Archiv für den Monat: Mai 2019

Mi hogar.

Ich sitze an meinem Schreibtisch unterhalb der mehr schlecht als recht schließenden Fenster meines Zimmers. Ich blicke Richtung Süden, wo die Strahlen der abendlichen Herbstsonne auf die Berge der Zona Sur fallen. Lange hat es nicht geregnet, ungewohnt nach der langen Regenzeit der letzten Monate. Inzwischen ist die blaue Stunde, also um 18 Uhr herum, kurz vor Sonnenuntergang, meistens klar und lau, wird nicht mehr von bedrohlichen Gewitterwolken verdunkelt. Wie oft haben mich diese Regen verheißenden Gebilde veranlasst, so schnell wie möglich meine noch leicht feuchte Wäsche vom Garten auf das Treppengeländer im Haus zu verlagern, sicher vor einer zweiten Wäsche durch sintflutartige Regenfälle.

Dieser Blick erfüllt mich immer wieder mit einem warmen Gefühl. Wie froh ich bin, dieses Haus gefunden zu haben, meinen Ort, mi hogar. Seit nunmehr drei Monaten lebe ich hier. Mit dem Umzug aus der Zone Norte, einem der reichsten Teile der Stadt, hierher, ans Cruce Taquina, einen der belebtesten Kreisverkehre der Stadt, hat sich eine der meine Zeit am positivsten beeinflußenden Veränderungen eingestellt. Vorher habe ich in einem Viertel gelebt, welches zwar als edel und sicher gilt, dessen Straßen nach 18 Uhr allerdings gähnend leer vor mir lagen. Was für ein Kontrast zu meinem jetzigen Viertel!

Die belebte Avenida Simon López, direkt vor meiner Haustür.

Und eben diese Haustür!

Dieses belebt sich schon um sechs Uhr morgens, wenn die ersten Cholitas ihre Sonnenschirme aufbauen, um darunter ihre Pyramiden von Mandarinen und Äpfeln aufzutürmen, wenn die ersten Imbisswagen, besser gesagt, mit Töpfen beladene Schubkarren, über den holprigen Asphalt rollen. Wenn die ersten Tagelöhner aus den benachbarten Vororten auf den Bordsteinen Platz nehmen, vor sich ein Schild, auf dem die angebotene Dienstleistung geschrieben steht. Nicht zu vergessen die riesigen Säcke voller Coca-Blätter, die die hart körperlich Arbeitenden über den Tag mit frischer Energie versorgen sollen.

Wir erleben hier gerade eine gnadenlose Überproduktion von Mandarinen, die zuhauf von LKWs wie diesem verkauft werden.

Diese Straße führt direkt zum nur zwei Blöcke entfernten Markt. Das weiße Haus, das ihr noch zum Teil erspähen könnt, ist gerade mein Zuhause.

Am Mittag werden dann aus beinah jedem Hauseingang, jedem Garagentor schwere Schilder gewuchtet, fast alle mit ähnlichen Aufschriften: almuerzo familiar, also Mittagessen im familiären Rahmen. Für 10 Bolivianos, also umgerechnet 1,25€, kann man sich hier mit traditionellen Tellergerichten, meist Fleisch oder Hühnchen, begleitet von Kartoffeln, Reis und Salat sowie natürlich Llajwa, einer scharfen Soße aus Locoto und Tomate, den Bauch voll schlagen. Wenn du viel Glück hast, bekommst du noch ein hausgemachtes refresco, also ein Erfrischungsgetränk mit vieeeeeel Zucker, als yapa, also gratis, dazu.

Ein Haus weiter kann ich mir jeden Mittag, wenn Zeit oder Motivation nicht zum Kochen reichen, den Bauch vollschlagen.

Nicht selten lassen mich die Namen der Gerichte nur rätseln – dann wird eben auf gut Glück bestellt!

