Schon fast wieder weg

Orscha, 16. Februar 2019. – Die Sonne scheint hell auf den Zentrumsplatz vor dem Gebäude, in dem ich wohne. Die leichten Plusgrade lassen den Schnee schmelzen, bilden kleine Flüsse und Seen voller Dreckwasser zwischen den Gebäuden des Stadtzentrums. Wie jeden Samstag sehe ich hunderte Menschen durch die Astrowskawa-Straße zum Markt laufen, dutzende галки (Dohlen) fliegen durch die Luft – aber dieser Samstag ist schon der Beginn meines letzten Wochenendes in Orscha und Belarus, für längere Zeit wahrscheinlich.

Natürlich kommen viele „letzte Male“ in dieser Zeit. Ich war am vergangenen Wochenende noch einmal in Magiljow, ein letztes Mal – die Stadt gefällt mir immer noch sehr gut, obwohl ich dort absolut niemanden kenne. Die schöne Fußgängerzone und die Straßenzüge werde ich hoffentlich noch eine Weile in Erinnerung behalten.

Ein Tipp für alle Leser, falls sie mal nach Magiljow kommen (wahrscheinlich nicht der Fall, aber trotzdem): Кафе Мадлен/Café Madlen. Das Gebäck ist selbstgemacht, dazu gibt es Kuchen, Kaffee, eine große Auswahl. Drinnen kann man auch sehr gut sitzen, auch wenn manchen das Ambiente vielleicht nicht gefällt.

Auf dem Rückweg schaue ich noch einmal in Schklow/Schklou vorbei, einer kleineren Stadt zwischen Orscha und Magiljow. Die Stadt wird anscheinend relativ oft vom Präsidenten frequentiert und ist entsprechend sauber und ordentlich, und außerdem mit einem überdimensionalen Stadtpark versehen. Ein Kurzbesuch lohnt sich auf jeden Fall, wenn das Wetter erträglich ist. Und irgendwie war es auch ganz cool, die Dame am Fahrkartenschalter in Schklow zu verwirren (ich bezweifle, dass dort schon häufiger Ausländer vorbeigeschaut haben).  Einer der Wege im Park Das Rathaus, eines der besonderen Gebäude Die orthodoxe Kirche, mitten im Zentrum

Ich werde vieles vermissen aus der Zeit hier, aus dem Alltag, den ich hier geschenkt bekommen habe. Dazu gehören natürlich auch die Schüler. Noch eine schöne Szene aus Klasse 4: die Kinder schreiben eine Kontrollarbeit, Irina ist gerade mal weg (passiert), ich bleibe im Raum. Einer der Schüler macht Blödsinn, sodass sich sogar die anderen Schüler aufregen und mich bitten, ihm etwas zu sagen. Der einzelne Schüler antwortet etwas in Richtung „Er versteht es doch sowieso nicht„, worauf Karina in mit einem „Йонатан тебя отлично понимает, и если нет, он всё видит“ zurechtweißt („Jonathan versteht dich ausgezeichnet, und selbst wenn nicht, kann er alles sehen„).

Ach ja, die Viertklässler…

Oder Katja in Klasse 5, die von ihrer Mutter zuhause anscheinend zusätzliche deutsche Phrasen beigebracht bekommt und jetzt bei jeder Möglichkeit die Phrase „(das Gebäude), in dem …“ benutzt (die ungefähr vier Jahre später erst im Unterricht kommt).

Genauso werde ich die angenehme Deutsch-Russisch-Mischung vermissen, das ich mit Irina und Polina sprechen konnte, aber mit (erstmal) niemandem in Deutschland.

Außerdem ist es einfach ein sehr befriedigendes Gefühl, wenn man gerade ein Ticket für eine Fahrt im semisowjetischen Regionalzug gekauft hat und auf dem Weg zum Zug aus der belarussischen Durchsage alle weiteren Informationen entnehmen kann. Wenn man sich mit allen wichtigen Dingen ausreichend auskennt, die Hintergründe kennt, sich schon ein bisschen oder ein bisschen mehr heimisch fühlt. Im Alltag stoße ich in Orscha eigentlich kaum auf Probleme, wenn überhaupt.

Es ist Zeit, nach Hause zurückzukommen, aber es fällt mir schwer. Die Zeit hat mich verändert, und ich verstehe noch nicht genau, wie.  Manche Dinge sind wichtiger geworden, andere weniger wichtig, und insgesamt habe ich nicht unbedingt Orientierung für mich bekommen, soweit ich das im jetzigen Moment, in dem ich den Kopf mit allem voll habe, sagen kann.

