Halbzeitpause in der Ukraine

Orscha, 26. November 2018. – Nach unserem Zwischenseminar kommt die schwierige Aufgabe auf mich zu, unsere völlig gefüllte gemeinsame Woche einigermaßen gut in einen Blogeintrag zu verpacken. Es war so eine besondere Zeit, dass ich das unbedingt würdigen möchte, ohne dass es für Außenstehende zu viel wird. Ich bemühe mich.

Erst einmal der grundsätzliche Rahmen. Unser Zwischenseminar findet in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine statt, ein paar Stunden von Lwiw (Lemberg) entfernt. Eingeladen sind die zwölf Freiwilligen aus Belarus (5), der Ukraine (5) und Moldau (2). Wir „Belarussen“ reisen zusammen an, treffen am Samstag morgens ein und fahren am folgenden Samstag abends wieder los. Eine ganze Woche Zeit in Lwiw und Iwano-Frankiwsk also.

Entgegen unserer Erwartungen haben wir im Vergleich keinen übermäßig langen Anreiseweg. Die Ukraine ist, wie wir bemerken, durchaus riesig, deshalb sind unsere 13-15 h von Minsk nach Lwiw gar nicht übertrieben viel. Die Zugfahrt über Nacht lässt sich gut aushalten. Während meiner Zeit im Ausland werde ich wirklich zum Gewohnheitszugfahrer, es hat so viele Vorteile…

Schließlich natürlich das Wiedersehen mit all den anderen „Homies“. Ich kann es kaum beschreiben, es ist wieder so eine einmalige Situation. Man kennt die Leute schon seit dem ersten Seminar und kann sich jetzt endlich wieder austauschen – und genau das tun wir auch, in den ersten Stunden bewegen wir uns vor lauter Reden kaum. Es ist unheimlich angenehm. Wieder so eine komische, unglaubliche Situation: mitten in der Ukraine Leute treffen, mit denen man sich gut versteht – wie gesagt, kaumbeschreiblich.

Ich habe keine Ahnung, wieso unsere Gruppe so gut zusammenpasst, wie sie es scheinbar tut, obwohl wir so zufällig zusammengeschoben wurden, aber ich bin unheimlich froh darüber. Die Zeit zusammen ist insgesamt einfach nur schön. Teilweise zu viele Eindrücke, zu viel Stoff zum Nachdenken auf einmal, aber am Ende eine rundherum tolle Woche.Unsere Gruppe am ersten Abend, ein Schnappschuss beim Kirschlikör. Fehlend: Ira Z.

Was man an unserer Gruppe allerdings bemängeln muss: die wortwörtlich fehlenden Rückblicke. Innerhalb der wenigen Tage prescht ein Teil unserer Gruppe einige Male schon vorwärts, während ein kleinerer Teil von uns orientierungslos zurückbleibt. Die Abstimmung untereinander lässt da doch immer wieder zu wünschen übrig. (Foto unten: zwei traurige abgehängte Jungs)

Links ich, rechts Björn (Moldau)

Der Aufenthalt sorgt nebenbei für die größtmögliche Sprachverwirrung. Russisch sollte man nicht sprechen, dafür geht Englisch plötzlich. Ein paar Wörter Ukrainisch schaden auch nicht, während die Moldauer etwas Russisch zu ihrem üblichen Rumänisch hinzufügen. Ukrainisch ist übrigens recht nah an Belarussisch, wie mir an einigen Details auffällt. Dazu kommen lateinische Inschriften und Ähnliches. Außerdem: die Ukrainer in russischsprachigen Gebieten lernen dialektgefärbtes Russisch, das sich in der Aussprache von unserem Russisch unterscheidet (und deswegen ungewollt völlig falsch klingt, sorry Marlene).

