Kein Ponyhof und so

Orscha, 29. Oktober 2018. – Die Redewendung „Das Leben ist kein Ponyhof“ findet Irina, meine Ansprechpartnerin in der Schule, totaaal klasse, seit ich sie darauf hingewiesen habe, und ich durfte den Satz einige Male in der letzten Woche hören. Hauptsächlich wegen der vielen Behördengänge für die временное проживание, die Aufenthaltsgenehmigung, die demnächst fertig sein muss, damit ich länger als nur eine kurze Zeit hierbleiben kann. Aber zum Glück ging es seit dem letzten Blogeintrag hier in Orscha nicht nur darum.

Die Deutscholympiade am Mittwoch ist soweit relativ normal verlaufen. Bei dieser ersten Runde des Wettbewerbs durfte ich den Großteil der Tests korrigieren, was aber gar nicht langweilig war. Es ist interessant, zu sehen, wie gut die Schülerinnen (nein, immer noch keine Jungs) in einer schriftlichen Prüfungssituation sind. Ich war etwas enttäuscht von Даша, второя (Daria Nr. 2), aber dafür war „Nr. 1“ besser als gedacht. Und natürlich sind genau die drei Mädchen in die nächste Runde gekommen, bei denen es schon ziemlich klar war.

Am Freitag geht es dann auf die Polizei (милиция, „Miliz“), um den Antrag für die Aufenthaltsgenehmigung zu stellen. Diesem Moment sind schon einige Behördentermine vorausgegangen, ich hoffe nur noch, dass es irgendwie hinhaut. Die девушка im Ausländerbüro (Djewuschka, entspricht in diesem Fall in etwa dt. Fräulein; so werden alle weiblichen Angestellten hier bezeichnet) ist zwar grundsätzlich nett, hat aber ansonsten nur mit Ausländern zu tun, die vor dreißig Jahren noch nicht den Status Ausländer gehabt hätten, wenn man versteht, was ich meine – sie wirkt also auch etwas unsicher. Wahrscheinlich sind wir alle froh, wenn das ganze fertig ist.

Am Samstag treffe ich wieder P., die noch eine weitere Freundin mitnimmt. Wir fahren in ein Dorf etwas außerhalb von Orscha, gehen spazieren und unterhalten uns.“Wir sind nicht immer zierlich und manierlich, aber jetzt gehen wir auf dem richtigen Weg“, sagt P. mittendrin und deutet auf einen asphaltierten Weg anstelle eines Trampelpfads. Ich muss sehr über ihre Ausdrucksweise lachen, was sie nicht versteht, und ich ehrlich gesagt auch nicht. Diese Art, es zu formulieren, war einfach zuckersüß, wäre von einem Deutschen nie gekommen und war für mich völlig unerwartet, deswegen vermutlich.

Wenn du das liest, P.: das Lachen war wirklich nicht böse gemeint, ich war in diesem Moment nur sehr verwundert. Benutze gerne weiter solche Ausdrücke, es wird nicht schaden!))

Traurigerweise hatte ich jetzt schon häufiger Unterricht im schlimmen Russisch bei P. als im gewöhnlichen Russisch bei Irina. Aber vielleicht wird das jetzt besser, Irina hat es zumindest angedeutet.

Russisch als Sprache ist schon gemein teilweise. Zum Beispiel enthalten absolut alle Begrüßungen ein gerolltes r (russ. „р“) -здравствуйте, здрасте, здорово, привет, приветик, добрый день/вечер, доброе утро, also sdrástwujtje, sdrástje, sdarówa, priwjét, priwjétik, dóbryj djen/wjétscher, dóbraje útra. Das „r“ bekomme ich üblicherweise über die Lippen, aber nicht immer, und schon bei „sdrrastje“ weiß dann jeder, dass ich Ausländer bin. Aber auch das ist gar nicht unbedingt nötig, ich mache auch sonst genug Fehler. Beim Mützenkauf am Samstagvormittag lief das Gespräch eigentlich gut, nur habe ich beim Bezahlen wieder mal dwenádzat mit dwádzat verwechselt (das sind 12 und 20). „Sie kommen von weit her, oder?“, fragt mich der Verkäufer und lacht. Wir reden noch kurz, immerhin sind die meisten Menschen hier sehr freundlich.

