt würdigen möchte, ohne dass es für Außenstehende zu viel wird. Ich bemühe mich.

Erst einmal der grundsätzliche Rahmen. Unser Zwischenseminar findet in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine statt, ein paar Stunden von Lwiw (Lemberg) entfernt. Eingeladen sind die zwölf Freiwilligen aus Belarus (5), der Ukraine (5) und Moldau (2). Wir „Belarussen“ reisen zusammen an, treffen am Samstag morgens ein und fahren am folgenden Samstag abends wieder los. Eine ganze Woche Zeit in Lwiw und Iwano-Frankiwsk also.

Entgegen unserer Erwartungen haben wir im Vergleich keinen übermäßig langen Anreiseweg. Die Ukraine ist, wie wir bemerken, durchaus riesig, deshalb sind unsere 13-15 h von Minsk nach Lwiw gar nicht übertrieben viel. Die Zugfahrt über Nacht lässt sich gut aushalten. Während meiner Zeit im Ausland werde ich wirklich zum Gewohnheitszugfahrer, es hat so viele Vorteile…

Schließlich natürlich das Wiedersehen mit all den anderen „Homies“. Ich kann es kaum beschreiben, es ist wieder so eine einmalige Situation. Man kennt die Leute schon seit dem ersten Seminar und kann sich jetzt endlich wieder austauschen – und genau das tun wir auch, in den ersten Stunden bewegen wir uns vor lauter Reden kaum. Es ist unheimlich angenehm. Wieder so eine komische, unglaubliche Situation: mitten in der Ukraine Leute treffen, mit denen man sich gut versteht – wie gesagt, kaumbeschreiblich.

Ich habe keine Ahnung, wieso unsere Gruppe so gut zusammenpasst, wie sie es scheinbar tut, obwohl wir so zufällig zusammengeschoben wurden, aber ich bin unheimlich froh darüber. Die Zeit zusammen ist insgesamt einfach nur schön. Teilweise zu viele Eindrücke, zu viel Stoff zum Nachdenken auf einmal, aber am Ende eine rundherum tolle Woche.Unsere Gruppe am ersten Abend, ein Schnappschuss beim Kirschlikör. Fehlend: Ira Z.

Was man an unserer Gruppe allerdings bemängeln muss: die wortwörtlich fehlenden Rückblicke. Innerhalb der wenigen Tage prescht ein Teil unserer Gruppe einige Male schon vorwärts, während ein kleinerer Teil von uns orientierungslos zurückbleibt. Die Abstimmung untereinander lässt da doch immer wieder zu wünschen übrig. (Foto unten: zwei traurige abgehängte Jungs)

Links ich, rechts Björn (Moldau)

Der Aufenthalt sorgt nebenbei für die größtmögliche Sprachverwirrung. Russisch sollte man nicht sprechen, dafür geht Englisch plötzlich. Ein paar Wörter Ukrainisch schaden auch nicht, während die Moldauer etwas Russisch zu ihrem üblichen Rumänisch hinzufügen. Ukrainisch ist übrigens recht nah an Belarussisch, wie mir an einigen Details auffällt. Dazu kommen lateinische Inschriften und Ähnliches. Außerdem: die Ukrainer in russischsprachigen Gebieten lernen dialektgefärbtes Russisch, das sich in der Aussprache von unserem Russisch unterscheidet (und deswegen ungewollt völlig falsch klingt, sorry Marlene).

Iwano-Frankiwsk

Iwano-Frankiwsk (Foto: Leo Maier)

Eines der größten Themen des Seminars ist der unerwartet große Unterschied zwischen Belarus und der Ukraine, der uns Belarussen sehr schnell bewusst wird, soll heißen, schon kurz nach der Ankunft in Lwiw. Die Stadt ist voll – vollkommen, völlig voll – mit historischen Gebäuden und Plätzen, es gibt Touristen und die Menschen sprechen Englisch. Sowohl Ausländer wie auch Personen mit eher auffälligem Aussehen (Männer mit langen Haaren, Dunkelhäutige usw.) sind häufig anzutreffen, das Stadtzentrum ist eng und verkehrstechnisch eine kleine Katastrophe, an Wänden hängen Wahlplakate, den Boden bedeckt ein Kopfsteinpflaster. Alle diese Einzelheiten um uns herum zeigen uns schon, wie groß der Unterschied zu Belarus tatsächlich ist. (Ich fühle mich eher an Prag erinnert.)

In Lwiw (Fotos: Leo Maier)

Natürlich werden diese Beobachtungen von uns humoristisch aufbereitet.

Wir „Belarussen“ propagieren während unseres Aufenthalts durchgängig unsere Gegendarstellung: die Ukraine versinkt in Desorganisation bis zur Anarchie, während in Belarus die Welt noch in Ordnung ist, mit breiten, sauberen Straßen, strengen Verkehrsregeln und überwiegend leeren Plätzen. Zuletzt wird sogar der Begriff „präparadiesisches Belarus“ zum running gag. (So ein Seminar wird auch durch den vielen Blödsinn angenehm, ich streite es gar nicht erst ab.)

Die Seminareinheiten selbst finden in einem ehemaligen Fabrikgelände statt, welches zurzeit von unterschiedlichen Unternehmen und Organisationen neu hergerichtet wird, eine modern-innovative Umgebung, die wir sehr genießen. Petra, unsere Seminarleiterin, führt uns durch unterschiedliche Übungen, Lerneinheiten und Themen, während sie sich immer wieder wundert, wie diskussionsfreudig und eingespielt unsere Gruppe ist. An einem Nachmittag haben wir eine Stadtführung durch Iwano-Frankiwsk, an einem anderen ein Gespräch mit einer Vertreterin der Zivilgesellschaft, für Programm ist also gesorgt. Dabei wird mein und unser Blick auf die Region unheimlich geweitet. Schon jetzt sehe ich den Ukraine-Konflikt mit ganz anderen Augen. Von außen können wir die Lage kaum begreifen, kaum verstehen, was alles daran hängt. Wie durch den Krieg im OSten, um nur kleine Beispiele zu nennen, die Binnenflüchtlinge von dort im Westen Innovation, Wirtschaft und Aktivismus voranbringen, oder wie die verwendete Sprache (Russisch/Ukrainisch) in der Ukraine vollkommen politisch geworden ist.

Überraschend ist auch die Offenheit unserer neuen Bekannten. Sie gibt ohne Zögern zu, dass die gesamte Politik in der Ukraine korrupt ist – aber das ist eben so. „Wir erwarten von unserem Präsidenten, dass er nichts macht, die Leute regeln das schon untereinander“, sagt sie, eine Einstellung, die mich völlig verblüfft. Dazu Sprüche wie „Die Ukrainer sind ziemlich gut in Revolutionen – wann muss man auf die Straße, wann muss man verschwinden, wie kocht man draußen am besten Borschtsch usw. – nur nicht in dem, was danach kommt“.

Dadurch lernen wir auch Belarus besser zu verstehen, indem jemand, der sich auskennt, unsere subjektiven Eindrücke bestätigt. A) Belarus ist viel zu ordentlich und starr, B) Belarus ist wie ein Land der Vergangenheit. Beide völlig subjektiven Eindrücke lassen sich recht gut nachvollziehen, wenn man unser Einsatzland mit der zwar völlig korrupten und krisengeschüttelten, aber lebendigen Ukraine vergleicht. Erst aus der Ferne erkennt man die eher starren, geplanten Strukturen so richtig.Platten gibt es natürlich trotzdem noch

Während der Woche tauschen wir uns über alles Mögliche aus und gehen mit vielen neuen Eindrücken, Ideen und Überlegungen zurück in die Einsatzstellen. Ich genieße den Schritt zurück aus der Einsatzstelle sehr, die Zeit, in der man über seine Lage und sein FSJ reflektieren kann. Dadurch hat mir das ZWS sehr geholfen.