Iwano-Frankiwsk

Iwano-Frankiwsk (Foto: Leo Maier)

Eines der größten Themen des Seminars ist der unerwartet große Unterschied zwischen Belarus und der Ukraine, der uns Belarussen sehr schnell bewusst wird, soll heißen, schon kurz nach der Ankunft in Lwiw. Die Stadt ist voll – vollkommen, völlig voll – mit historischen Gebäuden und Plätzen, es gibt Touristen und die Menschen sprechen Englisch. Sowohl Ausländer wie auch Personen mit eher auffälligem Aussehen (Männer mit langen Haaren, Dunkelhäutige usw.) sind häufig anzutreffen, das Stadtzentrum ist eng und verkehrstechnisch eine kleine Katastrophe, an Wänden hängen Wahlplakate, den Boden bedeckt ein Kopfsteinpflaster. Alle diese Einzelheiten um uns herum zeigen uns schon, wie groß der Unterschied zu Belarus tatsächlich ist. (Ich fühle mich eher an Prag erinnert.)

In Lwiw (Fotos: Leo Maier)

Natürlich werden diese Beobachtungen von uns humoristisch aufbereitet.

Wir „Belarussen“ propagieren während unseres Aufenthalts durchgängig unsere Gegendarstellung: die Ukraine versinkt in Desorganisation bis zur Anarchie, während in Belarus die Welt noch in Ordnung ist, mit breiten, sauberen Straßen, strengen Verkehrsregeln und überwiegend leeren Plätzen. Zuletzt wird sogar der Begriff „präparadiesisches Belarus“ zum running gag. (So ein Seminar wird auch durch den vielen Blödsinn angenehm, ich streite es gar nicht erst ab.)

Die Seminareinheiten selbst finden in einem ehemaligen Fabrikgelände statt, welches zurzeit von unterschiedlichen Unternehmen und Organisationen neu hergerichtet wird, eine modern-innovative Umgebung, die wir sehr genießen. Petra, unsere Seminarleiterin, führt uns durch unterschiedliche Übungen, Lerneinheiten und Themen, während sie sich immer wieder wundert, wie diskussionsfreudig und eingespielt unsere Gruppe ist. An einem Nachmittag haben wir eine Stadtführung durch Iwano-Frankiwsk, an einem anderen ein Gespräch mit einer Vertreterin der Zivilgesellschaft, für Programm ist also gesorgt. Dabei wird mein und unser Blick auf die Region unheimlich geweitet. Schon jetzt sehe ich den Ukraine-Konflikt mit ganz anderen Augen. Von außen können wir die Lage kaum begreifen, kaum verstehen, was alles daran hängt. Wie durch den Krieg im OSten, um nur kleine Beispiele zu nennen, die Binnenflüchtlinge von dort im Westen Innovation, Wirtschaft und Aktivismus voranbringen, oder wie die verwendete Sprache (Russisch/Ukrainisch) in der Ukraine vollkommen politisch geworden ist.

Überraschend ist auch die Offenheit unserer neuen Bekannten. Sie gibt ohne Zögern zu, dass die gesamte Politik in der Ukraine korrupt ist – aber das ist eben so. „Wir erwarten von unserem Präsidenten, dass er nichts macht, die Leute regeln das schon untereinander“, sagt sie, eine Einstellung, die mich völlig verblüfft. Dazu Sprüche wie „Die Ukrainer sind ziemlich gut in Revolutionen – wann muss man auf die Straße, wann muss man verschwinden, wie kocht man draußen am besten Borschtsch usw. – nur nicht in dem, was danach kommt“.

Dadurch lernen wir auch Belarus besser zu verstehen, indem jemand, der sich auskennt, unsere subjektiven Eindrücke bestätigt. A) Belarus ist viel zu ordentlich und starr, B) Belarus ist wie ein Land der Vergangenheit. Beide völlig subjektiven Eindrücke lassen sich recht gut nachvollziehen, wenn man unser Einsatzland mit der zwar völlig korrupten und krisengeschüttelten, aber lebendigen Ukraine vergleicht. Erst aus der Ferne erkennt man die eher starren, geplanten Strukturen so richtig.Platten gibt es natürlich trotzdem noch

Während der Woche tauschen wir uns über alles Mögliche aus und gehen mit vielen neuen Eindrücken, Ideen und Überlegungen zurück in die Einsatzstellen. Ich genieße den Schritt zurück aus der Einsatzstelle sehr, die Zeit, in der man über seine Lage und sein FSJ reflektieren kann. Dadurch hat mir das ZWS sehr geholfen.

