Archiv des Autors: Anna Ganzleben

Mi hogar.

Ich sitze an meinem Schreibtisch unterhalb der mehr schlecht als recht schließenden Fenster meines Zimmers. Ich blicke Richtung Süden, wo die Strahlen der abendlichen Herbstsonne auf die Berge der Zona Sur fallen. Lange hat es nicht geregnet, ungewohnt nach der langen Regenzeit der letzten Monate. Inzwischen ist die blaue Stunde, also um 18 Uhr herum, kurz vor Sonnenuntergang, meistens klar und lau, wird nicht mehr von bedrohlichen Gewitterwolken verdunkelt. Wie oft haben mich diese Regen verheißenden Gebilde veranlasst, so schnell wie möglich meine noch leicht feuchte Wäsche vom Garten auf das Treppengeländer im Haus zu verlagern, sicher vor einer zweiten Wäsche durch sintflutartige Regenfälle.

Dieser Blick erfüllt mich immer wieder mit einem warmen Gefühl. Wie froh ich bin, dieses Haus gefunden zu haben, meinen Ort, mi hogar. Seit nunmehr drei Monaten lebe ich hier. Mit dem Umzug aus der Zone Norte, einem der reichsten Teile der Stadt, hierher, ans Cruce Taquina, einen der belebtesten Kreisverkehre der Stadt, hat sich eine der meine Zeit am positivsten beeinflußenden Veränderungen eingestellt. Vorher habe ich in einem Viertel gelebt, welches zwar als edel und sicher gilt, dessen Straßen nach 18 Uhr allerdings gähnend leer vor mir lagen. Was für ein Kontrast zu meinem jetzigen Viertel!

Die belebte Avenida Simon López, direkt vor meiner Haustür.

Und eben diese Haustür!

Dieses belebt sich schon um sechs Uhr morgens, wenn die ersten Cholitas ihre Sonnenschirme aufbauen, um darunter ihre Pyramiden von Mandarinen und Äpfeln aufzutürmen, wenn die ersten Imbisswagen, besser gesagt, mit Töpfen beladene Schubkarren, über den holprigen Asphalt rollen. Wenn die ersten Tagelöhner aus den benachbarten Vororten auf den Bordsteinen Platz nehmen, vor sich ein Schild, auf dem die angebotene Dienstleistung geschrieben steht. Nicht zu vergessen die riesigen Säcke voller Coca-Blätter, die die hart körperlich Arbeitenden über den Tag mit frischer Energie versorgen sollen.

Wir erleben hier gerade eine gnadenlose Überproduktion von Mandarinen, die zuhauf von LKWs wie diesem verkauft werden.

Diese Straße führt direkt zum nur zwei Blöcke entfernten Markt. Das weiße Haus, das ihr noch zum Teil erspähen könnt, ist gerade mein Zuhause.

Am Mittag werden dann aus beinah jedem Hauseingang, jedem Garagentor schwere Schilder gewuchtet, fast alle mit ähnlichen Aufschriften: almuerzo familiar, also Mittagessen im familiären Rahmen. Für 10 Bolivianos, also umgerechnet 1,25€, kann man sich hier mit traditionellen Tellergerichten, meist Fleisch oder Hühnchen, begleitet von Kartoffeln, Reis und Salat sowie natürlich Llajwa, einer scharfen Soße aus Locoto und Tomate, den Bauch voll schlagen. Wenn du viel Glück hast, bekommst du noch ein hausgemachtes refresco, also ein Erfrischungsgetränk mit vieeeeeel Zucker, als yapa, also gratis, dazu.

Ein Haus weiter kann ich mir jeden Mittag, wenn Zeit oder Motivation nicht zum Kochen reichen, den Bauch vollschlagen.

Nicht selten lassen mich die Namen der Gerichte nur rätseln – dann wird eben auf gut Glück bestellt!