Am letzten Tag besuchen wir in Lwiw den alten Friedhof, auf dem die Geschichte uns wieder einmal voll erwischt. Man findet polnische, ukrainische, russische Gräber genauso wie einige deutsche und in min. einem Fall französische. Im Eingangsbereich ist ein besonderer Gedenkbereich für die Gefallenen des aktuellen Krieges und für andere Helden der Ukraine. Die aktuelle Politik fühlt sich sehr nah an.

An diesem Ewigkeitssonntag denke ich sehr an meine, unsere Kirchengemeinde. Ich wünsche euch allen alles Gute an diesem besonderen, dunklen Tag und denke an euch.

Bevor ich über Weihnachten nach Deutschland komme, werde ich vermutlich noch viel unterwegs sein. Doch durch das Seminar bin ich insgesamt beruhigt worden und stehe den neuen Aufgaben ruhig gegenüber.

Zuletzt das Wetter: gerade am Morgen sind es -1° bei bewölktem Himmel. Die Temperaturen werden am Tag vermutlich nur wenig steigen, für den Rest der Woche ist noch stärkerer Frost vorhergesagt.

Всё.

Всего хорошего и до свидания!

Jonathan

P.S.: Hier noch die Links zu Mitfreiwilligen, die ebenfalls beim Seminar waren:

https://kulturweit.blog/fernwehstillerukraine/

https://kulturweit.blog/izmail181/

https://kulturweit.blog/irainkiew/

Es wird ernst(er) – Der Vorseminarschnee

Orscha, 17. November 2018. – Passend zum neu gelernten Satz „наступила долгожданная зима“ (ein langerwarteter Winter ist angebrochen) beginnt in Orscha der Winter: am Dienstag hat es das erste Mal so richtig geschneit, der Restschnee liegt bis jetzt noch. Die Temperaturen schwanken um null Grad, soll heißen, am Morgen Minusgrade (gerade sind es -8°!) und am Nachmittag dann wärmer, bis zu 4°C, so war es gestern.  Bei den anderen Freiwilligen gab es übrigens keinen Schnee, Orscha ist da schon etwas Besonderes.

Sehr bald ist auch schon die Hälfte des Freiwilligendienstes erreicht – überrascht mich gar nicht so sehr, da die Zeit unheimlich gefüllt war – weshalb es für uns Freiwillige aus der ehemaligen Homezone 18 (Gruppe Belarus, Ukraine, Moldau) auf unser Zwischenseminar in Iwano-Frankowsk (Ukraine) geht. Morgen steht uns die lange, anstrengende Anreise per Zug bevor, doch das Seminar wird hoffentlich entspannt und vor allem gesellig… es muss eine ganz besondere Atmosphäre sein, es ist toll, dass wir eine ganze Woche zusammen verbringen können. Und auch ein bisschen Ruhe vor den Terminen der nächsten Zeit, wenn wir einmal angekommen sind.

Und noch mal eine Beobachtung aus dem Deutschunterricht: der Freitag war interessanter als die Freitage davor, aber mir ist vor allem wieder aufgefallen, wie viel unnötiges Zeug die Schüler lernen müssen. Meine Aufgabe ist häufig, Hausaufgaben abzufragen, denn diese bestehen oft aus Auswendiglernen. Am Freitag musste z.B. Klasse 8 die im Deutschbuch abgedruckten Musikstile aufsagen.

25 Musikstile. Ohne Erklärung, ohne Erzählen. 25 (!) Wörter aufsagen, von denen die meisten auf Englisch sind, und von denen ich einige noch nie gehört habe (Dancehall? Break n Beat?). Der Lerneffekt dieser Hausaufgabe ist de facto 0, aber niemand stellt sie in Frage.

Dazu tolle Lesetexte im Buch, die entweder „Jugendliche“ mit Namen wie Ronald oder Torsten zu Wort kommen lassen, oder vor deutscher ausländischer Kulturpolitik nur so triefen („Deutschlands Ruf als bedeutende Musiknation ist für immer mit den Namen von Bach, Beethoven, Brahms, Händel, Wagner verbunden„).

Das ist nur ein Beispiel, und das ist auch nur der inhaltliche Teil. Über die Grammatik will ich gar nicht reden.

Irgendwie bin ich noch gut durch den Rest der Woche gekommen, indem es an Terminen und Ähnlichem nicht gemangelt hat. Aber dazu kamen immer wieder auch angenehme Stunden, über die ich mich freuen konnte, teilweise in der Schulzeit, teilweise außerhalb.

Allerdings auch sehr viel Stoff zum Nachdenken. Seit einem langen Gespräch gestern sehe ich Belarus noch einmal anders und verstehe Vieles vielleicht besser. Und es sieht nicht gut für das Land und die Leute aus, eher traurig.

An dieser Stelle werde ich nicht viel mehr schreiben. Ich hoffe auf eine gute Anreise in die Ukraine und melde mich von dort aus hoffentlich wieder.

До свидания и всего хорошего,

Jonathan

 

Das Wsjo-Paka-Prinzip

Orscha, 13. November 2018. – Heute wieder ein neuer Beitrag aus der Stadt, in der es schon längst hätte schneien sollen, mit einem Rückblick auf die letzten Tage und Beobachtungen aus meiner Zeit hier im Osten.

Von Donnerstagabend bis Sonntagnachmittag bin ich in Minsk, wo das PASCH-Theaterfestival stattfindet. Da in diesem Jahr die Initiative PASCH: Schulen – Partner der Zukunft (immer noch kein guter Name) ihren zehnjährigen Geburtstag feiert, ist der Aufwand besonders groß. Die Schulen mit ihren Theatergruppen mussten sich zuerst bewerben, um teilnehmen zu dürfen und in den Genuss unterschiedlicher Theater-Workshops zu kommen. (Das Bewerbungsverfahren dient vermutlich nur dem Zweck, zu verhindern, dass absolut jeder teilnehmen kann, wie in den letzten Jahren.) Ich selbst bin aber in keinem der Workshops anwesend, da wir Freiwilligen die meiste Zeit hinter den Kulissen aktiv sind. Soll heißen, wir bereiten die Kaffeepausen vor, tragen Zeugs hin und her, kümmern uns um die Mülltrennung (also die Trennung des Mülls vom restlichen Zeugs, weiter geht man hier nicht) und essen vor allem Kekse.

Viele Kekse.

Am Freitagabend können wir noch eine „echte“ Theateraufführung besuchen. Das Stück mit dem deutschen Namen „Aufzug“ ist allerdings auf Belarussisch – in der Sprache also, die hier kaum jemand freiwillig spricht, die aber in der Kultur einen großen Stellenwert zu haben scheint. Ich höre den Unterschied zu Russisch fast nur an einigen belarussischen Wörtern, die ich kenne – der Rest könnte auch Russisch sein, obwohl es auf Russisch vielleicht einfacher zu verstehen wäre. Wie auch immer, die Handlung ist zwar grob verständlich, die langen Dialoge allerdings kaum bis gar nicht.