Gegen Abend rollen dann wieder die Schubkarren über die Straßen, genauso wie die „echten“ Imbisswagen, die dann zuhauf am nur einen Häuserblock entfernten Kreisel positioniert werden. Langsam wird es kühler, es ist ein deutlicher Unterschied zu den zurückliegenden Sommermonaten erkennbar. Doch stiller wird es nicht: Fast jeden Abend gibt es Grund zu feiern, Cumbia und Reggaeton schallen aus der nahe gelegenen Markthalle oder aus Privathäusern durch das ganze Viertel, die Geräusche dringen durch die dünnen Wände bis an meine Ohren und zaubern mir ein Lächeln aufs Gesicht. Wie froh ich bin, der beklemmenden Stille, der Ausgestorbenheit meines alten Wohnorts entkommen zu sein.

Besonders ans Herz gewachsen ist mir auch dieses ganz besondere nachbarschaftliche Gefühl in Colquiri, wie mein Viertel auch heißt. Dass ich morgens immer mit den gleichen Leuten darum streiten darf, wer sich nun in das nächste, eigentlich schon überfüllte Trufi quetschen darf. Dass ich in der tienda gegenüber schon mit Umarmung durch die Tochter den Ladenbesitzerin begrüßt werde, wenn ich mal wieder in Flipflops und Jogginghose über die Straße schlappe, um mir die obligatorische Cola Zero (ja, ich bin süchtig) oder ein großes Stück eigentlich viel zu salzigen Käse zu kaufen. Dass die bestimmt schon über 80jährige Cholita an der nächsten Ecke mir es mit ihrem  herzlichen Lächeln auf ihrem bereits von tiefen Falten durchzogenen Gesicht es mir unmöglich macht, vorbeizugehen ohne 25 Mandarinen für unschlagbare vier Pesos zu kaufen. Zum Glück sind hier im Haus acht hungrige Mäuler zu stopfen. Und Mandarinen mögen wir fast alle gern.

Die tienda meines Vertrauens, genau auf der anderen Straßenseite.

Immer wieder verlasse ich nach einem langen Tag in der Schule am frühen Abend zu der von mir heißgeliebten blauen Stunde das Haus, um auf einem kurzen Spaziergang durch mein Viertel nochmal die Gedanken schweifen zu lassen. Bestimmt höre ich irgendwo Cumbia. Oder kaufe noch mehr Mandarinen!

 

El último: Erdrutsch in La Paz. – Wenn der Boden unter den Füßen nachgibt.

 

In den letzten Tagen hat vor allem dieses Thema die Medien in Bolivien beherrscht: In der Zone San Jorge/Kantutani des bolivianischen Regierungssitz La Paz kam es vor kurzem zum sechsten schwerwiegenden Erdrutsch in den letzten zwanzig Jahren. Dabei verloren mehr als 100 Familien ihre Häuser und somit einen Großteil ihrer Existenz.

Dieses Ereignis lässt sich in den Kontext vieler sich am Rande der Illegalität bewegenden Bauaktivitäten in einer der größten Städte Boliviens einordnen. Wie alle Großstädte erlebt La Paz aktuell starken Zuzug, der Wohnraum, aufgrund der Kessellage der Stadt begrenzt, wird knapper und knapper. Neue Wohnviertel entstehen entlang der Hänge, auf instabilem Grund ziehen sich neu errichtete Häuser die Hügel hinauf. Bauverbote werden von der Stadt kaum umgesetzt, obwohl die risikobelasteten Zonen bekannt sind.

Grund dafür ist unter anderem, dass in La Paz ein florierendes Geschäft mit gefälschten Baugenehmigungen betrieben wird. So versuchen die Bewohner*innen, den Bau ihres Eigenheims in Zonen, die eigentlich nicht bebaut werden dürften, zu legitimieren. Dem gegenüber erscheint die städtische Regierung bisher machtlos.

Die Konsequenzen lassen sich nur zu eindeutig feststellen: Fast einhundert Familien verloren das Dach über ihrem Kopf und damit auch fast alle ihrer Habseligkeiten. Sie wurden in einer Art Notlager untergebracht. Die Regierung versucht momentan, neue Unterkünfte für die betroffenen Familien zu beschaffen. Heute konnten die ersten Opfer der Katastrophe ihre neuen Wohnungen beziehen.