Gegen Abend rollen dann wieder die Schubkarren über die Straßen, genauso wie die „echten“ Imbisswagen, die dann zuhauf am nur einen Häuserblock entfernten Kreisel positioniert werden. Langsam wird es kühler, es ist ein deutlicher Unterschied zu den zurückliegenden Sommermonaten erkennbar. Doch stiller wird es nicht: Fast jeden Abend gibt es Grund zu feiern, Cumbia und Reggaeton schallen aus der nahe gelegenen Markthalle oder aus Privathäusern durch das ganze Viertel, die Geräusche dringen durch die dünnen Wände bis an meine Ohren und zaubern mir ein Lächeln aufs Gesicht. Wie froh ich bin, der beklemmenden Stille, der Ausgestorbenheit meines alten Wohnorts entkommen zu sein.

Besonders ans Herz gewachsen ist mir auch dieses ganz besondere nachbarschaftliche Gefühl in Colquiri, wie mein Viertel auch heißt. Dass ich morgens immer mit den gleichen Leuten darum streiten darf, wer sich nun in das nächste, eigentlich schon überfüllte Trufi quetschen darf. Dass ich in der tienda gegenüber schon mit Umarmung durch die Tochter den Ladenbesitzerin begrüßt werde, wenn ich mal wieder in Flipflops und Jogginghose über die Straße schlappe, um mir die obligatorische Cola Zero (ja, ich bin süchtig) oder ein großes Stück eigentlich viel zu salzigen Käse zu kaufen. Dass die bestimmt schon über 80jährige Cholita an der nächsten Ecke mir es mit ihrem  herzlichen Lächeln auf ihrem bereits von tiefen Falten durchzogenen Gesicht es mir unmöglich macht, vorbeizugehen ohne 25 Mandarinen für unschlagbare vier Pesos zu kaufen. Zum Glück sind hier im Haus acht hungrige Mäuler zu stopfen. Und Mandarinen mögen wir fast alle gern.

Die tienda meines Vertrauens, genau auf der anderen Straßenseite.

Immer wieder verlasse ich nach einem langen Tag in der Schule am frühen Abend zu der von mir heißgeliebten blauen Stunde das Haus, um auf einem kurzen Spaziergang durch mein Viertel nochmal die Gedanken schweifen zu lassen. Bestimmt höre ich irgendwo Cumbia. Oder kaufe noch mehr Mandarinen!

 

El último: Erdrutsch in La Paz. – Wenn der Boden unter den Füßen nachgibt.

 

In den letzten Tagen hat vor allem dieses Thema die Medien in Bolivien beherrscht: In der Zone San Jorge/Kantutani des bolivianischen Regierungssitz La Paz kam es vor kurzem zum sechsten schwerwiegenden Erdrutsch in den letzten zwanzig Jahren. Dabei verloren mehr als 100 Familien ihre Häuser und somit einen Großteil ihrer Existenz.

Dieses Ereignis lässt sich in den Kontext vieler sich am Rande der Illegalität bewegenden Bauaktivitäten in einer der größten Städte Boliviens einordnen. Wie alle Großstädte erlebt La Paz aktuell starken Zuzug, der Wohnraum, aufgrund der Kessellage der Stadt begrenzt, wird knapper und knapper. Neue Wohnviertel entstehen entlang der Hänge, auf instabilem Grund ziehen sich neu errichtete Häuser die Hügel hinauf. Bauverbote werden von der Stadt kaum umgesetzt, obwohl die risikobelasteten Zonen bekannt sind.

Grund dafür ist unter anderem, dass in La Paz ein florierendes Geschäft mit gefälschten Baugenehmigungen betrieben wird. So versuchen die Bewohner*innen, den Bau ihres Eigenheims in Zonen, die eigentlich nicht bebaut werden dürften, zu legitimieren. Dem gegenüber erscheint die städtische Regierung bisher machtlos.

