„Irina Michailowna hat den Keks aus der Dose geklaut!!“

Orscha, 30. Januar 2019. – Sätze wie im Titel entstehen, wenn man Viert- und Fünftklässlern „Wer hat den Keks aus der Dose geklaut“ beibringt, und zu wenige Schüler in der Gruppe sind…

Am vergangenen Wochenende war, wie gesagt, Linus aus Maladetschna zu Besuch, was soweit ziemlich schön und angenehm war. Orscha hat, wie ich Linus gegenüber auch sage, genau die richtige Größe und Anzahl an Sehenswürdigkeiten für einen Wochenendbesuch: wenn man alles in zwei Tagen sieht, erscheint es viel und beeindruckend, aber bliebe man noch etwas, sähe die Sache anders aus. Der Vergleich zwischen „Molly“ und Orscha fällt leider so oder so deutlich zugunsten von Orscha aus. Wenn ich mir alles vorstelle, gibt es hier in Orscha doch sehr viel, auch viele Orte, die ich kaum kenne (wie zum Beispiel den riesigen Markt, wo ich kaum jemals bin, obwohl man dort wirklich fast alles kaufen kann). Der Vergleich mit deutschen Städten zeigt dann wiederum ein etwas anderes Bild – aber wie dem auch sei, es ist grundsätzlich wirklich schön hier.

Am Wochenende zeigt sich alles wunderschön winterlich schneeweiß, ohne dass es zu kalt ist- quasi perfekt.

Und Orscha ist sogar international: es gibt ein vietnamesisches Café (Кафе Виет), was grundsätzlich ziemlich cool ist, und an diesem Sonntag besuchen wir beide es zusammen zum ersten Mal.

Am Montag kommt wieder ein eher schmerzhaftes Beispiel für den Unterricht hier: die Schüler in Klasse 10 müssen Texte über das Thema „Massenmedien“ auswendig aufsagen. Dabei sind auch die Antworten auf Fragen nach der Meinung der Schüler schon vorgegeben, genauso wie die Antworten auf alle persönlichen Fragen.

Solche Arbeitsblätter zu sehen, tut schon weh, aber irgendwo kann ich es nachvollziehen, da das leider wirklich die beste Vorbereitung ist, die man für die belarussischen Abschlussprüfungen in Deutsch machen kann. Schon in Deutschland beschweren sich die Schüler häufig (zurecht), dass die Lerninhalte oft wenig realitätsnah oder praxisorientiert sind – in Belarus ist es definitiv viel schlimmer.

Dafür sind Schüler in Klasse 4 und 5 sehr motiviert, wenn ihnen etwas Spaßiges angeboten wird. Kurioserweise ist das Highlight der Deutschstunde in Klasse 5 das Spiel „der, die, das“, bei dem die Schüler spielerisch die Artikel wiederholen. Da bevorzugt Klasse 4 doch lieber Basteln und Malen. Und drei Schülerinnen aus Klasse 10 drehen gerade einen Film über unsere Schule (indem auch zwei Darias aus Klasse 8 mitspielen dürfen/müssen), nachdem sie Linus und mich am Samstag schon stundenlang professionell durch die Stadt geführt haben. Ansonsten bereitet sich Klasse 8 auf die A2-Prüfung vor, Klasse 6 auf die A1-Prüfung, und Klasse 3 lernt das Thema „Meine Schulsachen“.

Jaja, unsere liebe Schule Nr. 20 ist sehr schöpferisch und tüchtig, wenn auch nicht immer zierlich und manierlich.