Am letzten Tag besuchen wir in Lwiw den alten Friedhof, auf dem die Geschichte uns wieder einmal voll erwischt. Man findet polnische, ukrainische, russische Gräber genauso wie einige deutsche und in min. einem Fall französische. Im Eingangsbereich ist ein besonderer Gedenkbereich für die Gefallenen des aktuellen Krieges und für andere Helden der Ukraine. Die aktuelle Politik fühlt sich sehr nah an.

An diesem Ewigkeitssonntag denke ich sehr an meine, unsere Kirchengemeinde. Ich wünsche euch allen alles Gute an diesem besonderen, dunklen Tag und denke an euch.

Bevor ich über Weihnachten nach Deutschland komme, werde ich vermutlich noch viel unterwegs sein. Doch durch das Seminar bin ich insgesamt beruhigt worden und stehe den neuen Aufgaben ruhig gegenüber.

Zuletzt das Wetter: gerade am Morgen sind es -1° bei bewölktem Himmel. Die Temperaturen werden am Tag vermutlich nur wenig steigen, für den Rest der Woche ist noch stärkerer Frost vorhergesagt.

Всё.

Всего хорошего и до свидания!

Jonathan

P.S.: Hier noch die Links zu Mitfreiwilligen, die ebenfalls beim Seminar waren:

https://kulturweit.blog/fernwehstillerukraine/

https://kulturweit.blog/izmail181/

https://kulturweit.blog/irainkiew/

Es wird ernst(er) – Der Vorseminarschnee

Orscha, 17. November 2018. – Passend zum neu gelernten Satz „наступила долгожданная зима“ (ein langerwarteter Winter ist angebrochen) beginnt in Orscha der Winter: am Dienstag hat es das erste Mal so richtig geschneit, der Restschnee liegt bis jetzt noch. Die Temperaturen schwanken um null Grad, soll heißen, am Morgen Minusgrade (gerade sind es -8°!) und am Nachmittag dann wärmer, bis zu 4°C, so war es gestern.  Bei den anderen Freiwilligen gab es übrigens keinen Schnee, Orscha ist da schon etwas Besonderes.

Sehr bald ist auch schon die Hälfte des Freiwilligendienstes erreicht – überrascht mich gar nicht so sehr, da die Zeit unheimlich gefüllt war – weshalb es für uns Freiwillige aus der ehemaligen Homezone 18 (Gruppe Belarus, Ukraine, Moldau) auf unser Zwischenseminar in Iwano-Frankowsk (Ukraine) geht. Morgen steht uns die lange, anstrengende Anreise per Zug bevor, doch das Seminar wird hoffentlich entspannt und vor allem gesellig… es muss eine ganz besondere Atmosphäre sein, es ist toll, dass wir eine ganze Woche zusammen verbringen können. Und auch ein bisschen Ruhe vor den Terminen der nächsten Zeit, wenn wir einmal angekommen sind.

Und noch mal eine Beobachtung aus dem Deutschunterricht: der Freitag war interessanter als die Freitage davor, aber mir ist vor allem wieder aufgefallen, wie viel unnötiges Zeug die Schüler lernen müssen. Meine Aufgabe ist häufig, Hausaufgaben abzufragen, denn diese bestehen oft aus Auswendiglernen. Am Freitag musste z.B. Klasse 8 die im Deutschbuch abgedruckten Musikstile aufsagen.

25 Musikstile. Ohne Erklärung, ohne Erzählen. 25 (!) Wörter aufsagen, von denen die meisten auf Englisch sind, und von denen ich einige noch nie gehört habe (Dancehall? Break n Beat?). Der Lerneffekt dieser Hausaufgabe ist de facto 0, aber niemand stellt sie in Frage.

Dazu tolle Lesetexte im Buch, die entweder „Jugendliche“ mit Namen wie Ronald oder Torsten zu Wort kommen lassen, oder vor deutscher ausländischer Kulturpolitik nur so triefen („Deutschlands Ruf als bedeutende Musiknation ist für immer mit den Namen von Bach, Beethoven, Brahms, Händel, Wagner verbunden„).

Das ist nur ein Beispiel, und das ist auch nur der inhaltliche Teil. Über die Grammatik will ich gar nicht reden.