Das Highlight am Samstagabend ist natürlich die Aufführung der Theatergruppen. Wieder sind wir hinter den Kulissen aktiv, aber auch von dort ist es sehr eindrucksvoll. Alle Gruppen haben etwas ganz Eigenes vorbereitet, und auch der Beitrag aus Orscha kommt gut an. Vor allem sind wir alle mit unseren Schauspielerinnen (unten) sehr zufrieden. Die Mischung aus drei älteren (Klasse 10) und zwei jüngeren Mädchen (Klasse 4) ist gewissermaßen ideal, ich kann es kaum richtig beschreiben und bin beeindruckt, wie gut alle ihre Rollen ausgefüllt haben. Die kleinen waren während des Wochenendes fast durchgängig von allem begeistert – Zitat Irina: „Sie haben nix verstanden, aber fanden alles toll.“ Der volle Erfolg unseres „Debüts“ liegt vor allem an unseren Schauspielerinnen, keine Frage.

Die beiden Mädchen aus Klasse 4 spielen im Stück zwei Freundinnen…

…und die großen Zehntklässlerinnen deren Mütter und die Kellnerin

Der Fairness halber muss man aber sagen, dass die Gastgruppe aus Litauen mit Abstand am besten war. Die Litauer haben die Belarussen deutlich in den Schatten gestellt, werden das nächste Mal also wahrscheinlich nicht mehr über die Grenze gelassen.

Nach noch ein bisschen Zeit in Minsk komme ich wieder zurück nach Orscha. Ich weiß immer noch nicht, ob mir Minsk gefällt, um ehrlich zu sein, ich kenne die Stadt wenig. Und ich weiß auch nicht, ob mir das Leben in so einer Metropole gefallen würde. Es gibt natürlich Vor- und Nachteile, ich kann sie einfach nicht abwägen. Orscha ist bereits groß im Vergleich zu Gießen, das merke ich, aber hier komme ich soweit gut klar. Wie es in einer Millionenstadt wäre – keine Ahnung.

Es ist seltsam, wie ich manchmal sehr viel und manchmal kaum etwas zu tun habe, was meine Arbeit angeht. Für diese Woche sind relativ plötzlich drei neue Episoden meiner Powerpoint-Präsentationsserie (PPPS) dazugekommen, dazu noch einige der Dinge, die ich weiter aufschiebe oder zu lange aufgeschoben habe. Es gibt viel zu organisieren für die nächsten Wochen, während die Zeit hier sehr schnell zu vergehen scheint. Am kommenden Montag beginnt schon das halbzeitige Zwischenseminar und ich plane bereits bis weit danach (muss ich auch), was mir gewissen Stress macht.

Noch ein paar kurze Beobachtungen direkt von heute.

–Immer häufiger werde ich in der Schule für andere Aufgaben als im Unterricht eingesetzt – zum Beispiel Texte formulieren. Irina überlässt es gerne mir, die Texte „красиво“ (schön) zu gestalten, was mir auch wirklich Spaß macht. Wenn Irina dadurch beim Goethe-Institut Pluspunkte sammelt, haben alle etwas davon. Und ich schreibe recht gerne, wie man auch in meinem Blog sieht… Außerdem kommen vielleicht Musikprojekte, wir werden es noch sehen.

–Es ist auffällig, wie sehr die starken Schüler hier gefördert werden. Die Deutschlehrer nehmen sich viel Zeit für die starken Deutschschüler (de facto nur Mädchen, natürlich). Diese bekommen viele Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln, und nutzen das auch. Ich kann nicht sagen, ob das in anderen Fächern auch so ist; ich kenne nur den Deutschunterricht, und hier fällt es mir auf.

–Heute Morgen durfte ich Klasse 10 das deutsche Schulsystem präsentieren, was für die Schüler ziemlich interessant war. Vom Föderalismus über die Notengebung bis zu den Abschlussprüfungen, alles ist in Deutschland ganz anders als in Belarus. Wahrscheinlich waren die SuS nach dieser Stunde gründlich verwirrt bzw. konstruktiv irritiert.

–Für Klasse 4 habe ich einen Übungstext geschrieben und dort mit den Sätzen „Um 8 Uhr habe ich Belarussisch. Das ist doof. Belarussisch ist nicht mein Lieblingsfach.“ genau den Nerv der Klasse getroffen. Yay)

Am Ende sollte ich noch den Titel dieses Beitrags erklären. Es geht um etwas, das mir schon vor längerer Zeit aufgefallen ist: ich nenne es das wsjo-paká-Prinzip (russ. всё пока). Hier sieht man nämlich einen tatsächlichen kulturellen Unterschied, wenn man das so bezeichnen will: auf Russisch ist es vollkommen legitim, ein Gespräch ausschließlich mit den Worten „Alles. Tschüss.“ zu beenden, wobei „alles“ (всё) im Sinne von „das wars, das war alles“ gemeint ist. Man hört es ständig, wenn Leute in der Öffentlichkeit telefonieren, wahlweise auch als „всё, давай“. Im Restaurant fragen die Kellner nicht „Darf es noch etwas sein?“ sondern nur „всё?“ usw. usf. In vielen Situationen kann man hier sehr viel weniger Wörter verwenden, ohne unhöflich zu wirken – in den meisten Alltagssituationen muss man kaum oder gar nicht reden. Es gilt, wie fast immer in Belarus: wenn man sich ein bisschen auskennt, ist es kinderleicht, und wenn man sich gar nicht auskennt, hat man ein Problem.

Sich zu verabschieden dauert auf Russisch in der Regel jedenfalls maximal 1,5 Sekunden, Abschiedsworte sind meistens nicht erwünscht oder sogar unangemessen. Meiner Erfahrung nach zumindest. Das ist ein relativ grundsätzlicher Unterschied zu Deutschland, wo man am Telefon kaum so schnell fertig werden wird, ohne unhöflich zu sein.

Wie mir das gefällt, weiß ich noch nicht, es hat aber auch jeden Fall seinen Reiz.

Zuletzt das Wetter: 0 bis 1°C, kalt aber trocken. Angeblich schneit es morgen. Посмотрим.

Всё. До свидания!

Jonathan

Zwei Städte, ordentlich Stress und reichlich Nebel

Orscha, 07. November 2018. – Der Tag der Oktoberrevolution heute beginnt mit dem üblichen Nebel, der sich von den Flüssen aus über ganz Orscha verbreitet. Es ist ein vergleichsweise entspannter Tag nach ordentlich Stress, der auch noch nicht ganz vorbei ist.

Aber eins nach dem anderen.

Nach sehr ruhigen Ferientagen beginnt am Freitag unser Ausflug in den Norden, nach Witebsk und Polozk. „Wir“ sind die Freiwilligen des GI, also Sophia, Denise, Linus und ich (der fünfte kulturweit-Freiwillige, Leo, ist beim PAD/ZfA). Ich empfange Denise und Sophia am Freitagabend in Orscha und sie übernachten bei mir, die Wohnung ist ja groß genug.

In Witebsk treffen wir am Samstag erst Linus und dann die Studenten, die uns durch die Stadt führen sollen. Witebsk ist die viertgrößte Stadt in Belarus und gilt als Kulturmetropole; die Hauptstadt der Oblast ist auch eine Universitätsstadt und der Geburtsort von Marc Chagall. Die Studenten, mit denen wir uns treffen, haben eigentlich überhaupt keinen Bezug zu uns, aber da Irina das Treffen so arrangiert hat, nehmen wir das so hin.