Das alte Jesuitenkollegium in Orscha

Der nächste Blogeintrag wird erst nach einigen neuen Ereignissen kommen: nach einem Besuch in der Kleinstadt Барань morgen, und nach einem Freiwilligentreffen in Kiew am Wochenende. Die Hauptstadt der Ukraine ist gar nicht so weit weg von hier, wir werden sogar mit dem Bus fahren (über Nacht). Wir sind vermutlich zu acht, aus Belarus, Ukraine und Moldau. Da gleich vier Freiwillige aus Belarus anreisen, ist der Anteil der Menschen, die sich in der Ukraine auskennen, leider eher klein; und wenn ich die Lage richtig einschätze, weiß niemand wirklich, was wir machen werden (auf jeden Fall wissen wir  „Belarussen“ es nicht) –  also müssen wir einfach sehen, was passiert. Das Leben in der Ukraine kommt mir sehr viel spontaner vor als Belarus, und es ist sehr ungewohnt, wieder aus der Umgebung herauszukommen, in der ich mich gut zurechtfinde (wie Linus wahrscheinlich gemerkt hat). Посмотрим (schaumermal).

Es ist übrigens ein sehr besonderes Gefühl, im einem Land zu leben, wo man in der Regel weder die Muttersprache noch Englisch so richtig verwenden kann. Dieses Gefühl werde ich in Deutschland vermissen, denke ich, wenn die erste Phase der großen Erleichterung, einfach alles sagen zu können, wie man will, ohne als Ausländer aufzufallen, vorbei ist.

Es wird wieder Zeit, nach Deutschland zurückzukommen, aber dabei habe ich ein grundsätzlich sehr komisches Gefühl, das wahrscheinlich nur meine „Kollegen“ (und auch nicht alle) verstehen könnten. Ich bin nur noch zwanzig Tage in Belarus und das fühlt sich immer seltsamer an. Das richtige „Zurückkommen“ nach Deutschland wird vielleicht sehr schwierig, mehr als gedacht, und ich verstehe noch nicht, was es bedeuten wird.

Alles Gute und bis dann

Йонатан

Winterspaziergang und Russischproblemchen

Orscha, 26. Januar 2019. – Ein neuer Eintrag aus Orscha, wo für mich der letzte Monat meines „belarussischen Lebens“ begonnen hat. Die Neuigkeiten sind nicht unbedingt positiv, aber ich habe ein paar schöne Fotos dazugepackt. —

Blick auf den Dnjepr

Am Montag fand wie angekündigt die A2-Probeprüfung statt, an der insgesamt vierzehn Schüler (überwiegend Klasse 8) teilgenommen haben. Ich war dafür von 12 bis 18:30 Uhr in der Schule im Einsatz, was vor allem an den mündlichen Prüfungen lag. Am Ende haben wir ein ernüchterndes Bild: nachdem wir die Ergebnisse ein paar Mal korrigiert haben (und immer unter dem Vorbehalt, dass im GI zum Beispiel das Sprechen ganz anders korrigiert werden wird), verkündet Irina am Freitag lachend „sorry, wir haben Fehler gemacht, eigentlich hat niemand bestanden“. Und so ist es leider wirklich. Vier Schüler würden mit großer Sicherheit durchfallen und werden von uns  daher gar nicht erst zur Prüfung gelassen, etwa drei sind ziemlich unsicher – und vom Rest dachten wir erst, er hätte sicher bestanden – doch es reicht nicht, 75% der Punkte (60% sind nötig) zu haben, sie müssen auch gleichmäßig verteilt sein. Da unsere Schüler im Hören und Lesen unterdurchschnittlich abschneiden, können wir bei niemandem sagen, dass er mit Sicherheit bestehen würde.

Ein bisschen Panikmache ist dabei, doch ganz generell sieht es nicht so gut aus. Eher peinlich. Diesen Trend müssen wir jetzt möglichst noch umkehren, wozu ich mit den Schülern viel einzeln üben soll. Wie viel das den Schülern hilft, hängt auch von ihnen ab.