Irgendwie bin ich noch gut durch den Rest der Woche gekommen, indem es an Terminen und Ähnlichem nicht gemangelt hat. Aber dazu kamen immer wieder auch angenehme Stunden, über die ich mich freuen konnte, teilweise in der Schulzeit, teilweise außerhalb.

Allerdings auch sehr viel Stoff zum Nachdenken. Seit einem langen Gespräch gestern sehe ich Belarus noch einmal anders und verstehe Vieles vielleicht besser. Und es sieht nicht gut für das Land und die Leute aus, eher traurig.

An dieser Stelle werde ich nicht viel mehr schreiben. Ich hoffe auf eine gute Anreise in die Ukraine und melde mich von dort aus hoffentlich wieder.

До свидания и всего хорошего,

Jonathan

 

Das Wsjo-Paka-Prinzip

Orscha, 13. November 2018. – Heute wieder ein neuer Beitrag aus der Stadt, in der es schon längst hätte schneien sollen, mit einem Rückblick auf die letzten Tage und Beobachtungen aus meiner Zeit hier im Osten.

Von Donnerstagabend bis Sonntagnachmittag bin ich in Minsk, wo das PASCH-Theaterfestival stattfindet. Da in diesem Jahr die Initiative PASCH: Schulen – Partner der Zukunft (immer noch kein guter Name) ihren zehnjährigen Geburtstag feiert, ist der Aufwand besonders groß. Die Schulen mit ihren Theatergruppen mussten sich zuerst bewerben, um teilnehmen zu dürfen und in den Genuss unterschiedlicher Theater-Workshops zu kommen. (Das Bewerbungsverfahren dient vermutlich nur dem Zweck, zu verhindern, dass absolut jeder teilnehmen kann, wie in den letzten Jahren.) Ich selbst bin aber in keinem der Workshops anwesend, da wir Freiwilligen die meiste Zeit hinter den Kulissen aktiv sind. Soll heißen, wir bereiten die Kaffeepausen vor, tragen Zeugs hin und her, kümmern uns um die Mülltrennung (also die Trennung des Mülls vom restlichen Zeugs, weiter geht man hier nicht) und essen vor allem Kekse.

Viele Kekse.

Am Freitagabend können wir noch eine „echte“ Theateraufführung besuchen. Das Stück mit dem deutschen Namen „Aufzug“ ist allerdings auf Belarussisch – in der Sprache also, die hier kaum jemand freiwillig spricht, die aber in der Kultur einen großen Stellenwert zu haben scheint. Ich höre den Unterschied zu Russisch fast nur an einigen belarussischen Wörtern, die ich kenne – der Rest könnte auch Russisch sein, obwohl es auf Russisch vielleicht einfacher zu verstehen wäre. Wie auch immer, die Handlung ist zwar grob verständlich, die langen Dialoge allerdings kaum bis gar nicht.

Das Highlight am Samstagabend ist natürlich die Aufführung der Theatergruppen. Wieder sind wir hinter den Kulissen aktiv, aber auch von dort ist es sehr eindrucksvoll. Alle Gruppen haben etwas ganz Eigenes vorbereitet, und auch der Beitrag aus Orscha kommt gut an. Vor allem sind wir alle mit unseren Schauspielerinnen (unten) sehr zufrieden. Die Mischung aus drei älteren (Klasse 10) und zwei jüngeren Mädchen (Klasse 4) ist gewissermaßen ideal, ich kann es kaum richtig beschreiben und bin beeindruckt, wie gut alle ihre Rollen ausgefüllt haben. Die kleinen waren während des Wochenendes fast durchgängig von allem begeistert – Zitat Irina: „Sie haben nix verstanden, aber fanden alles toll.“ Der volle Erfolg unseres „Debüts“ liegt vor allem an unseren Schauspielerinnen, keine Frage.

Die beiden Mädchen aus Klasse 4 spielen im Stück zwei Freundinnen…

…und die großen Zehntklässlerinnen deren Mütter und die Kellnerin

Der Fairness halber muss man aber sagen, dass die Gastgruppe aus Litauen mit Abstand am besten war. Die Litauer haben die Belarussen deutlich in den Schatten gestellt, werden das nächste Mal also wahrscheinlich nicht mehr über die Grenze gelassen.