Die Zeit hier hat mich verändert, hat mir einen ganz anderen Bezug zu Osteuropa gegeben. (Oder konkreter, zum russischen Einflussgebiet.) Seit meinen Russischstunden liegt ein gewisser Glanz über den Namen Moskau und Sankt Petersburg, und Orscha ist für mich weit mehr als nur eine Zwischenstation zwischen Minsk und Moskau, sondern eine Stadt, die ich inzwischen gut kenne, in der ich mich zurechtfinde, in der ich gerne bin.

Aber ich komme besser wieder zurück zu dem, was hier noch passiert ist.

Am Freitag in einer aufwendig vorbereiteten Konferenz kommt wieder der mittlerweile bekannte „offizielle Stil/Modus“. Es ist ein Treffen einiger Lehrer aus dem Rajon (Landkreis), viele Lehrer kennen sich untereinander, und trotzdem kleiden sich die Lehrerinnen, als käme der Präsident persönlich vorbei. Für die Gäste wird alles bis ins Detail geplant, die ganze Veranstaltung, alles muss perfekt sein.  Es wird fleißig gesdrastwujtjet (sdrastwujtje – guten Tag), die Schulleiterin mit Stellvertreterin ist anwesend und begrüßt die Lehrer offiziell, und auch die Dame vom pädagogischen Zentrum kommt. (Für mich war sie bisher einfach die Frau, die ab und zu ins Deutschzimmer reinplatzt und mit lauter Stimme irgendetwas von den Deutschlehrern will. Ich lerne dazu. Und sie ist eigentlich ziemlich nett.) Die Lehrerinnen aus meiner Schule, Nr. 20, sind merklich nervös, auch Irina, die eine Vorführstunde in Klasse 5 hält.

Dafür läuft es dann auch ziemlich gut. Obwohl Irina mit ihrer Stunde natürlich nicht ganz zufrieden ist („мы ничего не успели“) passiert eigentlich alles genau nach Plan. Das Theaterstück aus dem November wird noch einmal aufgeführt, die Schülerinnen aus Klasse 10 haben einen fabelhaften Clip über die Schule gedreht und Schule Nr. 20 präsentiert sich wieder einmal sehr gut. (Das GI sagt explizit, die PASCH-Schulen hätten eine „Leuchtturmfunktion“, und so verhalten wir uns irgendwie auch.)

Außerdem zu erwähnen: der neue Deutschraum, Nr. 217, jetzt fertig ausgestattet und du-weißt-nicht-wie modern. Ein neuer Stolz der Schule, obwohl das GI (soweit ich das einschätzen kann) die Schule bei allen damit verbundenen Arbeiten ziemlich alleingelassen hat. „Мы всё это самы сделали“, sagt Irina.

Nach der Konferenz muss ich mich schon von einigen Menschen verabschieden, z.B. Mascha, die Lehrerin aus Schule 17, mit der meine Vorgängerin sich so gut verstanden hat. Es ist immer noch unglaublich für mich, dass ich an genau dem Ort bin, über den ich vorher schon in meinem Vorgängerblog lesen konnte, genau die gleichen Menschen treffen kann. Life’s such a curious thing.

Diese Veranstaltungen unterscheiden sich natürlich vom normalen Unterricht, es ist nicht immer alles so toll, wie es präsentiert wird. Aber diese Veranstaltungen zeigen, was es alles Tolles gibt, in der Summe, und das ist einfach beeindruckend und macht es mir schwer, zu gehen. Es ist doch so viel, dass ich mit dieser Schule verbinde, und umso seltsamer ist es, das meine Zeit hier auf genau dieses eine halbe Jahr beschränkt ist.

Heute verabschiede ich mich dann von Irina, die in der nächsten Woche in Köln auf einem Seminar sein wird. Noch ein schwieriger Schritt.

Und heute Nachmittag dann noch ein Treffen mit Polina, und auch mit Milana, ebenfalls aus Schule 17. Wir suchen eine ganze Weile, bis wir ein Café mit freien Plätzen finden, haben dann aber noch einen schönen Abend, ein bisschen прикольное время zusammen. Просто так. Noch etwas, was ich vermissen werde.