Unterdessen könnte es auch mit meinem Sprachenlernen besser laufen. Russisch stagniert gerade, oder so kommt es mir vor. Das erhöhte Niveau habe ich schon angesprochen, was mir eigentlich (von der Art her, wie ich lerne) gut passen sollte – nur sieht es im Unterricht selbst dann anders aus. Es hängt natürlich von meiner Tagesform ab – wenn diese nicht so gut ist, schaffe ich es einfach nicht, die dutzenden Regeln, die man auf Russisch stets beachten muss, zusammenzuhalten. Das wird noch schlimmer durch die Themen, die gerade dran sind (des neuen Lehrbuchs wegen) – es ist einfach nicht fair, dass ich auf Russisch aus dem Stegreif erklären soll, wie man seine Kinder am besten erzieht. Alles, was ich dann mühsam zusammenbringen kann, fühlt sich falsch an – so bin ich gestern nach einer weiteren Unterrichtsstunde völlig fertig. Ich werde noch sehen, ob ich über diese schwierige Phase hinauskomme, mit dem neuen Lehrwerk. Zumindest gefühlt heißt das Buch „Russisch B2 für junge Erwachsene“.

Die Bilder in diesem Beitrag habe ich auf einem Spaziergang am Donnerstag gemacht. So sieht die Stadt gerade aus: kein frischer Schnee mehr, nein, der alte ist bloß gefroren und bleibt liegen. Die Temperaturen bleiben gerne mal unter -10°C, aber es hängt völlig vom Wind ab, wie schlimm sich das anfühlt.

Für alle, die es nicht gleich verstehen: das ist der Blick auf den zugeschneiten Fluss, dahinter das alte Jesuitenkolleg

Noch eine ziemlich unglaubliche Anekdote meinerseits: In der Schule lassen die Deutschlehrer ihre Schüler Filme sehen, um in dieser Zeit den Raum nebenan zu renovieren, in dem bereits seit mehreren Monaten das Smartboard des GI hätte angebracht werden sollen. Da sich absolut niemand darum zu kümmern scheint, helfen die Deutschlehrer jetzt selbst bei der Renovierung, sodass die vor Monaten angelieferten Smartboard-Einzelteile endlich nicht mehr bloß im Weg rumliegen. Verkehrte Welt.

Der „Stadtrundgang“ gestern, den eine weitere Schule in der Stadt (Schule Nr. 2) veranstalten will, ist am Ende deutlich kleiner angelegt als erwartet: einfach ein einstündiger Spaziergang vom Микрораён Восточный (Wohngebiet Ost, liegt aber im Westen der Stadt) zum Ж.Д. Вокзал (Eisenbahnhof). Dort machen wir in der Kälte eine Teepause, nach der es – für mich unerwartet – nicht mehr weitergeht. Wie auch immer, ich soll die Schule noch einmal besuchen und werde dann noch mehr erfahren.

Wahrscheinlich sind die Besuche in anderen Schulen in meinem Freiwilligendienst deutlich wichtiger als bei anderen. Da ich der einzige Freiwillige in der Region bin, werde ich insgesamt an min. fünf andere Schulen geschickt, um sie zu besuchen. (Falls mein Nachfolger/meine Nachfolgerin das liest: ich empfehle diese Besuche sehr. Wenn Schule 45 in Witebsk wieder keinen Freiwilligen bekommt, freuen sie sich garantiert riesig über einen oder mehrere Besuche von dir…)

Noch zum Thema Besuch: den bekomme ich eineinhalb Stunden nach dem Schreiben dieses Beitrags auch, von Linus aus Maladetschna, der unsere schöne Ostmetropole auch einmal kennenlernen möchte.

Проспект текстилщиков (Textilarbeiterprospekt)

Zuletzt noch ein großes Danke an meine Freundin M. in Bad Vilbel dafür, dass sie mich wieder daran erinnert hat, mehr Fotos zu machen… :)

Abkürzung durch ein Nadelwäldchen

Всё. Всего доброго и до свидания!

Йонатан

„Nee, wir malen jetzt“ – Impressionen aus dem Unterricht

Orscha, 19. Januar 2019. – In diesem Beitrag soll es vor allem um den Unterricht an meiner Schule gehen, aus dem ich die eine oder andere Anekdote erzählen kann. Ich bin mittlerweile ziemlich gut zurück im Alltag angekommen und kann Einiges berichten.