Die Stadt ist an diesem Samstag völlig in Nebel getaucht, wie man auf den Fotos sehen kann. Bis es anfängt zu regnen, macht das den Ausflug aber nur noch eindrucksvoller. In Witebsk steht die schönste orthodoxe Kirche, die ich bisher gesehen habe, und die großen Plätze, Brücken und Gebäude sind auch bei Nebel oder Dunkelheit sehr beeindruckend.

Erst viel später können wir die Farbe erkennen

Der Siegesplatz in mysteriöser Atmosphäre

Das Wochenende nutzen wir vier, um uns ausgiebig über alles Mögliche auszutauschen. Ich habe Denise und Sophia einen Monat lang nicht mehr gesehen, da gibt es viel zu erzählen und zu besprechen. Einerseits sehr viel Organisatorisches: das vom GI verlangte Freiwilligenprojekt, das PASCH-Festival, die Reise in die Ukraine für das Zwischenseminar und so weiter. Dazu können wir auch gut vergleichen, wie es den anderen so ergeht; und zuletzt ist es auch einfach nett, sich über all die Sachen zu unterhalten, die uns allen hier auffallen – sich wiederholende Vornamen, das Gerede unserer Ansprechpersonen über uns, (fehlende) Hobbies in Belarus, was auch immer.

Mit dem folgenden Ergebnis, wie Denise es ausgedrückt hat: „Unser Wochenende besteht in großen Teilen daraus, das wir uns irgendwo hinsetzen und reden.“

Als wir in Witebsk in einem Restaurant genau das tun, spricht uns eine Gruppe Russen aus Moskau an und unterhält sich mit uns – eine sehr witzige Situation, vor allem, weil wir sie am nächsten Tag in Polozk noch einmal treffen. Völlig zufällig, aber sehr amüsant.

Wie geplant besuchen wir in Polozk das Orgelkonzert. Ich bin ziemlich beeindruckt von der Gast-Organistin aus Japan, was die anderen scheinbar weniger teilen, aber sie hätten ja auch nicht mitkommen müssen.

(Schon traurig, wie fast alle Konzertbesucher zwischen Fantasie und Fuge anfangen zu klatschen. Was für Idioten, sorry.)

Da ist sie

Wiederum werden wir von Studenten empfangen – diesmal hat Linus über Ecken etwas arrangiert – die uns die Stadt Polozk zeigen und mit uns ein paar Stunden verbringen. Wieder nutzen wir das Englisch-Deutsch-Russisch-Gemisch, wie schon in Baranowitschi, was soweit gut funktioniert. Polozk hält sich für das geographische Zentrum Europas und hat sich dafür ein Denkmal gesetzt. Dieses liegt mitten in einer langen, langen Park-Straße (schwer zu erklären), in der auch das Foto unten entstanden ist. Polozk ist wirklich eine nette Stadt, sie gefällt mir sehr.

Um genau zu sein: den russischen Teil nutzen die anderen Freiwilligen nicht. Wie ich an diesem Wochenende erfahre, haben Denise und Sophia noch nicht angefangen, Russisch zu lernen. Natürlich gibt es Gründe dafür, und es ist letztendlich ihre Sache – aber ich könnte das einfach nicht, und ich kann die beiden in dieser Hinsicht nicht verstehen.

Gerade in Sluzk (Denise) sind die Dinge scheinbar sehr kompliziert, da kann ich wohl froh sein, dass es bei mir so gut läuft.

Unsere Freiwilligengruppe gibt mir viel zu denken, wenn ich ehrlich bin. Man sieht jetzt schon, wie sich ganz klar eine Gruppendynamik entwickelt, und diese wird vermutlich so bestehen bleiben. Ganz interessant ist es auch, ein Jahr zurückzuschauen: der vorherige Jahrgang war eine vieeel größere Gruppe, die Situation bei ihnen war ganz anders. Und dieses Jahr werden ab März nur noch drei Freiwillige in Belarus sein…

Auf der Rückfahrt am Montag schwirrt mir dementsprechend viel zu viel im Kopf herum. Zu all den Eindrücken aus dem Wochenende kommt weiterer Stress: mein Laptop hat zwischendurch aufgehört zu funktionieren, die kommenden Reisen sind noch nicht organisiert, ich muss noch Dokumente einreichen und mich um die Aufenthaltsgenehmigung kümmern.

Die временное проживанние ist ohnehin ein Thema für sich.

Vor diesem Termin am Dienstag hatte ich den meisten Stress überhaupt. Ich sollte alleine zur Migrationsbehörde, ohne Irina, und dort alles Nötige klären.

Um es vorwegzunehmen: ich habe alles falsch gemacht, aber es hat am Ende geklappt.

Am Dienstag Mittag bezahle ich noch die entsprechende Rechnung. Habe ich zumindest vor. Die Dame am Schalter der Belarusbank (natürlich eine staatliche Bank, was denkt ihr denn) ist zwar freundlich und zuvorkommend, aber das ändert nichts daran, dass sie mich die falsche Rechnung bezahlen lässt. Ich hetze noch zur Belgazprombank und besorge dort die richtige Quittung – super, fast achtzig Euro ausgegeben. An der Behörde erfahre ich, dass das Amt eigentlich schon geschlossen hat, und dass meine Dokumente noch nicht fertig sind. Ich wirke aber anscheinend verwirrt genug, dass sich eine Polizistin noch um mich kümmert und alles fertig macht. Damit reicht die Zeit auch gerade noch, dass ich am Tag vor der Ausreise in die Ukraine alle Dokumente bekomme, die ich brauche, um nach dem Seminar wieder einreisen zu dürfen. Puh.

Was für ein Stress.

Der Laptop läuft übrigens wieder, noch eine gute Nachricht.

Und so ist der Tag der Oktoberrevolution heute vergleichsweise entspannt, auch wenn der Stress noch nicht vorbei ist. Gestern habe ich eine Anfrage bekommen, ob ich an Weihnachten nicht einen Organistendienst übernehmen könnte, oder mehrere. Die Zeit vergeht sehr schnell und in meiner Vorstellung ist der Halbjahresrest meines FSJs schon sehr voll.

In den letzten Tagen ging es mir nicht gerade super, jetzt schaue ich, wie es weitergeht.

Zuletzt das Wetter: gerade fünf Grad plus bei Nebel, mehr als acht werden es wohl nicht.

До свидания и всего хорошего!

Jonathan

Kein Ponyhof und so

Orscha, 29. Oktober 2018. – Die Redewendung „Das Leben ist kein Ponyhof“ findet Irina, meine Ansprechpartnerin in der Schule, totaaal klasse, seit ich sie darauf hingewiesen habe, und ich durfte den Satz einige Male in der letzten Woche hören. Hauptsächlich wegen der vielen Behördengänge für die временное проживание, die Aufenthaltsgenehmigung, die demnächst fertig sein muss, damit ich länger als nur eine kurze Zeit hierbleiben kann. Aber zum Glück ging es seit dem letzten Blogeintrag hier in Orscha nicht nur darum.