Nach noch ein bisschen Zeit in Minsk komme ich wieder zurück nach Orscha. Ich weiß immer noch nicht, ob mir Minsk gefällt, um ehrlich zu sein, ich kenne die Stadt wenig. Und ich weiß auch nicht, ob mir das Leben in so einer Metropole gefallen würde. Es gibt natürlich Vor- und Nachteile, ich kann sie einfach nicht abwägen. Orscha ist bereits groß im Vergleich zu Gießen, das merke ich, aber hier komme ich soweit gut klar. Wie es in einer Millionenstadt wäre – keine Ahnung.

Es ist seltsam, wie ich manchmal sehr viel und manchmal kaum etwas zu tun habe, was meine Arbeit angeht. Für diese Woche sind relativ plötzlich drei neue Episoden meiner Powerpoint-Präsentationsserie (PPPS) dazugekommen, dazu noch einige der Dinge, die ich weiter aufschiebe oder zu lange aufgeschoben habe. Es gibt viel zu organisieren für die nächsten Wochen, während die Zeit hier sehr schnell zu vergehen scheint. Am kommenden Montag beginnt schon das halbzeitige Zwischenseminar und ich plane bereits bis weit danach (muss ich auch), was mir gewissen Stress macht.

Noch ein paar kurze Beobachtungen direkt von heute.

–Immer häufiger werde ich in der Schule für andere Aufgaben als im Unterricht eingesetzt – zum Beispiel Texte formulieren. Irina überlässt es gerne mir, die Texte „красиво“ (schön) zu gestalten, was mir auch wirklich Spaß macht. Wenn Irina dadurch beim Goethe-Institut Pluspunkte sammelt, haben alle etwas davon. Und ich schreibe recht gerne, wie man auch in meinem Blog sieht… Außerdem kommen vielleicht Musikprojekte, wir werden es noch sehen.

–Es ist auffällig, wie sehr die starken Schüler hier gefördert werden. Die Deutschlehrer nehmen sich viel Zeit für die starken Deutschschüler (de facto nur Mädchen, natürlich). Diese bekommen viele Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln, und nutzen das auch. Ich kann nicht sagen, ob das in anderen Fächern auch so ist; ich kenne nur den Deutschunterricht, und hier fällt es mir auf.

–Heute Morgen durfte ich Klasse 10 das deutsche Schulsystem präsentieren, was für die Schüler ziemlich interessant war. Vom Föderalismus über die Notengebung bis zu den Abschlussprüfungen, alles ist in Deutschland ganz anders als in Belarus. Wahrscheinlich waren die SuS nach dieser Stunde gründlich verwirrt bzw. konstruktiv irritiert.

–Für Klasse 4 habe ich einen Übungstext geschrieben und dort mit den Sätzen „Um 8 Uhr habe ich Belarussisch. Das ist doof. Belarussisch ist nicht mein Lieblingsfach.“ genau den Nerv der Klasse getroffen. Yay)

Am Ende sollte ich noch den Titel dieses Beitrags erklären. Es geht um etwas, das mir schon vor längerer Zeit aufgefallen ist: ich nenne es das wsjo-paká-Prinzip (russ. всё пока). Hier sieht man nämlich einen tatsächlichen kulturellen Unterschied, wenn man das so bezeichnen will: auf Russisch ist es vollkommen legitim, ein Gespräch ausschließlich mit den Worten „Alles. Tschüss.“ zu beenden, wobei „alles“ (всё) im Sinne von „das wars, das war alles“ gemeint ist. Man hört es ständig, wenn Leute in der Öffentlichkeit telefonieren, wahlweise auch als „всё, давай“. Im Restaurant fragen die Kellner nicht „Darf es noch etwas sein?“ sondern nur „всё?“ usw. usf. In vielen Situationen kann man hier sehr viel weniger Wörter verwenden, ohne unhöflich zu wirken – in den meisten Alltagssituationen muss man kaum oder gar nicht reden. Es gilt, wie fast immer in Belarus: wenn man sich ein bisschen auskennt, ist es kinderleicht, und wenn man sich gar nicht auskennt, hat man ein Problem.