Ich finde es sehr schwierig, einen Gesamteindruck aus der Schule zu beschreiben, denn meine Eindrücke variieren doch sehr stark. Es gibt die frohen Stunden, wenn die Viertklässler stolz ihre selbstgemalten Plakate über ihre Familie oder ihre Freunde präsentieren und sich dabei gegenseitig vorstellen – alle lachen, während Andrej seinen Freund Dennis als „faul und feige, aber schön“ präsentiert, während dieser das lächelnd hinnimmt – oder wenn sie großen Spaß am neuen Spiel „Wer hat den Keks aus der Dose geklaut?“ haben (wieso bin ich darauf nicht früher gekommen?!)… Aber dann gibt es auch die Stunden, in denen die Schüler (wieder aus Klasse 4) langweilige grammatische Übungen machen müssen, deren Lerneffekt sehr gering ist. Zwei Schüler hinten im Deutschraum haben ihre Bücher vergessen und können nicht mitarbeiten – als ich sie dazu auffordern will, entspricht die Antwort in etwa der Überschrift diesen Blogeintrags – „ne, wir malen jetzt„.

Ich verstehe nicht, wie man Klasse 4 so quälen kann… Alle diese Schüler können unheimlich begeistert sein, wenn man sie malen, spielen, singen lässt, aber mit langweiligen, sinnlosen Übungen macht man alles nur kaputt. Dann kann die eine Hälfte der Klasse, die sinnvollen Unterricht hatte, in ein paar Jahren vielleicht super Deutsch, und die andere Hälfte ist völlig unmotiviert. Das komische ist auch, mir bewusst zu sein, dass die Schüler, die ich jetzt kennengelernt habe, genauso weiterlernen werden wie ich, wenn ich wieder weg bin. Und in ein paar Jahren kann ich vielleicht sehen, wohin das Lernen all die knuffigen kleinen Kiddies gebracht hat…

Bei einer weiteren Lehrerin gibt es noch eine Besonderheit. Dazu sollte ich zuerst erwähnen, dass der Russischanteil in unserem Deutschunterricht ziemlich hoch ist. Für mich ist das relativ gut, so kenne ich schon alle typischen Lehrer-Phrasen, und für die Schüler ist es oft notwendig. Bei dieser Lehrerin ist es aber noch etwas extremer: ich glaube, sie vergisst manchmal einfach, dass es besser wäre, mit mir Deutsch zu sprechen. Zum Beispiel erzähle ich im Deutschunterricht etwas auf Deutsch, danach erklärt sie den Schülern noch einmal auf Russisch den Inhalt – und dann dreht sie sich zu mir um und redet auf Russisch weiter, stellt mir eine Frage, ohne innezuhalten. „Значит у вас в Германии в каждом соборе есть орган?“ Das kann ich schnell bejahen, bin aber doch sehr verblüfft, wie sie mich ohne Zögern im Deutschunterricht auf Russisch anspricht, ohne das etwas komisch zu finden.

Das Jesuiten-Kollegium in Orscha

Nach dem Erfolg in der Deutscholympiade ist das Hauptthema im Bereich Deutsch bei uns die kommende A2-Prüfung. A2 bedeutet bei uns Klasse 8 und 9, was eigentlich nicht besonders gut ist, vor allem im Vergleich mit DSD-Schulen. Unser Deutschniveau an der Schule ist wirklich nicht übermäßig gut, über A2 kommen nicht viele Schüler hinaus. An DSD-Schulen ist es anders, weil eine bestimmte Quote B1 erreichen muss, damit die Schule weiter Förderung erhält. Bei uns gibt es nicht mal B1-Prüfungen. Für die A2-Prüfungen nehmen die jeweiligen Schüler an Vorbereitungskursen teil, in denen alle Kompetenzen für die Prüfung geübt werden: Lesen, Hören, Schreiben, Sprechen. Mittlerweile kenne ich die Aufgaben und die betreffenden Schüler ziemlich gut, denn ich helfe  häufig bei der Vorbereitung. Besonders spannend wird es am Montag: wir veranstalten eine Probe-Prüfung für alle Interessenten.