Die Deutscholympiade am Mittwoch ist soweit relativ normal verlaufen. Bei dieser ersten Runde des Wettbewerbs durfte ich den Großteil der Tests korrigieren, was aber gar nicht langweilig war. Es ist interessant, zu sehen, wie gut die Schülerinnen (nein, immer noch keine Jungs) in einer schriftlichen Prüfungssituation sind. Ich war etwas enttäuscht von Даша, второя (Daria Nr. 2), aber dafür war „Nr. 1“ besser als gedacht. Und natürlich sind genau die drei Mädchen in die nächste Runde gekommen, bei denen es schon ziemlich klar war.

Am Freitag geht es dann auf die Polizei (милиция, „Miliz“), um den Antrag für die Aufenthaltsgenehmigung zu stellen. Diesem Moment sind schon einige Behördentermine vorausgegangen, ich hoffe nur noch, dass es irgendwie hinhaut. Die девушка im Ausländerbüro (Djewuschka, entspricht in diesem Fall in etwa dt. Fräulein; so werden alle weiblichen Angestellten hier bezeichnet) ist zwar grundsätzlich nett, hat aber ansonsten nur mit Ausländern zu tun, die vor dreißig Jahren noch nicht den Status Ausländer gehabt hätten, wenn man versteht, was ich meine – sie wirkt also auch etwas unsicher. Wahrscheinlich sind wir alle froh, wenn das ganze fertig ist.

Am Samstag treffe ich wieder P., die noch eine weitere Freundin mitnimmt. Wir fahren in ein Dorf etwas außerhalb von Orscha, gehen spazieren und unterhalten uns.“Wir sind nicht immer zierlich und manierlich, aber jetzt gehen wir auf dem richtigen Weg“, sagt P. mittendrin und deutet auf einen asphaltierten Weg anstelle eines Trampelpfads. Ich muss sehr über ihre Ausdrucksweise lachen, was sie nicht versteht, und ich ehrlich gesagt auch nicht. Diese Art, es zu formulieren, war einfach zuckersüß, wäre von einem Deutschen nie gekommen und war für mich völlig unerwartet, deswegen vermutlich.

Wenn du das liest, P.: das Lachen war wirklich nicht böse gemeint, ich war in diesem Moment nur sehr verwundert. Benutze gerne weiter solche Ausdrücke, es wird nicht schaden!))

Traurigerweise hatte ich jetzt schon häufiger Unterricht im schlimmen Russisch bei P. als im gewöhnlichen Russisch bei Irina. Aber vielleicht wird das jetzt besser, Irina hat es zumindest angedeutet.

Russisch als Sprache ist schon gemein teilweise. Zum Beispiel enthalten absolut alle Begrüßungen ein gerolltes r (russ. „р“) -здравствуйте, здрасте, здорово, привет, приветик, добрый день/вечер, доброе утро, also sdrástwujtje, sdrástje, sdarówa, priwjét, priwjétik, dóbryj djen/wjétscher, dóbraje útra. Das „r“ bekomme ich üblicherweise über die Lippen, aber nicht immer, und schon bei „sdrrastje“ weiß dann jeder, dass ich Ausländer bin. Aber auch das ist gar nicht unbedingt nötig, ich mache auch sonst genug Fehler. Beim Mützenkauf am Samstagvormittag lief das Gespräch eigentlich gut, nur habe ich beim Bezahlen wieder mal dwenádzat mit dwádzat verwechselt (das sind 12 und 20). „Sie kommen von weit her, oder?“, fragt mich der Verkäufer und lacht. Wir reden noch kurz, immerhin sind die meisten Menschen hier sehr freundlich.

Am Sonntag mache ich mich auf den Weg zu einem Orgelkonzert in Polozk. Im Zug sitzt neben mir ein kleines Mädchen mit seiner Mutter, das sich riesig über sein neues Spielzeugpferdchen freut (мой коник, мой коник!), während mir gegenüber ein älteres Mädchen ungefähr so genervt dreinschaut, wie das nur möglich ist. Weil mir der Gedanke gefällt, als Deutscher auf einer Zugfahrt in Weißrussland ein portugiesisches Buch zu lesen, lese ich weiter bei Fernando Pessoa.

Aber natürlich treffe ich dabei auf einen Text voll von depressiver Philosophie, „O eremita da serra negra“, hätte diesem Gedanken also vermutlich besser nicht folgen sollen. Viel zu deprimierend.

Dafür ist das Orgelkonzert sehr schön. Ich habe in der Sophienkathedrale keine Fotos gemacht, denn schon am vierten November werde ich noch einmal dort sein. An diesem Sonntag spielt ein Organist aus Deutschland zusammen mit seiner Frau, einer Sopranistin. Am Anfang bin ich etwas skeptisch, aber dann gefällt mir das Konzert immer besser. Zusammen tragen die beiden ein Magnifikat und zwei Gebete vor, und allein zeigt der Organist durch viele weitere Stücke zahlreiche unterschiedliche Klangfarben der Polozker Orgel. Ich bin verzaubert. Nach zwei Monaten ohne Live-Orgelmusik wäre ich wahrscheinlich schon von einem einfachen Gedackt begeistert, da sind die vielfältigen Farben in der Kathedrale schon fast zu viel, von den vielen sanften, dunklen oder hellen Flötenschattierungen über die Zungen und Streicher bis zum herrlichen Plenum. Der Organist spielt unheimlich gefühl- und effektvoll, ohne es zu übertreiben. Ich kann es kaum beschreiben (aber die Nicht-Organisten (also ungefähr alle meine Leser) werden sowieso nicht verstehen, was ich daran finde).

Nach dem Konzert kann ich kurz mit dem Organisten sprechen. Er wirkt etwas zerstreut, kann mir aber bestätigen, dass er bei der Fuge einen 32‘ Fuß (Untersatz) gezogen hat, was ich im Konzert schon vermutet hatte. Der klangliche Effekt war überwältigend. Außerdem erfahre ich, dass er schon zum dritten Mal in Polozk ist, direkt im Anschluss weiter nach Vilnius fährt und ich ihn vielleicht im kommenden Jahr in Deutschland hören kann.

Nach dem Konzert laufe ich durch die Stadt und verlaufe mich ein bisschen, bevor ich den Bahnhof finde. Immerhin regnet es nicht. Ich habe noch lange Wartezeit, bevor der Zug abfährt, der dann noch vier Stunden bis Orscha brauchen wird. Um viertel vor zwölf komme ich etwas frustriert in meiner Wohnung an, da die Fahrt doch sehr anstrengend geworden ist. Nebenbei habe ich die Ergebnisse der Hessenwahl mitbekommen, aber ich sage einfach mal nichts dazu. Es wird schon genug darüber geredet.

Am Bahnhof in Polozk wurde übrigens ein Mann, der neben mir auf einer Bank saß, von zwei der vielen Polizisten verhaftet, ohne dass er irgendetwas getan hätte. Ich verstehe diese Situation bis jetzt noch nicht und bin leicht geschockt.

In den Ferien habe ich für die Schule nicht übermäßig viel zu tun, was schon einmal gut ist. Am Wochenende wollen wir Freiwillige (vier von fünf) nach Witebsk und Polozk fahren, vielleicht kann ich auch noch Orscha zeigen. Ich kann nur hoffen, dass alles gut geht und nicht zu anstrengend wird.

So viel von mir, genug geschrieben für heute.

Zuletzt das Wetter: es ist kalt und nass bei durchgängig 3°C.

Liebe Grüße an alle,

Jonathan

P.S.: Für alle die es nicht mitbekommen haben: der Zeitunterschied nach Deutschland beträgt seit Sonntag 2 Stunden.