Immerhin sind die Schritte für die nächste Woche schon ziemlich gut vorgezeichnet, ich weiß, was an den einzelnen Tagen passiert. Es sind noch neue Projektideen aus dem GI angekommen, darum werde ich mich dann im Zweifelsfall kümmern, Recherche und so weiter. Morgen schaue ich ein letztes Mal in Minsk vorbei und sehe die anderen Freiwilligen. Es geht einfach alles seinen Gang.

Und irgendwann endet es dann mit einem „всё, пока“.

Bis bald

Йонатан

Kiew und co (mit Fotos)

Orscha, 06. Februar 2019. – Nach einer weiteren Reise in die Ukraine bin ich wieder um Einiges klüger, denn was auch immer meine Erwartungen waren, die Realität war anders. Wieder einmal sind die Unterschiede zwischen Belarus und Ukraine (die nur für die Belarus-Freiwilligen so richtig verständlich sind) offensichtlich geworden, und natürlich noch mehr.

Der letzte Donnerstag ist ein bisschen hektisch, da ich am Vormittag noch die Kleinstadt Baran in der Nähe Orschas besuche, auf Einladung der Schule dort. Die Schüler (oder eher ihre Lehrer?) haben ein großartiges Programm zusammengestellt und zeigen mir das wichtigste in der Stadt, abgesehen vom Fluss, den man wegen des Schnees darauf schlecht sieht, oder gar nicht. Baran wurde vor etwas mehr als fünfhundert Jahren gegründet und wird von allen Anwesenden als ein sehr gemütliches, ruhiges Städtchen beschrieben; es gebe alles, was man zum ruhigen Leben brauche, was gerade jungen Leuten oft nicht ausreiche. Sie erzählen mir vom Freizeitzentrum, indem es anscheinend ungefähr alles gibt, von den wichtigen Fabriken, und wir schauen uns eine kleine Kirche an. Da die Lehrer vor den Schülern so tun, als verstünde ich nur Deutsch, übersetzen sie auch die Anmerkungen des Priesters, der mir über die Kirche erzählt. Ich glaube in dieser Kirche bekomme ich zum ersten Mal den „familiären“, freundlichen Eindruck, den ich von meiner Kirche und Gemeinde in Deutschland kenne. Das orthodoxe Christentum habe ich leider kaum kennengelernt, während ich hier war.

In ihrer Schule waren wiederum vier Schüler in traditionellen Trachten auf mich und führen mich durch das schuleigene Heimatmuseum. Ich bin sehr begeistert.

Ich bin mittlerweile schon verwundert, wenn Leute sich über die vielen Panzerdenkmäler in Belarus wundern Alle zusammen im Heimatmuseum, samt Trachten (sie sind schon toll, oder?) …und im Deutschraum

Nach einem typischen Teetrinken fahre ich zurück nach Orscha und von dort recht bald weiter nach Minsk. Dort treffen wir vier aus Belarus uns und machen uns auf den Weg nach Kiew.

Hatte ich schon erwähnt, dass wir Bus gefahren sind?

 

Aber naja, es hätte schlimmer sein können. Vor allem dadurch, dass wir zu viert unterwegs waren, war die Reise doch noch erträglich. Das war vielleicht der Ausgleich für den eher wenigen Schlaf (die Art von Schlaf, bei der man nachher nicht sagen kann, ob er wirklich vorhanden war).

Der Kiewer Busbahnhof empfängt uns um sechs Uhr morgens ukrainischer Zeit. Es ist nass, feucht, kalt, neblig, oft glatt auf den Straßen. Meine ersten Eindrücke von Kiew sind entsprechend düster. Denise und ich machen uns auf den Weg ins Hostel, sehen bereits den umnebelten Maidan und ruhen uns erstmal im Hostel aus, denn wir sind einigermaßen fertig. Schlafen ist aber nicht drin, da wir zu früh sind.

Der berühmte Maidan im Nebel

Der Aufenthalt wird erst in den nächsten Stunden schöner. Wir beide besichtigen die absolut beeindruckende Sophienkathedrale, eine große orthodoxe Kirche, in der alle Innenflächen von historischen Wandgemälden bedeckt sind. Das Gebäude ist groß, majestätisch, ehrfurchteinflößend, ohne übertrieben zu sein, ein architektonisches Meisterwerk. Ich kannte diese Schönheit nicht, dachte vorher, große orthodoxe Kirche seien einfach überladen mit Glanz – aber das stimmt nicht, wie ich in Kiew mehrfach gesehen habe. In der Stadt gibt es ungefähr überall Kirchen, ganz im Gegensatz zu Minsk.

