Falsche Orgeln, ein richtiges Klavier und Gedanken über Deutsch

Orscha, 18. Oktober 2018. – Wenn man nur genau hinschaut, entdeckt man überall die unwahrscheinlichsten Zufälle, die sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wären. So habe ich zum Beispiel bemerkt, was für eine Ironie es ist, hier in Orscha zu sein: kulturweit hat einen Organisten in genau die Stadt in Belarus geschickt, die tatsächlich mit Orgeln zu tun hat – wenn auch mit ganz anderen als denen, die ich kenne.

Was ich damit sagen will? Naja. Vielleicht habt ihr schon einmal von der „Stalinorgel“ gehört – eine sowjetische Waffe aus dem zweiten Weltkrieg. Die катюша (Katjúscha) besteht aus einer Reihe von Panzerrohren, die auf einem Militärfahrzeug befestigt werden. Sie ist mobil und kann viele Salven auf einmal abgeben; die orgelpfeifenartige Anordnung der Rohre und das laute Pfeifen vor dem Angriff gab ihr den deutschen Namen Stalinorgel.

eine „катюша“ – dt. Stalinorgel

Und ja, was soll ich sagen – Stalinorgeln wurden zum ersten Mal in Orscha eingesetzt, bei der Verteidigung der Stadt, und die Straße meiner Schule ist nach dem betreffenden Hauptmann benannt. An der Brücke über den Dnjepr erinnert ein Denkmal an das Gerät, eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt. Klingt alles nach sehr unwahrscheinlichen Zufällen, aber vielleicht achte ich einfach nur besonders darauf.

Das Katjuscha-Denkmal in Orscha

Die Fotos stammen aus der letzten Woche, das Wetter ist hier noch ziemlich gut. Was heißt gut – es ist schon fast zu warm. So zum Beispiel auch am letzten Wochenende, das ich mit Linus (Freiwilliger in молодечно/Maladetschna) in барановичи (Baranowitschi) verbracht habe. Die dortige Bibliothek hatte uns zu einer Veranstaltung eingeladen, dem „literarischen Karaoke“, indem Deutschlernende spontan deutsche Texte vortragen sollten. Eine ganz lustige Idee. Natalja aus der Stadtbibliothek kümmert sich um solche Aktionen und möchte uns gerne noch bei weiteren Veranstaltungen sehen, was ich mir sehr gut vorstellen kann.

Die „Fremdsprachenabteilung“ der Bibliothek

Nach dem Karaoke verbringen Linus und ich den Samstag mit zwei Studentinnen (ja, Baranowitschi hat eine Universität), die uns die Stadt zeigen. Viel zu zeigen gibt es eigentlich nicht, die Stadt scheint (das ist nur mein erster Eindruck nach Gesprächen mit ca. 3 Leuten!) nur aus Bahnhöfen, der Bibliothek und der Uni zu bestehen. Trotzdem ist es ganz nett. Wir unterhalten uns in einem bunten Gemisch aus Deutsch, Englisch und Russisch (beide studieren Deutsch und Englisch, bevorzugen aber jeweils eine der Sprachen) und lernen wiederum viel dazu. Zum Beispiel auch, dass es hier relativ normal ist, neue Bekannte direkt zu sich nach Hause einzuladen, wie die Studentinnen es mit uns machen, als sie uns in ihr Wohnheim mitnehmen.

Was mich in der Bibliothek auch freut: es gibt ein Klavier! Anscheinend 1a sowjetische Qualität, wenn ich die Erklärung richtig verstanden habe.

Zuletzt folgen hier noch drei Fotos aus der Stadt: die wunderschöne orthodoxe Kirche – die Studentinnen sagen uns, dass so etwas Schönes kaum zur restlichen Stadt passt – und eine Hauswand an der Hauptstraße, an der man die Straßennamen der Vergangenheit sieht. Die Geschichte von Belarus ist bewegt; der Westen des Landes war früher Polen, der Süden Ukraine, was man an Dokumenten wie diesem sehen kann.

Findet ihr den deutschen Teil?

Zuletzt noch etwas, das mir aufgefallen ist – es geht um Deutsch.

Mittlerweile hat sich meine Einstellung zu Deutsch und Deutsch lernen verändert. Im Unterricht merke ich immer mehr, wie verdammt schwierig Deutsch ist. (Ganz ehrlich, Deutsch ist so eine Dreckssprache…) Nicht nur bekommt jedes Nomen/Substantiv scheinbar zufällig einen Artikel (der/die/das) zugeordnet, der sich von nichts ableiten lässt und den man auch noch deklinieren muss – außerdem muss man immer den gesamten Satz umstellen, wenn man etwas umformulieren möchte, wobei nur ganz bestimmte Varianten korrekt sind. Nicht zu vergessen die Verben mit Präfixen, deren Vorteil sich manchmal spontan abspaltet, wie z.B. bei einsteigen, teilnehmen, anrufen usw. Von den Verben sind die meisten natürlich unregelmäßig, wieso auch nicht. Unsere Sprache hat zusätzlich einige schwierige Laute und Lautverbindungen (ö, ü, pf, ch, sp usw.) und bildet monströse Wortungeheuer, die wir im Alltag kaum noch als solche wahrnehmen (Sonnenblumenkerne, Geschwindigkeitsbegrenzung, Umgehungsstraße u.v.m.).

Meine Perspektive ist jetzt also diese: wer anfängt, Deutsch zu lernen, beginnt eine unfassbar schwere Aufgabe. Man lernt ein hochkompliziertes System kennen, das gerade so viele Menschen weltweit benutzen, dass es relativ relevant ist – wobei all die Deutschen, Österreicher und Schweizer natürlich ganz anders sprechen, als es korrekt wäre, wodurch alles noch komplizierter wird. Hut ab vor all denjenigen, die die Sprache erfolgreich lernen und gelernt haben.

Soviel erstmal von mir. Gerade geht es mir gut und ich könnte noch mehr erzählen, aber das hebe ich mir noch auf.

Die Zugstrecke Минск- Орша fühlt sich übrigens schon wie ein richtiger Heimweg an, ist mir aufgefallen.

Liebe Grüße aus Orscha,

Jonathan