Halbzeitpause in der Ukraine

Orscha, 26. November 2018. – Nach unserem Zwischenseminar kommt die schwierige Aufgabe auf mich zu, unsere völlig gefüllte gemeinsame Woche einigermaßen gut in einen Blogeintrag zu verpacken. Es war so eine besondere Zeit, dass ich das unbedingt würdigen möchte, ohne dass es für Außenstehende zu viel wird. Ich bemühe mich.

Erst einmal der grundsätzliche Rahmen. Unser Zwischenseminar findet in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine statt, ein paar Stunden von Lwiw (Lemberg) entfernt. Eingeladen sind die zwölf Freiwilligen aus Belarus (5), der Ukraine (5) und Moldau (2). Wir „Belarussen“ reisen zusammen an, treffen am Samstag morgens ein und fahren am folgenden Samstag abends wieder los. Eine ganze Woche Zeit in Lwiw und Iwano-Frankiwsk also.

Entgegen unserer Erwartungen haben wir im Vergleich keinen übermäßig langen Anreiseweg. Die Ukraine ist, wie wir bemerken, durchaus riesig, deshalb sind unsere 13-15 h von Minsk nach Lwiw gar nicht übertrieben viel. Die Zugfahrt über Nacht lässt sich gut aushalten. Während meiner Zeit im Ausland werde ich wirklich zum Gewohnheitszugfahrer, es hat so viele Vorteile…

Schließlich natürlich das Wiedersehen mit all den anderen „Homies“. Ich kann es kaum beschreiben, es ist wieder so eine einmalige Situation. Man kennt die Leute schon seit dem ersten Seminar und kann sich jetzt endlich wieder austauschen – und genau das tun wir auch, in den ersten Stunden bewegen wir uns vor lauter Reden kaum. Es ist unheimlich angenehm. Wieder so eine komische, unglaubliche Situation: mitten in der Ukraine Leute treffen, mit denen man sich gut versteht – wie gesagt, kaumbeschreiblich.

Ich habe keine Ahnung, wieso unsere Gruppe so gut zusammenpasst, wie sie es scheinbar tut, obwohl wir so zufällig zusammengeschoben wurden, aber ich bin unheimlich froh darüber. Die Zeit zusammen ist insgesamt einfach nur schön. Teilweise zu viele Eindrücke, zu viel Stoff zum Nachdenken auf einmal, aber am Ende eine rundherum tolle Woche.Unsere Gruppe am ersten Abend, ein Schnappschuss beim Kirschlikör. Fehlend: Ira Z.

Was man an unserer Gruppe allerdings bemängeln muss: die wortwörtlich fehlenden Rückblicke. Innerhalb der wenigen Tage prescht ein Teil unserer Gruppe einige Male schon vorwärts, während ein kleinerer Teil von uns orientierungslos zurückbleibt. Die Abstimmung untereinander lässt da doch immer wieder zu wünschen übrig. (Foto unten: zwei traurige abgehängte Jungs)

Links ich, rechts Björn (Moldau)

Der Aufenthalt sorgt nebenbei für die größtmögliche Sprachverwirrung. Russisch sollte man nicht sprechen, dafür geht Englisch plötzlich. Ein paar Wörter Ukrainisch schaden auch nicht, während die Moldauer etwas Russisch zu ihrem üblichen Rumänisch hinzufügen. Ukrainisch ist übrigens recht nah an Belarussisch, wie mir an einigen Details auffällt. Dazu kommen lateinische Inschriften und Ähnliches. Außerdem: die Ukrainer in russischsprachigen Gebieten lernen dialektgefärbtes Russisch, das sich in der Aussprache von unserem Russisch unterscheidet (und deswegen ungewollt völlig falsch klingt, sorry Marlene).

Iwano-Frankiwsk

Iwano-Frankiwsk (Foto: Leo Maier)

Eines der größten Themen des Seminars ist der unerwartet große Unterschied zwischen Belarus und der Ukraine, der uns Belarussen sehr schnell bewusst wird, soll heißen, schon kurz nach der Ankunft in Lwiw. Die Stadt ist voll – vollkommen, völlig voll – mit historischen Gebäuden und Plätzen, es gibt Touristen und die Menschen sprechen Englisch. Sowohl Ausländer wie auch Personen mit eher auffälligem Aussehen (Männer mit langen Haaren, Dunkelhäutige usw.) sind häufig anzutreffen, das Stadtzentrum ist eng und verkehrstechnisch eine kleine Katastrophe, an Wänden hängen Wahlplakate, den Boden bedeckt ein Kopfsteinpflaster. Alle diese Einzelheiten um uns herum zeigen uns schon, wie groß der Unterschied zu Belarus tatsächlich ist. (Ich fühle mich eher an Prag erinnert.)

In Lwiw (Fotos: Leo Maier)

Natürlich werden diese Beobachtungen von uns humoristisch aufbereitet.