Am Sonntag mache ich mich auf den Weg zu einem Orgelkonzert in Polozk. Im Zug sitzt neben mir ein kleines Mädchen mit seiner Mutter, das sich riesig über sein neues Spielzeugpferdchen freut (мой коник, мой коник!), während mir gegenüber ein älteres Mädchen ungefähr so genervt dreinschaut, wie das nur möglich ist. Weil mir der Gedanke gefällt, als Deutscher auf einer Zugfahrt in Weißrussland ein portugiesisches Buch zu lesen, lese ich weiter bei Fernando Pessoa.

Aber natürlich treffe ich dabei auf einen Text voll von depressiver Philosophie, „O eremita da serra negra“, hätte diesem Gedanken also vermutlich besser nicht folgen sollen. Viel zu deprimierend.

Dafür ist das Orgelkonzert sehr schön. Ich habe in der Sophienkathedrale keine Fotos gemacht, denn schon am vierten November werde ich noch einmal dort sein. An diesem Sonntag spielt ein Organist aus Deutschland zusammen mit seiner Frau, einer Sopranistin. Am Anfang bin ich etwas skeptisch, aber dann gefällt mir das Konzert immer besser. Zusammen tragen die beiden ein Magnifikat und zwei Gebete vor, und allein zeigt der Organist durch viele weitere Stücke zahlreiche unterschiedliche Klangfarben der Polozker Orgel. Ich bin verzaubert. Nach zwei Monaten ohne Live-Orgelmusik wäre ich wahrscheinlich schon von einem einfachen Gedackt begeistert, da sind die vielfältigen Farben in der Kathedrale schon fast zu viel, von den vielen sanften, dunklen oder hellen Flötenschattierungen über die Zungen und Streicher bis zum herrlichen Plenum. Der Organist spielt unheimlich gefühl- und effektvoll, ohne es zu übertreiben. Ich kann es kaum beschreiben (aber die Nicht-Organisten (also ungefähr alle meine Leser) werden sowieso nicht verstehen, was ich daran finde).

Nach dem Konzert kann ich kurz mit dem Organisten sprechen. Er wirkt etwas zerstreut, kann mir aber bestätigen, dass er bei der Fuge einen 32‘ Fuß (Untersatz) gezogen hat, was ich im Konzert schon vermutet hatte. Der klangliche Effekt war überwältigend. Außerdem erfahre ich, dass er schon zum dritten Mal in Polozk ist, direkt im Anschluss weiter nach Vilnius fährt und ich ihn vielleicht im kommenden Jahr in Deutschland hören kann.

Nach dem Konzert laufe ich durch die Stadt und verlaufe mich ein bisschen, bevor ich den Bahnhof finde. Immerhin regnet es nicht. Ich habe noch lange Wartezeit, bevor der Zug abfährt, der dann noch vier Stunden bis Orscha brauchen wird. Um viertel vor zwölf komme ich etwas frustriert in meiner Wohnung an, da die Fahrt doch sehr anstrengend geworden ist. Nebenbei habe ich die Ergebnisse der Hessenwahl mitbekommen, aber ich sage einfach mal nichts dazu. Es wird schon genug darüber geredet.

Am Bahnhof in Polozk wurde übrigens ein Mann, der neben mir auf einer Bank saß, von zwei der vielen Polizisten verhaftet, ohne dass er irgendetwas getan hätte. Ich verstehe diese Situation bis jetzt noch nicht und bin leicht geschockt.

In den Ferien habe ich für die Schule nicht übermäßig viel zu tun, was schon einmal gut ist. Am Wochenende wollen wir Freiwillige (vier von fünf) nach Witebsk und Polozk fahren, vielleicht kann ich auch noch Orscha zeigen. Ich kann nur hoffen, dass alles gut geht und nicht zu anstrengend wird.

So viel von mir, genug geschrieben für heute.

Zuletzt das Wetter: es ist kalt und nass bei durchgängig 3°C.

Liebe Grüße an alle,

Jonathan

P.S.: Für alle die es nicht mitbekommen haben: der Zeitunterschied nach Deutschland beträgt seit Sonntag 2 Stunden.