Sophienkathedrale (Foto: Denise Roedel)

Nachdem Denise und ich Ronja (aus Chisinau, Moldau) vom Bahnhof abholen (und sie zum Glück noch erwischen), verbringen wir drei tatsächlich die meiste Zeit zusammen. Natürlich sehen wir auch die anderen noch; am Freitagabend sind wir alle acht lange zusammen, am Sonntag sehen wir einander noch einmal, und Anne (Olegsandrija, Ukraine) schließt sich uns auch teilweise an. Aber den größten Teil der Zeit, zum Beispiel am Samstag, verbringen wir zu dritt.

Was bin ich euch beiden dankbar für diese Zeit… :))

Ronja, Denise, Ich

Kiew hat unzählige Sehenswürdigkeiten (in Minsk ist das schon begrenzt), von denen wir uns einige in der kurzen Zeit ansehen können. Ich füge ein paar Fotos in den Beitrag ein, um das zu erklären. Ansonsten haben wir einfach eine tolle Zeit, entdecken die Stadt, ihre Gebäude, die Geschichte. Dazu gehört auch das Голодомор-Museum, das uns unheimlich nachdenklich macht. Es handelt von einer der größten Katastrophen der ukrainischen Geschichte, über die ungefähr niemand im Westen etwas weiß: den Holodomor, eine grauenhafte Hungersnot in der „Kornkammer Ukraine“, für die keine Naturkatastrophen oder Ähnliches verantworlich war, sondern die sowjetische Regierung. Die Ukraine geht so weit, es als einen Völkermord zu bezeichnen, und wenn man im Museum ist, beginnt man zu verstehen, wieso.

Erinnerungskomplex für die WeltkriegstotenDie monumentale Statue „Mutter Heimat“

Eine der breiteren Straßen, Teil 1…

…Teil 2

Die Kiew-Reise hat sich also etwas anders entwickelt als erwartet, aber ich bin sehr froh, dass sie so schön geworden ist. Von dem Anfang und den Unannehmlichkeiten der Busfahrt abgesehen. (Diese Fahrt dauerte übrigens jeweils etwa elf Stunden, die Grenzkontrolle (1:45 h und 2 h) schon miteingerechnet. Nach Orscha noch etwas länger. Inkl. Wartezeit war ich ab Sonntag Abend 16 Stunden unterwegs. В принципе нормально, wie man hier sagt.)

Im Vergleich zu Minsk ist die Innenstadt sehr eng

Zu erwähnen ist noch unser Lieblingsverkehrsmittel in Kiew, die Metro – mit ziemlich schnellen Rolltreppen, die deutlich weiter in die Tiefe führen als in Minsk, und der tiefsten Metrostation der Welt (kein Scherz) – außerdem der Nebel, der teilweise sehr heftig ist (siehe Fotos).

Blick auf die Andreaskirche

Jetzt bin ich wieder angekommen in Zeitzone Moskau, in der Stadt, wo der Dnjepr noch deutlich schmaler ist, und in Schule Nr. 20. Der Stand jetzt: unsere motivierten Zehntklässlerinnen drehen weiter den Film über die Schule, die Achtklässler bereiten sich weiter auf die A2-Prüfung vor (die Lehrer haben nur sieben der dreizehn Teilnehmer in der Probeprüfung für die echte Prüfung zugelassen) und die Viertklässler sind zu aufgeregt und hibbelig, sodass meine AG sehr chaotisch wird.

In einer Woche soll ich auf einer Lehrerversammlung etwas über Didaktik erzählen und komme nicht so richtig damit klar. Das Thema ist „Развитие интеллектуальных и творческих способностей обучающихся с использованием современных информационно-коммуникационных технологий на уроках иностранного языка и во внеурочной деятельности“ und klingt auf Deutsch auch nicht viel besser. Auf das Thema kann ich allerdings einige Details meiner sogenannten Arbeit in Orscha beziehen, und daraus soll dann irgendetwas zusammenwachsen.

Es bleiben noch drei Wochen und wenige Tage in Belarus, die Uhr tickt bis zur Rückkehr, und mein Kopf ist jetzt schon zu voll mit Gedanken über all das und noch mehr.

Blick auf den Dnejpr in Kiew

Jedenfalls bis bald und alles Gute

Йонатан