Sich zu verabschieden dauert auf Russisch in der Regel jedenfalls maximal 1,5 Sekunden, Abschiedsworte sind meistens nicht erwünscht oder sogar unangemessen. Meiner Erfahrung nach zumindest. Das ist ein relativ grundsätzlicher Unterschied zu Deutschland, wo man am Telefon kaum so schnell fertig werden wird, ohne unhöflich zu sein.

Wie mir das gefällt, weiß ich noch nicht, es hat aber auch jeden Fall seinen Reiz.

Zuletzt das Wetter: 0 bis 1°C, kalt aber trocken. Angeblich schneit es morgen. Посмотрим.

Всё. До свидания!

Jonathan

Zwei Städte, ordentlich Stress und reichlich Nebel

Orscha, 07. November 2018. – Der Tag der Oktoberrevolution heute beginnt mit dem üblichen Nebel, der sich von den Flüssen aus über ganz Orscha verbreitet. Es ist ein vergleichsweise entspannter Tag nach ordentlich Stress, der auch noch nicht ganz vorbei ist.

Aber eins nach dem anderen.

Nach sehr ruhigen Ferientagen beginnt am Freitag unser Ausflug in den Norden, nach Witebsk und Polozk. „Wir“ sind die Freiwilligen des GI, also Sophia, Denise, Linus und ich (der fünfte kulturweit-Freiwillige, Leo, ist beim PAD/ZfA). Ich empfange Denise und Sophia am Freitagabend in Orscha und sie übernachten bei mir, die Wohnung ist ja groß genug.

In Witebsk treffen wir am Samstag erst Linus und dann die Studenten, die uns durch die Stadt führen sollen. Witebsk ist die viertgrößte Stadt in Belarus und gilt als Kulturmetropole; die Hauptstadt der Oblast ist auch eine Universitätsstadt und der Geburtsort von Marc Chagall. Die Studenten, mit denen wir uns treffen, haben eigentlich überhaupt keinen Bezug zu uns, aber da Irina das Treffen so arrangiert hat, nehmen wir das so hin.

Die Stadt ist an diesem Samstag völlig in Nebel getaucht, wie man auf den Fotos sehen kann. Bis es anfängt zu regnen, macht das den Ausflug aber nur noch eindrucksvoller. In Witebsk steht die schönste orthodoxe Kirche, die ich bisher gesehen habe, und die großen Plätze, Brücken und Gebäude sind auch bei Nebel oder Dunkelheit sehr beeindruckend.

Erst viel später können wir die Farbe erkennen

Der Siegesplatz in mysteriöser Atmosphäre

Das Wochenende nutzen wir vier, um uns ausgiebig über alles Mögliche auszutauschen. Ich habe Denise und Sophia einen Monat lang nicht mehr gesehen, da gibt es viel zu erzählen und zu besprechen. Einerseits sehr viel Organisatorisches: das vom GI verlangte Freiwilligenprojekt, das PASCH-Festival, die Reise in die Ukraine für das Zwischenseminar und so weiter. Dazu können wir auch gut vergleichen, wie es den anderen so ergeht; und zuletzt ist es auch einfach nett, sich über all die Sachen zu unterhalten, die uns allen hier auffallen – sich wiederholende Vornamen, das Gerede unserer Ansprechpersonen über uns, (fehlende) Hobbies in Belarus, was auch immer.

Mit dem folgenden Ergebnis, wie Denise es ausgedrückt hat: „Unser Wochenende besteht in großen Teilen daraus, das wir uns irgendwo hinsetzen und reden.“

Als wir in Witebsk in einem Restaurant genau das tun, spricht uns eine Gruppe Russen aus Moskau an und unterhält sich mit uns – eine sehr witzige Situation, vor allem, weil wir sie am nächsten Tag in Polozk noch einmal treffen. Völlig zufällig, aber sehr amüsant.

Wie geplant besuchen wir in Polozk das Orgelkonzert. Ich bin ziemlich beeindruckt von der Gast-Organistin aus Japan, was die anderen scheinbar weniger teilen, aber sie hätten ja auch nicht mitkommen müssen.

(Schon traurig, wie fast alle Konzertbesucher zwischen Fantasie und Fuge anfangen zu klatschen. Was für Idioten, sorry.)