Die Konsequenzen lassen sich nur zu eindeutig feststellen: Fast einhundert Familien verloren das Dach über ihrem Kopf und damit auch fast alle ihrer Habseligkeiten. Sie wurden in einer Art Notlager untergebracht. Die Regierung versucht momentan, neue Unterkünfte für die betroffenen Familien zu beschaffen. Heute konnten die ersten Opfer der Katastrophe ihre neuen Wohnungen beziehen.

Expert*innen sind der Meinung, dass der richtige Weg, um ein erneutes Ereignis dieser Art zu vermeiden, bessere Kommunikation der sehr wohl vorhandenen Informationen über die Gefährdungslage sein sollte. Somit sollen die Familien, die in solchen risikobelasteten Gebieten ihre Häuser errichtet haben, ermutigt werden, diese aus eigene Stücken zu verlassen und in andere, sicherere Zonen umzuziehen. Hoffentlich wird sich so eine weitere Katastrophe vermeiden lassen.

Hier ein bissiger Kommentar aus den sozialen Netzwerken: Die Casa del Pueblo, der unter Evo neu errichtete Präsidentenpalast, in Kontrast zur vorläufigen Unterbringung der betroffenen Familien.

Hier noch der Link zu einem, Artikel einer Tageszeitung aus La Paz, Teil dessen ist eine Karte, die die Zonen mit hohem Risiko für Erdrutsche illustriert – damit ihr euch das besser vorstellen könnt! (https://www.paginasiete.bo/sociedad/2019/5/14/cuales-son-las-36-zonas-de-alto-riesgo-en-la-paz-217994.html?fbclid=IwAR3G6mljKL8UWYJ3hdUGxSr1ELuWe2vd4CYCKudyyFQgKxoJX67yf9tQgdY)

Der Tanz im März.

Wie sagt man doch so schön: Besser spät als nie! Meine Vorliebe für abgedroschene Kalendersprüche zahlt sich hier einmal mehr aus und hilft mir, diesen doch recht verspäteten Eintrag über den bolivianischen Karneval auf gebührende Art und Weise einzuleiten.

Dass im Ausland so wenig über den bolivianischen Karneval, die bolivianische Folklore allgemein bekannt ist, lässt mich nach sieben Monaten hier nur Staunen. Denn kaum etwas erscheint mir für die Kultur dieses Landes so charakteristisch wie seine Umzüge; auf keiner der zahlreichen Feiern dürfen die traditionellen Tänze fehlen. Die Begeisterung für diese zieht sich durch alle Altersgruppen: Die jüngsten Mitglieder der Tanzgruppen können sich meist geradeso auf den Beinen halten, werden also in den wahrscheinlich schon von ihren Eltern praktizierten Tanz quasi hineingeboren. Und zum Karneval im Mai jedes Jahres werden sogar diejenigen wieder aktiv, die das Tanzen eigentlich aus Altersgründen längst an den Nagel gerissen haben.

Getanzt werden viele verschiedene Tänze, ich werde versuchen euch von einigen, über die ich inzwischen wenigstens das Grundlegende zu wissen glaube, ein Bild mit Worten zu malen:

Zunächst einmal natürlich der Tanz, dem ich mich hier verschrieben habe: Tinku, oder auch Tinkus, stammt aus dem Landesteil Potosí. Zu unterscheiden gilt es hier zwischen zwei Dingen: Erst einmal zu dem seit langer Zeit zu Ehren Pachamamas praktizierten Kampfritual Tinku. Jedes Jahr im Mai treffen im Norden Potosís Kämpfer verschiedener indigener Gemeinden aufeinander. Unter Einfluss von Alkohol wird solange gekämpft bis Blut fließt, welches dann das Opfer an Mutter Erde darstellt. Den gleichen Namen trägt auch der Tanz, den ich hier seit inzwischen einem halben Jahr übe. Entsprechend kämpferisch muten auch die ausgeführten Bewegungen an, begleitet von lauthalsen Rufen auf Quechua.