„Das ist Russisch, es gibt keinen Sinn“

Orscha, 22. Oktober 2018. – Sätze wie den im Titel (auf die Frage „почему?“ –  Warum?) bekomme ich hier immer wieder mal zu hören, auch wenn es mit Russisch vorangeht. Irgendwie wollte ich gerne mit diesem Satz einsteigen, weil ich ihn beim ersten Hören sehr witzig und irgendwie treffend fand. Immerhin gibt man diese Tatsache bei Russisch zu, während Deutsch aus irgendwelchen Gründen immer noch als „logisch“ gilt – was ganz offensichtlich nicht der Fall ist, wie man nach ausreichend Zeit im DaF-Unterricht merkt.

Heute beginnt nach einem Wochenende, das ich bei Linus in Молодечно (gespr. Maladjetschna, Betonung auf je) verbracht habe, die letzte Woche vor den belarussischen Herbstferien. Echte Ferien sind es allerdings nicht; die Lehrer werden weiter in der Schule sein, solange sie keine Überstunden abfeiern können, einige Kurse treffen sich und auch andere Freiwillige müssen in irgendeiner Form arbeiten. Bei mir in der Schule ist es nicht sehr streng: ich komme ein paar Mal in die Schule und werde kleinere Aufträge für zuhause bekommen, aber das ist vermutlich auch alles.

(Für alle, die es nicht wissen: Linus ist einer der fünf kulturweit-Freiwilligen in Belarus.)

„Man kann sich ja mal gönnen“ – noch ein Satz, den die SuS vermutlich noch nicht kennen

Damit bleibt Zeit in den Ferien, um zusammen als Freiwillige etwas zu unternehmen. Wir haben uns bereits ein wenig abgesprochen und möchten zu viert die Städte Витебск (Witebsk) und Полоцк (Polozk) besuchen; dafür hatte sich vor allem Irina, meine Ansprechpartnerin in Orscha, eingesetzt. Die beiden Städte liegen nördlich von Orscha, nicht allzu weit entfernt, und damit nicht gerade in der Nähe der anderen Freiwilligen. Meine letzten Reiseziele, Maladjetschna und Baranowitschi, waren aus meiner Sicht allerdings auch nicht um die Ecke (bis zu sechs Stunden Fahrt) – die anderen können auch gerne mal in „meine“ Region kommen, zusammen wird es sich interessant.

Bis Anfang November werde ich mich also um die Planung dafür kümmern, aber vielleicht ergeben sich auch noch andere Reisen und Ausflüge bis dahin. In meiner Wohnung hängt eine Belarus-Karte, auf der ich meine Reisen, Zugstrecken usw. eintrage, das halte ich für eine sehr schöne Möglichkeit, das Ganze zu dokumentieren. In fünf Städten war ich bisher schon, das ist schon etwas. Meine Standardstrecke bisher (und vermutlich auch in Zukunft) ist die Strecke Orscha – Minsk bzw. Minsk – Orscha, die ich insgesamt schon neun Mal gefahren bin, davon acht Mal im Zug.

Und das schon nach einem Monat…

Die letzte Woche in der Schule verspricht fürs Erste nicht zu viele Überraschungen. Am Mittwoch wird die erste Runde der „Deutscholympiade“ stattfinden – ein großer Wettbewerb, in welchem die Schüler sich in mehreren Runden bis auf Landesebene durchkämpfen können. Es ist relativ klar, wer von den SuS weit kommen wird, mittlerweile kenne ich diejenigen. Diese Schülerinnen (nein, keine Jungs) werden auch besonders gefördert, wie mir immer mehr auffällt – das sind zum Beispiel genau diejenigen, die auch im Unterricht andere Aufgaben bekommen. So dürfen die „starken“ Schülerinnen aus Klasse 10 mir heute Morgen auswendig gelernte Prüfungstexte aufsagen und Fragen dazu beantworten. (Zur Erklärung: Die Prüfungstexte für Deutsch hier sind im Voraus bekannt. Daher bemüht man sich, das gesamte – sehr umfangreiche – Material im Voraus durchzuarbeiten. Etwas ungewohnt, vielleicht kann man es sich schwer vorstellen, wenn man es nicht so kennt.)

Außerhalb der Schule habe ich die Zeit mit Linus genossen, ebenso wie auch das Skypen oder Schreiben mit den Daheimgebliebenen. Es tut einfach gut, danke an euch. Aber auch einfach mal Zeit zum Lesen zu haben war sehr schön. Mir gefällt es in Orscha wirklich, es ist insgesamt ein schönes Plätzchen für ein halbes Jahr (oder de facto deutlich weniger Zeit), auch wenn ich weiß, dass ich danach definitiv zurückmuss. Das wird sehr seltsam werden, ich ahne es schon. Ich werde viel zurücklassen, um wieder in einen neuen Lebensabschnitt zu springen, wie auch immer der aussehen wird. Ich kann diese Gedankengänge kaum in Worte fassen, deswegen lasse ich es. Immer wieder bin ich sehr nachdenklich, gerade auf Zugfahrten, wenn ich irgendwo zwischen крупки und толочин bin und mich frage, was ich eigentlich gerade tue. Genauso wie wenn ich auf den Deutschlandkarten in der Schule Gießen, Alsfeld, Leverkusen usw. sehe, die so viel mehr für mich sind als nur Punkte auf einer Karte.

Am letzten Freitag habe ich meine Briefwahl für die Landtagswahl in Hessen abgeschickt, die vielleicht sogar noch rechtzeitig ankommt. Ich bin vor der Wahl ziemlich gespannt und werde sie sehr interessiert mitverfolgen.

Übrigens: ich versuche gerade ein bisschen, mein Hessisch zu verbessern, damit ich es hier vorstellen kann, unter dem Thema „Dialekte“. Wenn ihr Ideen für typisch hessische Wörter und Sätze habt, gebt mir das gerne weiter, ich freue mich!

Zuletzt das Wetter: Nach warmen Temperaturen wird es kühler, zwischen 1° nachts und noch etwas über 10°C am Tag, dank Sonnenschein heute.

До свидания и всего хорошего!

Jonathan

P.S.: Polozk hat eine dreimanualige Orgel :)))

Falsche Orgeln, ein richtiges Klavier und Gedanken über Deutsch

Orscha, 18. Oktober 2018. – Wenn man nur genau hinschaut, entdeckt man überall die unwahrscheinlichsten Zufälle, die sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wären. So habe ich zum Beispiel bemerkt, was für eine Ironie es ist, hier in Orscha zu sein: kulturweit hat einen Organisten in genau die Stadt in Belarus geschickt, die tatsächlich mit Orgeln zu tun hat – wenn auch mit ganz anderen als denen, die ich kenne.

Was ich damit sagen will? Naja. Vielleicht habt ihr schon einmal von der „Stalinorgel“ gehört – eine sowjetische Waffe aus dem zweiten Weltkrieg. Die катюша (Katjúscha) besteht aus einer Reihe von Panzerrohren, die auf einem Militärfahrzeug befestigt werden. Sie ist mobil und kann viele Salven auf einmal abgeben; die orgelpfeifenartige Anordnung der Rohre und das laute Pfeifen vor dem Angriff gab ihr den deutschen Namen Stalinorgel.

eine „катюша“ – dt. Stalinorgel

Und ja, was soll ich sagen – Stalinorgeln wurden zum ersten Mal in Orscha eingesetzt, bei der Verteidigung der Stadt, und die Straße meiner Schule ist nach dem betreffenden Hauptmann benannt. An der Brücke über den Dnjepr erinnert ein Denkmal an das Gerät, eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt. Klingt alles nach sehr unwahrscheinlichen Zufällen, aber vielleicht achte ich einfach nur besonders darauf.