Für alle, die sich nicht so gut damit auskennen, und sich fragen, was A2 bedeutet, hier ein Beispiel. Im Teil Sprechen bekommen die Schüler ein Thema („Fernsehen“, „Deine Schule“, „Gesundheit“) und einige Stichworte dazu und müssen dann über sich selbst erzählen. Typische Antworten: „Ich sehe nicht viel fern, denn ich habe wenig Zeit. Manchmal ich sehe fern mit meiner Freundin, wir schauen Serien. Das macht uns Spaß. Aber ich weiß, dass Fernsehen ist schlecht für die Augen.“

Üblicherweise haben die Kinder die Texte schon vorformuliert und geben sie nur wieder. Dabei wurden die Texte immer weiter verfeinert, damit die Schüler mehr reden – zum Beispiel nicht nur was sie machen, sondern auch wie sie diese Sachen finden. Kleine Fehler sind nicht so wichtig, die Hauptsache ist, dass die Schüler reden. Wenn dann etwas kommt wie „ich bringe viel Zeit mit meinem Handy ver„, ist es auch egal.

Am Donnerstag konnte ich noch einmal sehen, dass unser Niveau in Orscha nicht übertrieben hoch ist, da ich in der Witebsker DSD-Schule (Schule Nr. 45) zu Gast war. Am Bahnhof werde ich von Irina Anatoljewna freundlich empfangen und wir fahren weiter in die Schule, die mit etwa 1900 Schülern ziemlich riesig ist. Was mich am meisten überrascht, ist die siebte Klasse, in die ich zuerst komme. Eigentlich soll ich über Feiertage erzählen, doch die Schüler dürfen erst Fragen stellen, und tun das ganze 25 Minuten lang selbstständig. Das Deutschniveau übersteigt das unserer siebten Klasse bei weitem. Natürlich ist das eine der speziellen Deutsch-Klassen, aber ich bin trotzdem sehr positiv überrascht, wie motiviert die Schüler sind. Ungefähr jeder stellt eine Frage. Noch extremer ist es in Klasse 5 danach: drei Klassen kommen zusammen, und jeder der Schüler hat mehrere Fragen vorbereitet, von „wie alt bist du?“ über „was ist dein Lieblingstier?“ und „welche Städte in Belarus kennst du?“ bis zu „was machst du an Ostern?“. Wir verbringen 45 Minuten nur mit den Fragen der Fünftklässler, deren Deutsch für ihr Alter wirklich unerhört gut ist.

Der Siegesplatz in Witebsk

So weit, so gut. Der ganze Tag in Witebsk verläuft eigentlich super, abgesehen dann von der neunten Klasse, die ich rücksichtslos totlabere, nachdem mir vorher gesagt wird, ich soll über Landeskunde erzählen, und zwar „je mehr, desto besser“.

„Je mehr, desto besser“ ist in der Regel keine gute Idee, auch wenn man dazu aufgefordert wird, und das hätte ich mir denken sollen. Man sollte das weder Deutsch-LKlern noch Organisten sagen, und ich bin sogar beides.

Und so schauen die Schüler mich nach dem Vortrag nur stumm an und sagen keinen Piep. Они в шоке, кажется. Während ich die Fragen der Lehrer beantworte – sie sind sehr interessiert, wie z.B. ein schriftliches Abitur in Sport funktionieren soll, oder warum es in Deutschland erst die Noten 1-6 und dann die Punkte 15-0 gibt – fühle ich mich entsprechend schlecht und hätte mich wohl besser zurückhalten sollen.

Zu erwähnen ist noch ein Teil des Essens in Witebsk – der wahrscheinlich chlichéhaft russischste Salat überhaupt: Eine Art Eisbecher oder Eispokal, in dem sich unter einem wahren Berg aus geriebenem Käse gekochtes Ei, saure Gurke und Schinken befinden. Auf der ungelogen 1,5 Zentimeter dicken Käseschicht klebt ein Kleks Mayonaise. (Salatsoße ist hier nicht üblich, man bevorzugt es, einfach Mayonaise auf den sogenannten Salat zu klatschen. Im Prinzip so ähnlich wie Smetana (saure Sahne), die in jede Suppe gekippt wird.)