Expert*innen sind der Meinung, dass der richtige Weg, um ein erneutes Ereignis dieser Art zu vermeiden, bessere Kommunikation der sehr wohl vorhandenen Informationen über die Gefährdungslage sein sollte. Somit sollen die Familien, die in solchen risikobelasteten Gebieten ihre Häuser errichtet haben, ermutigt werden, diese aus eigene Stücken zu verlassen und in andere, sicherere Zonen umzuziehen. Hoffentlich wird sich so eine weitere Katastrophe vermeiden lassen.

Hier ein bissiger Kommentar aus den sozialen Netzwerken: Die Casa del Pueblo, der unter Evo neu errichtete Präsidentenpalast, in Kontrast zur vorläufigen Unterbringung der betroffenen Familien.

Hier noch der Link zu einem, Artikel einer Tageszeitung aus La Paz, Teil dessen ist eine Karte, die die Zonen mit hohem Risiko für Erdrutsche illustriert – damit ihr euch das besser vorstellen könnt! (https://www.paginasiete.bo/sociedad/2019/5/14/cuales-son-las-36-zonas-de-alto-riesgo-en-la-paz-217994.html?fbclid=IwAR3G6mljKL8UWYJ3hdUGxSr1ELuWe2vd4CYCKudyyFQgKxoJX67yf9tQgdY)

Der Tanz im März.

Wie sagt man doch so schön: Besser spät als nie! Meine Vorliebe für abgedroschene Kalendersprüche zahlt sich hier einmal mehr aus und hilft mir, diesen doch recht verspäteten Eintrag über den bolivianischen Karneval auf gebührende Art und Weise einzuleiten.

Dass im Ausland so wenig über den bolivianischen Karneval, die bolivianische Folklore allgemein bekannt ist, lässt mich nach sieben Monaten hier nur Staunen. Denn kaum etwas erscheint mir für die Kultur dieses Landes so charakteristisch wie seine Umzüge; auf keiner der zahlreichen Feiern dürfen die traditionellen Tänze fehlen. Die Begeisterung für diese zieht sich durch alle Altersgruppen: Die jüngsten Mitglieder der Tanzgruppen können sich meist geradeso auf den Beinen halten, werden also in den wahrscheinlich schon von ihren Eltern praktizierten Tanz quasi hineingeboren. Und zum Karneval im Mai jedes Jahres werden sogar diejenigen wieder aktiv, die das Tanzen eigentlich aus Altersgründen längst an den Nagel gerissen haben.

Getanzt werden viele verschiedene Tänze, ich werde versuchen euch von einigen, über die ich inzwischen wenigstens das Grundlegende zu wissen glaube, ein Bild mit Worten zu malen:

Zunächst einmal natürlich der Tanz, dem ich mich hier verschrieben habe: Tinku, oder auch Tinkus, stammt aus dem Landesteil Potosí. Zu unterscheiden gilt es hier zwischen zwei Dingen: Erst einmal zu dem seit langer Zeit zu Ehren Pachamamas praktizierten Kampfritual Tinku. Jedes Jahr im Mai treffen im Norden Potosís Kämpfer verschiedener indigener Gemeinden aufeinander. Unter Einfluss von Alkohol wird solange gekämpft bis Blut fließt, welches dann das Opfer an Mutter Erde darstellt. Den gleichen Namen trägt auch der Tanz, den ich hier seit inzwischen einem halben Jahr übe. Entsprechend kämpferisch muten auch die ausgeführten Bewegungen an, begleitet von lauthalsen Rufen auf Quechua.

Ich habe mich damals dafür entschieden Tinku zu tanzen, weil mir die Bewegungsabläufe komplexer und interessanter erschienen als bei einigen andern Tänzen. Inzwischen habe ich festgestellt, dass keinem der folkloristischen Tänze hier seine Komplexität abgesprochen werden kann, oh nein, beim Salay zum Beispiel, sehr vereinfacht beschrieben einer Art Stepptanz, verknoten sich mir regelmäßig die Beine…

Auch gefiel mir gut, dass die Frauenschritte beim Tinku wenig geziert, sondern sehr kraftvoll, eben kämpferisch anmuten. Ebenfalls kommt mir gelegen, dass das Tinku-Kostüm, unsere „traje“, mit einem sehr langen Kleid für mich, mit meinen 1,85m, um einiges besser geeignet ist als zum Beispiel die kurzen Röcken der Caporales-Tänzerinnen.