Wir „Belarussen“ propagieren während unseres Aufenthalts durchgängig unsere Gegendarstellung: die Ukraine versinkt in Desorganisation bis zur Anarchie, während in Belarus die Welt noch in Ordnung ist, mit breiten, sauberen Straßen, strengen Verkehrsregeln und überwiegend leeren Plätzen. Zuletzt wird sogar der Begriff „präparadiesisches Belarus“ zum running gag. (So ein Seminar wird auch durch den vielen Blödsinn angenehm, ich streite es gar nicht erst ab.)

Die Seminareinheiten selbst finden in einem ehemaligen Fabrikgelände statt, welches zurzeit von unterschiedlichen Unternehmen und Organisationen neu hergerichtet wird, eine modern-innovative Umgebung, die wir sehr genießen. Petra, unsere Seminarleiterin, führt uns durch unterschiedliche Übungen, Lerneinheiten und Themen, während sie sich immer wieder wundert, wie diskussionsfreudig und eingespielt unsere Gruppe ist. An einem Nachmittag haben wir eine Stadtführung durch Iwano-Frankiwsk, an einem anderen ein Gespräch mit einer Vertreterin der Zivilgesellschaft, für Programm ist also gesorgt. Dabei wird mein und unser Blick auf die Region unheimlich geweitet. Schon jetzt sehe ich den Ukraine-Konflikt mit ganz anderen Augen. Von außen können wir die Lage kaum begreifen, kaum verstehen, was alles daran hängt. Wie durch den Krieg im OSten, um nur kleine Beispiele zu nennen, die Binnenflüchtlinge von dort im Westen Innovation, Wirtschaft und Aktivismus voranbringen, oder wie die verwendete Sprache (Russisch/Ukrainisch) in der Ukraine vollkommen politisch geworden ist.

Überraschend ist auch die Offenheit unserer neuen Bekannten. Sie gibt ohne Zögern zu, dass die gesamte Politik in der Ukraine korrupt ist – aber das ist eben so. „Wir erwarten von unserem Präsidenten, dass er nichts macht, die Leute regeln das schon untereinander“, sagt sie, eine Einstellung, die mich völlig verblüfft. Dazu Sprüche wie „Die Ukrainer sind ziemlich gut in Revolutionen – wann muss man auf die Straße, wann muss man verschwinden, wie kocht man draußen am besten Borschtsch usw. – nur nicht in dem, was danach kommt“.

Dadurch lernen wir auch Belarus besser zu verstehen, indem jemand, der sich auskennt, unsere subjektiven Eindrücke bestätigt. A) Belarus ist viel zu ordentlich und starr, B) Belarus ist wie ein Land der Vergangenheit. Beide völlig subjektiven Eindrücke lassen sich recht gut nachvollziehen, wenn man unser Einsatzland mit der zwar völlig korrupten und krisengeschüttelten, aber lebendigen Ukraine vergleicht. Erst aus der Ferne erkennt man die eher starren, geplanten Strukturen so richtig.Platten gibt es natürlich trotzdem noch

Während der Woche tauschen wir uns über alles Mögliche aus und gehen mit vielen neuen Eindrücken, Ideen und Überlegungen zurück in die Einsatzstellen. Ich genieße den Schritt zurück aus der Einsatzstelle sehr, die Zeit, in der man über seine Lage und sein FSJ reflektieren kann. Dadurch hat mir das ZWS sehr geholfen.

Am letzten Tag besuchen wir in Lwiw den alten Friedhof, auf dem die Geschichte uns wieder einmal voll erwischt. Man findet polnische, ukrainische, russische Gräber genauso wie einige deutsche und in min. einem Fall französische. Im Eingangsbereich ist ein besonderer Gedenkbereich für die Gefallenen des aktuellen Krieges und für andere Helden der Ukraine. Die aktuelle Politik fühlt sich sehr nah an.

An diesem Ewigkeitssonntag denke ich sehr an meine, unsere Kirchengemeinde. Ich wünsche euch allen alles Gute an diesem besonderen, dunklen Tag und denke an euch.

Bevor ich über Weihnachten nach Deutschland komme, werde ich vermutlich noch viel unterwegs sein. Doch durch das Seminar bin ich insgesamt beruhigt worden und stehe den neuen Aufgaben ruhig gegenüber.

Zuletzt das Wetter: gerade am Morgen sind es -1° bei bewölktem Himmel. Die Temperaturen werden am Tag vermutlich nur wenig steigen, für den Rest der Woche ist noch stärkerer Frost vorhergesagt.

Всё.

Всего хорошего и до свидания!

Jonathan

P.S.: Hier noch die Links zu Mitfreiwilligen, die ebenfalls beim Seminar waren:

https://kulturweit.blog/fernwehstillerukraine/

https://kulturweit.blog/izmail181/

https://kulturweit.blog/irainkiew/