Und dann noch eine Anekdote von der Zugrückfahrt im Regionalzug: wieder einmal werden alle Fahrgäste zweimal kontrolliert – einmal von den beiden Schaffnerinnen, die ständig durch den Zug marschieren und die Zugestiegenen kontrollieren, und dann noch einmal von zwei weiteren Kontrolleuren. Anscheinend reicht es nicht, dass das Ticket eingerissen wird, sondern es muss auch eingestanzt werden, und zwar von einer unabhängigen zweiten Person. Es ist albern, aber dieses Mal haben die Zweitkontrolleure sogar etwas zu tun: sie dürfen sich die ganze Zugfahrt lang mit einem Mann unterhalten, der sein Ticket gerne in russischen Rubel bezahlen würde, worauf die Schaffner sehr allergisch reagieren. Der Mann hat keine belarussischen Rubel, also bleibt das Gespräch am Ende ziemlich ergebnislos, soweit ich es erkennen kann.

Die Tickets der Regionalzüge sehen nicht so spektakulär aus wie die hochwertigeren… oben sieht man Knick und Zangenabdruck

Gestern hat nach längerer Pause mein Russischunterricht wieder begonnen. Nachdem das vorherige Lehrbuch eher einfach war, hat meine Lehrerin beschlossen, das Niveau drastisch zu erhöhen. Aus der Stunde gestern nehme ich gleich vierzig neue Vokabeln mit, auf dem Niveau von ein Arbeitsverhältnis kündigen, beabsichtigen etwas zu tun, sich immatrikulieren, Scheidung, Schlafstörung, Aufrichtigkeit. Dazu grammatische Konstruktionen, die mir gänzlich unbekannt waren – so etwas wie „он старше меня на два года„, „er ist zwei Jahre älter als ich“, was wörtlich aber „er – älter – mich – auf- zwei – des Jahres“ bedeuten würde. Etwas ungewöhnlich, aber natürlich sehe ich darin eine willkommene Herausforderung.

So viel erst einmal von mir.  Mit 0° ist es übrigens zu warm hier – auf den Straßen sammeln sich schon kleine Bäche des geschmolzenen Schnees. Dann doch lieber Frost.

Счастливо и до свидания!

Jonathan (Йонатан)

Eintrag Nr. 1 im Jahr 2019, sogar mit Fotos

Orscha, 10. Januar 2019. – Вот, sooo…

Nach dem Besuch meiner Schwester in den Ferien geht für mich endgültig der Alltag wieder los. So lange wird das gar nicht mehr Alltag sein, es sind nur noch sechs Wochen bis zur Rückreise. Diese Wochen sehen bisher noch sehr leer aus, aber sie werden sich schon füllen. Wieder einmal merke ich, dass dieses halbe Jahr nur eine Zwischenstation ist, alles hier – bald geht es zurück, und dann wird es ganz normal sein, wieder in Deutschland zu leben. Alles ist so komisch, ich verstehe es selbst nicht. Im Blog meiner Vorgängerin lese ich, wie sie die gleichen Menschen beschreibt, die ich auch kennengelernt habe, und zu denen sie jetzt vermutlich genauso wenig Kontakt mehr hat wie ich bald haben werde, ohne dass irgendjemand das komisch findet. Das macht mich unheimlich nachdenklich.

In den letzten Tagen mit meiner Schwester haben wir überwiegend Orte besucht, die ich mindestens grob schon kannte. Das hat einige Nebeneffekte:

*Ich kenne mich dort ganz gut aus, was essenziell ist – dieses Grundwissen, aber am besten mit genug Russisch versehen, ist in Belarus sehr hilfreich

*Bei mir kommen ständig Erinnerungen hoch, ohne dass ich weiß, was ich mit all ihnen machen soll

*Mein Eindruck von einigen Orten ändert sich – z.B. ist Magiljow doch viel interessanter und schöner, als ich dachte (würde ich gerne im Frühling/Sommer sehen…)

*Meine Schwester kann mit ihrer guten Handykamera endlich Fotos von diesen Orten machen, die ich hier nachschieben kann.