Das Katjuscha-Denkmal in Orscha

Die Fotos stammen aus der letzten Woche, das Wetter ist hier noch ziemlich gut. Was heißt gut – es ist schon fast zu warm. So zum Beispiel auch am letzten Wochenende, das ich mit Linus (Freiwilliger in молодечно/Maladetschna) in барановичи (Baranowitschi) verbracht habe. Die dortige Bibliothek hatte uns zu einer Veranstaltung eingeladen, dem „literarischen Karaoke“, indem Deutschlernende spontan deutsche Texte vortragen sollten. Eine ganz lustige Idee. Natalja aus der Stadtbibliothek kümmert sich um solche Aktionen und möchte uns gerne noch bei weiteren Veranstaltungen sehen, was ich mir sehr gut vorstellen kann.

Die „Fremdsprachenabteilung“ der Bibliothek

Nach dem Karaoke verbringen Linus und ich den Samstag mit zwei Studentinnen (ja, Baranowitschi hat eine Universität), die uns die Stadt zeigen. Viel zu zeigen gibt es eigentlich nicht, die Stadt scheint (das ist nur mein erster Eindruck nach Gesprächen mit ca. 3 Leuten!) nur aus Bahnhöfen, der Bibliothek und der Uni zu bestehen. Trotzdem ist es ganz nett. Wir unterhalten uns in einem bunten Gemisch aus Deutsch, Englisch und Russisch (beide studieren Deutsch und Englisch, bevorzugen aber jeweils eine der Sprachen) und lernen wiederum viel dazu. Zum Beispiel auch, dass es hier relativ normal ist, neue Bekannte direkt zu sich nach Hause einzuladen, wie die Studentinnen es mit uns machen, als sie uns in ihr Wohnheim mitnehmen.

Was mich in der Bibliothek auch freut: es gibt ein Klavier! Anscheinend 1a sowjetische Qualität, wenn ich die Erklärung richtig verstanden habe.

Zuletzt folgen hier noch drei Fotos aus der Stadt: die wunderschöne orthodoxe Kirche – die Studentinnen sagen uns, dass so etwas Schönes kaum zur restlichen Stadt passt – und eine Hauswand an der Hauptstraße, an der man die Straßennamen der Vergangenheit sieht. Die Geschichte von Belarus ist bewegt; der Westen des Landes war früher Polen, der Süden Ukraine, was man an Dokumenten wie diesem sehen kann.

Findet ihr den deutschen Teil?

Zuletzt noch etwas, das mir aufgefallen ist – es geht um Deutsch.

Mittlerweile hat sich meine Einstellung zu Deutsch und Deutsch lernen verändert. Im Unterricht merke ich immer mehr, wie verdammt schwierig Deutsch ist. (Ganz ehrlich, Deutsch ist so eine Dreckssprache…) Nicht nur bekommt jedes Nomen/Substantiv scheinbar zufällig einen Artikel (der/die/das) zugeordnet, der sich von nichts ableiten lässt und den man auch noch deklinieren muss – außerdem muss man immer den gesamten Satz umstellen, wenn man etwas umformulieren möchte, wobei nur ganz bestimmte Varianten korrekt sind. Nicht zu vergessen die Verben mit Präfixen, deren Vorteil sich manchmal spontan abspaltet, wie z.B. bei einsteigen, teilnehmen, anrufen usw. Von den Verben sind die meisten natürlich unregelmäßig, wieso auch nicht. Unsere Sprache hat zusätzlich einige schwierige Laute und Lautverbindungen (ö, ü, pf, ch, sp usw.) und bildet monströse Wortungeheuer, die wir im Alltag kaum noch als solche wahrnehmen (Sonnenblumenkerne, Geschwindigkeitsbegrenzung, Umgehungsstraße u.v.m.).

Meine Perspektive ist jetzt also diese: wer anfängt, Deutsch zu lernen, beginnt eine unfassbar schwere Aufgabe. Man lernt ein hochkompliziertes System kennen, das gerade so viele Menschen weltweit benutzen, dass es relativ relevant ist – wobei all die Deutschen, Österreicher und Schweizer natürlich ganz anders sprechen, als es korrekt wäre, wodurch alles noch komplizierter wird. Hut ab vor all denjenigen, die die Sprache erfolgreich lernen und gelernt haben.

Soviel erstmal von mir. Gerade geht es mir gut und ich könnte noch mehr erzählen, aber das hebe ich mir noch auf.

Die Zugstrecke Минск- Орша fühlt sich übrigens schon wie ein richtiger Heimweg an, ist mir aufgefallen.

Liebe Grüße aus Orscha,

Jonathan

Einmal quer durch die Woche

Orscha, 12. Oktober 2018. – Heute folgt ein weiterer Text, der alle meine Leser einmal quer durch meine (Schul-)Woche führen soll, damit Ihr Euch meine Zeit hier besser vorstellen könnt. Mittlerweile hat sich ein bestimmter Rhythmus gezeigt, den ich hier einmal vorstellen möchte. Ich werde fast nur über diesen Wochenablauf schreiben, obwohl mir auch andere Dinge durch den Kopf gehen, die ich an dieser Stelle auslasse. Es wird auch so genug Text sein.

Zuerst noch etwas vom letzten Sonntag, denn diese „Episode“ hat mich sehr gefreut. Am Nachmittag habe ich mich mit meiner vermutlichen ersten richtigen Bekanntschaft hier getroffen. P. kommt aus einer anderen Schule (Klasse 11), wo sie ebenfalls Deutsch lernt. Sie möchte meine Lehrerin für das „richtige“ Russisch sein – Umgangssprache, Jugendsprache, „schlimme Wörter“ und co. Das war das Hauptthema unseres längeren Treffens, neben einigen frustrierenden, aber gleichzeitig auch witzigen Russischversuchen meinerseits. Wir haben viel gelacht und hatten einen sehr spaßigen Nachmittag, ich belasse es mal dabei. Hoffentlich können wir uns noch häufiger treffen und ich lerne auch weitere Leute kennen, denn ich brauche hier Freunde und Bekannte, genauso wie Russisch-Praxis. (Heute hätte mein zweiter Russischunterricht sein sollen, doch er musste ausfallen.)

In der großen Eisarena (Ледовая Арена) in Orscha kann man z.B. auch bowlen gehen

So ganz prototypisch (…Gruß an den ehem. Kurs KNO;) ) war diese Woche nicht. Die Deutschlehrerin, bei der ich am Montag im Unterricht hätte sein sollen, wurde spontan am Sonntag Abend auf eine Fortbildung in einer anderen Stadt hingewiesen, wodurch für mich fast der gesamte Unterricht ausgefallen ist. (Darüber wundert man sich hier überraschend wenig.) Ich komme noch in einen Kurs zu Irina und probe eine Stunde für unser Theaterprojekt, aber das ist dann auch alles. Mit dem Theater meine ich unsere Vorbereitung für das PASCH-Theaterfestival im November – in dieser Woche haben die Proben begonnen und wir haben unseren Bewerbungsclip gedreht. Drei Schülerinnen aus Klasse 10 und zwei aus Klasse 4 werden teilnehmen, bisher sieht es sehr gut aus.