Da ist sie

Wiederum werden wir von Studenten empfangen – diesmal hat Linus über Ecken etwas arrangiert – die uns die Stadt Polozk zeigen und mit uns ein paar Stunden verbringen. Wieder nutzen wir das Englisch-Deutsch-Russisch-Gemisch, wie schon in Baranowitschi, was soweit gut funktioniert. Polozk hält sich für das geographische Zentrum Europas und hat sich dafür ein Denkmal gesetzt. Dieses liegt mitten in einer langen, langen Park-Straße (schwer zu erklären), in der auch das Foto unten entstanden ist. Polozk ist wirklich eine nette Stadt, sie gefällt mir sehr.

Um genau zu sein: den russischen Teil nutzen die anderen Freiwilligen nicht. Wie ich an diesem Wochenende erfahre, haben Denise und Sophia noch nicht angefangen, Russisch zu lernen. Natürlich gibt es Gründe dafür, und es ist letztendlich ihre Sache – aber ich könnte das einfach nicht, und ich kann die beiden in dieser Hinsicht nicht verstehen.

Gerade in Sluzk (Denise) sind die Dinge scheinbar sehr kompliziert, da kann ich wohl froh sein, dass es bei mir so gut läuft.

Unsere Freiwilligengruppe gibt mir viel zu denken, wenn ich ehrlich bin. Man sieht jetzt schon, wie sich ganz klar eine Gruppendynamik entwickelt, und diese wird vermutlich so bestehen bleiben. Ganz interessant ist es auch, ein Jahr zurückzuschauen: der vorherige Jahrgang war eine vieeel größere Gruppe, die Situation bei ihnen war ganz anders. Und dieses Jahr werden ab März nur noch drei Freiwillige in Belarus sein…

Auf der Rückfahrt am Montag schwirrt mir dementsprechend viel zu viel im Kopf herum. Zu all den Eindrücken aus dem Wochenende kommt weiterer Stress: mein Laptop hat zwischendurch aufgehört zu funktionieren, die kommenden Reisen sind noch nicht organisiert, ich muss noch Dokumente einreichen und mich um die Aufenthaltsgenehmigung kümmern.

Die временное проживанние ist ohnehin ein Thema für sich.

Vor diesem Termin am Dienstag hatte ich den meisten Stress überhaupt. Ich sollte alleine zur Migrationsbehörde, ohne Irina, und dort alles Nötige klären.

Um es vorwegzunehmen: ich habe alles falsch gemacht, aber es hat am Ende geklappt.

Am Dienstag Mittag bezahle ich noch die entsprechende Rechnung. Habe ich zumindest vor. Die Dame am Schalter der Belarusbank (natürlich eine staatliche Bank, was denkt ihr denn) ist zwar freundlich und zuvorkommend, aber das ändert nichts daran, dass sie mich die falsche Rechnung bezahlen lässt. Ich hetze noch zur Belgazprombank und besorge dort die richtige Quittung – super, fast achtzig Euro ausgegeben. An der Behörde erfahre ich, dass das Amt eigentlich schon geschlossen hat, und dass meine Dokumente noch nicht fertig sind. Ich wirke aber anscheinend verwirrt genug, dass sich eine Polizistin noch um mich kümmert und alles fertig macht. Damit reicht die Zeit auch gerade noch, dass ich am Tag vor der Ausreise in die Ukraine alle Dokumente bekomme, die ich brauche, um nach dem Seminar wieder einreisen zu dürfen. Puh.

Was für ein Stress.

Der Laptop läuft übrigens wieder, noch eine gute Nachricht.

Und so ist der Tag der Oktoberrevolution heute vergleichsweise entspannt, auch wenn der Stress noch nicht vorbei ist. Gestern habe ich eine Anfrage bekommen, ob ich an Weihnachten nicht einen Organistendienst übernehmen könnte, oder mehrere. Die Zeit vergeht sehr schnell und in meiner Vorstellung ist der Halbjahresrest meines FSJs schon sehr voll.

In den letzten Tagen ging es mir nicht gerade super, jetzt schaue ich, wie es weitergeht.

Zuletzt das Wetter: gerade fünf Grad plus bei Nebel, mehr als acht werden es wohl nicht.

До свидания и всего хорошего!

Jonathan