In diesem Beitrag kommen also endlich wieder viele Bilder.

Neujahrsdeko auf dem Ruhmesplatz in Magiljow

Zuerst sollte ich noch über Neujahr in Minsk erzählen. Im Gegensatz zu Deutschland gilt Neujahr hier als das größte Fest, nicht Weihnachten. Das geht so weit, dass der Weihnachtsmann bzw. Väterchen Frost an Neujahr kommt, es keine Weihnachts- sondern eher Neujahrsgeschenke gibt und die jüngeren Schüler bei Bildern von Weihnachtsdeko zuerst an Neujahr denken. Dementsprechend ist in Minsk an Neujahr Einiges los. Auf großen Plätzen gibt es vor und nach 0 Uhr öffentliche Konzerte, teilweise sind sehr viele Menschen auf den sonst eher leeren Straßen.

Aus der Perspektive von meiner Schwester und mir sah das Ganze so aus:

  1. Am Platz der Republik stehen viele Leute, doch die Konzertbühne ist um 23 Uhr noch leer. Auch bis kurz vor 0 Uhr tut sich eher wenig.
  2. Ein junger Mann engagiert uns mit anderen Passanten zusammen als Wunderkerzenhalter im Hintergrund, während er seiner Freundin einen Heiratsantrag macht.
  3. Kurz vor 12 wird die Neujahrsansprache des Präsidenten übertragen, die, nach dem was ich verstehe, keinen besonders wichtigen Inhalt hat.
  4. Danach Countdown. Um Mitternacht jubeln alle ein bisschen, aber es gibt – für uns überraschend – kein Feuerwerk.
  5. Meine Schwester ist völlig verwirrt, als Väterchen Frost auf die Bühne steigt und allen Anwesenden ein frohes neues Jahr wünscht.
  6. Väterchen Frost übergibt die Bühne an belarussische Sänger*innen. Der Platz leert sich deutlich.
  7. Etwas später sind die Straßen ziemlich leer, es gibt fast kein Feuerwerk. Wir wollen schon gehen. Auf einem anderen Platz ist dafür mehr los.
  8. Gegen viertel nach eins kommen aus der Metro auf einmal hunderte oder tausende Menschen, die нямига ist so voll wie noch nie.
  9. Kurz darauf erfahren wir den Grund: um halb zwei gibt es ein zentrales Feuerwerk („Salut“), das sich die Menschen anschauen. Das, zusammen mit den Konzerten, scheint draußen das Wichtigste zu sein. In das Familienfest haben wir eben keinen Einblick…

Die Metro fährt an Neujahr übrigens ausnahmsweise bis vier Uhr nachts (!).

Hier jetzt Bilder, wie versprochen.

Ein Teil des massiven Regierungsgebäudes in Magiljow „Allee der Helden“ (Magiljow) Ein „Dranburger“ – Draniki (Pfannkuchen) statt Brötchen

Witebsk Marc-Chagall-Zentrum in Witebsk

Weitere Fotos hebe ich mir noch auf :)

Der erste Schultag war wieder ein guter Tag, vor allem natürlich durch die motivierten Viertklässler. Die nächste Zeit kann doch schön werden, mitten in all dem Schnee. Bei -25° gibt es kältefrei, habe ich jetzt erfahren, und das kam in den letzten Jahren auch vor… Mal sehen, was die nächste Zeit bringt, was ich aus meinen letzten sechs Wochen hier machen kann. Vilnius muss eigentlich noch einmal sein.

Ausstellung in Witebsk

Aktuell sind es etwa -8°C hier, die Temperaturen bewegen sich zurzeit zwischen -7 und -12°.

Всё. Ich melde mich demnächst wieder, bis dann. До свидания!

Jonathan

P.S.: Noch ein unnötiger Fun-fact:

Ist es nicht lustig, dass Russisch Вот (siehen oben, gesprochen wot, entsprichtsooo, also„, wie Englisch „well)…

…genauso aussieht wie Portugiesisch Bom  (gesprochen wie Franz. bon, „gut“)?