Wo wir dann gleich am richtigen Punkt angelangt wären, um elegant zu einem weiteren Tanz, dem Caporales, hinüberzuleiten. Dieser entstand im vergangenen Jahrhundert im Landesteil La Paz. Bezug genommen wird auf die Epoche der Kolonialgeschichte, in der die spanischen Invasoren afrikanische Sklav*innen nach Bolivien brachten, um so noch effektiver Bodenschätze abbauen zu können.

Die Männer tanzen große, dynamische Schritte und stecken dabei in Stiefeln, die mit zahlreichen Glöckchen versehen sind. In einer Hand halten sie einen breitkrempigen Hut, mit dem sie raumgreifende Bewegungen ausführen. Porträtiert werden so Vorarbeiter, die untergebene Sklav*innen zur Arbeit antreiben. Das Glockenklingeln soll hierbei an das Klirren der Ketten der Ausgebeuteten erinnern.

Die Bewegungen der Frauen hingegen sind kleiner, graziler und haben keinen so eindeutig erkennbaren historischen Bezug.

Ein interessantes Detail: Sämtliche Kostüme sind über und über mit Pailetten bestickt. Manchmal sind sogar kleine LED-Lämpchen auf ihnen angebracht. Warum? Nun, das kann ich mir auch nicht genau erklären.

Keinesfalls unerwähnt lassen möchte ich außerdem die Diablada, einen Tanz aus Oruro, der Stadt Boliviens, in der der Karneval am größten und traditionsreichten begangen wird. Dieser Tanz ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Feuerwerk für die Sinne, er besitzt eine unglaublich detaillierte Choreographie, verschiedenste Charaktere und die diversesten Kostüme.

Dargestellt wird, grob gefasst, der Sieg des Guten über das Böse, genauer gesagt besiegt der Erzengel Michael den Teufel. Teilnehmen tun noch eine Reihe weitere Figuren, die zum Beispiel sieben Sünden oder sieben Tugenden darstellen sollen.

Die Aufführung einer Diablada, die einem Theaterstück an Materialaufwand und Länge gleichkommen kann, wird manchmal durch besondere Effekte in Form von Feuerwerk begleitet. Atemberaubend!

Der Vollständigkeit halber folgen hier noch die Namen einiger anderer Tänze: Salay, Saya Afroboliviana, Cueca, Morenada, Tobas, Phulljay… Die Liste ließe sich um ein Leichtes fortsetzen!

Die Karnevalszeit erschien mir als bisher größte und längste Festivität während meines Aufenthaltes hier. Fast jede Stadt, jedes Dorf hat seinen eigenen Umzug, der ganze März steht im Zeichen des Karnevals. Am größten wird dieser wie gesagt in der Bergbaustadt Oruro begangen, aus der auch die Diablada stammt. Ebenfalls große Umzüge gibt es in La Paz, Cochabamba, Tarija und Santa Cruz. Hier lässt sich interessanterweise feststellen, dass die Umzüge sich mindestens genauso stark unterscheiden wie die Regionen an sich. Wie so oft zeigen sich eindeutige Unterschiede zwischen dem Karneval des Occidente, also den westlichen Landesteilen, und dem des Oriente, also zum Beispiel dem in Santa Cruz. Ich habe mir sagen lassen, dass die Feier dort dem Karneval in Rio zu ähneln scheint. Ganz im Gegensatz zu beispielweise der in Oruro.

Mich hat dieser Monat, der mir wie ein langanhaltender Ausnahmezustand vorkam, umso eindrücklicher davon überzeugt, was für einen hohen Stellenwert die bolivianische Folklore auch innerhalb der modernen Gesellschaft noch einnimmt. Ich lege euch ans Herz, euch selbst von der Eindrücklichkeit dieser Feierlichkeiten zu überzeugen, es gibt zahlreiche Videos zu sehen!