Ich bin in so vielen verschiedenen Klassen, dass ich kaum den Überblick behalten kann. Mittlerweile mache ich mir immer Notizen, um später nachsehen zu können, welche Klasse welche ist, welche SuS dazugehören und was das Thema ist. Nicht mehr überlegen muss ich bei Klasse 4a (Di), denn einige dieser Kinder sind auch in der Musik-Spiel-Theater-AG; die beiden Theater-Kinder sind auch aus dieser Klasse. In der AG beschäftigen wir uns mit dem Lied „Zwei kleine Wölfe“ (@M.B. – ich bin dir so unfassbar dankbar für diese Idee), welches die kleinen Schülerinnen jetzt ständig spontan anstimmen. Nächste Woche kommt Strophe 2.

Weiter geht es mit dem erwähnten Russisch-Unterricht in Klasse 5, einem ZVK-A1 (ZVK: Zertifikatsvorbereitungskurs) und dem Fakultativunterricht. In Klasse 5 ist es meistens ziemlich nett – aber nachdem ich am Mittwoch zur Begrüßung stürmisch umarmt wurde und im Unterricht Kekse angeboten bekommen habe, begrüßt mich heute genau die Schülerin, die mich immer neugierig anspricht (придёшь нам сегодня? Kommst du heute zu uns?) schüchtern mit einem Handdruck. Ну что, дети. Kinder.

Im ZVK-A1 bin ich bei E., die in diesem Kurs sehr froh ist, dass ich da bin – 14 SuS sind viel, sie sagt, das schafft sie alleine nicht. So machen wir meistens Gruppenarbeit mit zwei Gruppen, eine Gruppe mit mir, eine Gruppe mit ihr, das geht relativ gut – einige Schüler(innen) reden leider viel zu viel, und das nicht auf Deutsch.

Fakultativunterricht ist der Unterricht für leistungsstarke Schüler – de facto also fast nur Schülerinnen. Hier sehe ich diejenigen wieder, die auch in ihren eigenen Kursen schon glänzen. Oft bereite ich hier Präsentationen zu den jeweiligen Themen vor, als Letztes z.B. Umweltbelastung. Ich muss allerdings sagen, dass ich mich hier häufig unsicher fühle, genau wie bei den Theaterproben; ich bin nicht viel älter als die SuS und sehe auch nicht unbedingt älter aus als sie, trotzdem bin ich derjenige, der vorne steht und erzählt – es ist nicht auf Augenhöhe. Außerdem bin ich nicht gerade qualifiziert für die Leitung von Theaterproben oder Deutschunterricht, deswegen bin ich immer wieder verunsichert und gehe mit einem etwas seltsamen Gefühl aus den jeweiligen Stunden.

PPPS Episode 3

Außer diesen Kursen gibt es noch viele weitere, die ich mir leider nur über einzelne Schüler merken kann – so kann ich die Kursbezeichnung zumindest einordnen, wenn ich weiß, dass 8в der „Dascha-Sascha-Kurs“ ist, oder so ähnlich. Bei 4a (Fr) steht bei mir „übermotivierte erste Reihe„, damit weiß ich auch Bescheid.

An diesem Wochenende werde ich für eine Veranstaltung in Baranowitschi sein, südwestlich von Minsk. Wenn es so interessant wird, wie es klingt, schreibe ich vermutlich darüber. Außerdem erwarte ich gespannt die Ergebnisse der Bayern-Wahl – ich sehe es durchaus als eine Art Test für die politische Lage und das Parteiensystem, z.B. ob die Grünen tatsächlich so stark sind wie in den Umfragen. We’ll see.

Zuletzt das Wetter: Es ist unerhört warm, gestern und heute 20°C und mehr, zumindest am Nachmittag. Dazu scheint die Sonne; heute morgen war starker Nebel, der sich schon lange verzogen hat.

Der Stadtpark in Herbstfarben

Liebe Grüße an alle!

Jonathan

Ein spontaner Ausflug nach „M“

(Fortsetzung 07. Oktober)

Mit „M“ meine ich die Stadt, die auf Russisch могилёв und auf Belarussisch магилёў heißt. Der Name ist nicht ganz einfach – ausgesprochen wird er in etwa als Magiljow bzw. Mahiljou, doch häufige Transkriptionen sind auch Mogiljew, Mogilev, Mogiljow usw. Deswegen schreibe ich im Folgenden einfach „M“, setzt gedanklich einfach das entsprechende Wort ein.

Ein kleiner Teil des monumentalen „Platz des Ruhms“

Zuerst erwartete ich am Wochenende zwei Tage zuhause, doch auf Nachfrage, was ich unternehmen könnte, antwortet mir Irina gegen 18:15 Uhr „Du kannst vielleicht nach M“… Zwei Stunden später ist alles geklärt. Über zwei Ecken kennt Irina eine junge Frau, die auch gerade in M ist und spontan bereit ist, mir das Zentrum der drittgrößten Stadt in Belarus zu zeigen.

„Wir machen hier alles spontan“, sagt Irina. Es stimmt irgendwie.

Am Samstag fahre ich also per Zug nach M und treffe am Bahnhof E., die mit mir den Nachmittag verbringt. Ihr Deutsch ist ausgezeichnet, aber das Sprechen ist nicht ganz einfach für sie, da sie gerade mit vier Fremdsprachen jongliert (eine lange Geschichte). Macht aber nichts, wir verstehen uns gut. Wir spazieren quer durch das Zentrum von M, das gar nicht übermäßig groß erscheint – die Wohngebiete liegen außerhalb – besuchen ein Museum und essen in einem Café.

Auch „M“ liegt am Dnjepr

Das „ethnografische“ Museum ist de facto ein Heimatmuseum. In der unteren Etage werden zahlreiche Bräuche und Traditionen vorgestellt, die mit Puppen usw. dargestellt werden. Die Begleittexte sind auf Belarussisch, sodass ich absolut nichts verstehe, aber E. erklärt für mich die Bedeutung und gleichzeitig auch, wie verbreitet die Traditionen noch sind, dadurch wird es doch sehr interessant. In der oberen Etage geht es eher um die Stadtgeschichte. In M sind kaum noch historische Gebäude vorhanden, was für viele belarussische Städte gilt und an der „bewegten“ belarussischen Geschichte liegt (an der die Deutschen auch einen großen Anteil haben). Ich kann einen Teil meines Geschichtswissen über das russische Zarenreich reaktivieren, sodass E. froh ist, mir die Dekabristen nicht erklären zu müssen.

Ein Raum im Museum

Das moderne Zentrum entspricht dem alten kaum

An diesem Nachmittag genieße ich vor allem die „Kulturgespräche“ mit E. Damit meine ich die Gespräche, in denen man tatsächlich kulturellen Austausch betreibt, sich fragt, wie sind die Dinge hier, wie sind sie woanders, und woran liegt das. Dadurch wird mein Blick auf Belarus immer vielschichtiger und ich lerne noch mehr dazu. Vor allem lerne ich es direkt von Belarussen und kann ihre Sicht kennenlernen. Mir gefällt der Nachmittag sehr und ich freue mich vor allem, dass es noch so spontan geklappt hat.

Zuletzt das Wetter: Insgesamt ist das Wetter wechselhaft, wie das im Herbst eben so ist. An diesem Wochenende soll es allerdings schön bleiben: Sonnenschein bei 10 – 17°.

Liebe Grüße und всего хорошего,

Jonathan