Ich habe mich damals dafür entschieden Tinku zu tanzen, weil mir die Bewegungsabläufe komplexer und interessanter erschienen als bei einigen andern Tänzen. Inzwischen habe ich festgestellt, dass keinem der folkloristischen Tänze hier seine Komplexität abgesprochen werden kann, oh nein, beim Salay zum Beispiel, sehr vereinfacht beschrieben einer Art Stepptanz, verknoten sich mir regelmäßig die Beine…

Auch gefiel mir gut, dass die Frauenschritte beim Tinku wenig geziert, sondern sehr kraftvoll, eben kämpferisch anmuten. Ebenfalls kommt mir gelegen, dass das Tinku-Kostüm, unsere „traje“, mit einem sehr langen Kleid für mich, mit meinen 1,85m, um einiges besser geeignet ist als zum Beispiel die kurzen Röcken der Caporales-Tänzerinnen.

Wo wir dann gleich am richtigen Punkt angelangt wären, um elegant zu einem weiteren Tanz, dem Caporales, hinüberzuleiten. Dieser entstand im vergangenen Jahrhundert im Landesteil La Paz. Bezug genommen wird auf die Epoche der Kolonialgeschichte, in der die spanischen Invasoren afrikanische Sklav*innen nach Bolivien brachten, um so noch effektiver Bodenschätze abbauen zu können.

Die Männer tanzen große, dynamische Schritte und stecken dabei in Stiefeln, die mit zahlreichen Glöckchen versehen sind. In einer Hand halten sie einen breitkrempigen Hut, mit dem sie raumgreifende Bewegungen ausführen. Porträtiert werden so Vorarbeiter, die untergebene Sklav*innen zur Arbeit antreiben. Das Glockenklingeln soll hierbei an das Klirren der Ketten der Ausgebeuteten erinnern.

Die Bewegungen der Frauen hingegen sind kleiner, graziler und haben keinen so eindeutig erkennbaren historischen Bezug.

Ein interessantes Detail: Sämtliche Kostüme sind über und über mit Pailetten bestickt. Manchmal sind sogar kleine LED-Lämpchen auf ihnen angebracht. Warum? Nun, das kann ich mir auch nicht genau erklären.

Keinesfalls unerwähnt lassen möchte ich außerdem die Diablada, einen Tanz aus Oruro, der Stadt Boliviens, in der der Karneval am größten und traditionsreichten begangen wird. Dieser Tanz ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Feuerwerk für die Sinne, er besitzt eine unglaublich detaillierte Choreographie, verschiedenste Charaktere und die diversesten Kostüme.

Dargestellt wird, grob gefasst, der Sieg des Guten über das Böse, genauer gesagt besiegt der Erzengel Michael den Teufel. Teilnehmen tun noch eine Reihe weitere Figuren, die zum Beispiel sieben Sünden oder sieben Tugenden darstellen sollen.

Die Aufführung einer Diablada, die einem Theaterstück an Materialaufwand und Länge gleichkommen kann, wird manchmal durch besondere Effekte in Form von Feuerwerk begleitet. Atemberaubend!

Der Vollständigkeit halber folgen hier noch die Namen einiger anderer Tänze: Salay, Saya Afroboliviana, Cueca, Morenada, Tobas, Phulljay… Die Liste ließe sich um ein Leichtes fortsetzen!

Die Karnevalszeit erschien mir als bisher größte und längste Festivität während meines Aufenthaltes hier. Fast jede Stadt, jedes Dorf hat seinen eigenen Umzug, der ganze März steht im Zeichen des Karnevals. Am größten wird dieser wie gesagt in der Bergbaustadt Oruro begangen, aus der auch die Diablada stammt. Ebenfalls große Umzüge gibt es in La Paz, Cochabamba, Tarija und Santa Cruz. Hier lässt sich interessanterweise feststellen, dass die Umzüge sich mindestens genauso stark unterscheiden wie die Regionen an sich. Wie so oft zeigen sich eindeutige Unterschiede zwischen dem Karneval des Occidente, also den westlichen Landesteilen, und dem des Oriente, also zum Beispiel dem in Santa Cruz. Ich habe mir sagen lassen, dass die Feier dort dem Karneval in Rio zu ähneln scheint. Ganz im Gegensatz zu beispielweise der in Oruro.

Mich hat dieser Monat, der mir wie ein langanhaltender Ausnahmezustand vorkam, umso eindrücklicher davon überzeugt, was für einen hohen Stellenwert die bolivianische Folklore auch innerhalb der modernen Gesellschaft noch einnimmt. Ich lege euch ans Herz, euch selbst von der Eindrücklichkeit dieser Feierlichkeiten zu überzeugen, es gibt zahlreiche Videos zu sehen!

 

El último: La lucha por Tariquía. – Der Kampf um Tariquía.

Wenn alles gut läuft, wird dieser Beitrag der erste von mehreren sein, in denen ich euch aktuelle Debatten, Themen, die die bolivianischen Medien in den letzten Wochen bestimmt haben, vorstelle. Das alles unter dem Titel „El último“, also das Neuste.

Beginnen möchte ich heute mit einem Beitrag über Tariquía, genauer gesagt über „La Reserva Nacional de Flora y Fauna Tariquía“, eine sogenannte „área protegida“, ein aufgrund seiner besonderen ökologischen Bedeutung durch diverse bolivianische Gesetze vor Eingriffen in seine Unversehrtheit geschütztes Gebiet. Den „pueblos indígenos“, welche innerhalb dieser geschützten Zonen leben, werden besondere Eigentums- und Mitbestimmungsrechte zugesprochen – eigentlich…

Tariquía liegt im Südwesten des im Süden Boliviens gelegenen „departamentos“ Tarija, mit gleichnamiger Hauptstadt. Das Schutzgebiet befindet sich in der Nähe der Grenzen des plurinationalen Staates zu Argentinien und Paraguay und trägt seit über dreißig Jahren diesen Titel, der sicherstellen soll, dass der Lebensraum, den Tariquía für mehr als 800 Spezien bietet, nicht verloren geht.

Dennoch hat die Regierung von Evo Morales die Extraktion von Kohlenwasserstoff innerhalb des Schutzgebietes erlaubt. Seit 2015 gibt es nämlich ein Dekret, welches den Abbau von Bodenschätzen auch in solchen, eigentlich geschützten, Regionen erlaubt. Auf dieses berief sich die Regierung, als sie vor einigen Wochen mit den Arbeiten in Tariquía beginnen wollte. Doch bis heute konnte dies nicht in die Tat umgesetzt werden: Die ansässigen Gemeinschaften verwehren den Autoritäten bis heute den Zugang zu ihrem Land. Inzwischen wird versucht, den Eingang gewaltsam freizumachen.

Ganz Bolivien wurde von einer Welle der Solidarität überrollt: Nicht nur in der Hauptstadt des „departamentos“, Tarija, wird fast täglich gegen diese Politik des Extraktivismus protestiert. Auch in allen anderen Landesteilen spricht man sich gegen die Arbeiten in Tariquía aus. Denn die Intaktheit dieses besonderen Ökosystems, welches das Gebiet darstellt, ist von großer Relevanz: Doch der Abbau von Kohlenstoff würde erhebliche negative Auswirkungen auf die Wasserqualität zweier die Region durchfließender Flüsse haben sowie die Abholzung weitläufiger Gebiete bedeuten.

Wie sich der Konflikt weiterhin entwickeln wird, ist nicht abzusehen. Als Referenz möchte ich hier einen ähnlichen Fall anführen, welcher sich in den Jahren 2010 und 2011 in einem anderen Schutzgebiet, Tipnis, im „departamento“ Cochabamba ereignete. Die Regierung wollte, um die Infrastruktur in diesem Teil des Landes zu verbessern, eine Autobahn quer durch dieses Gebiet errichten lassen, um die Landesteile nördlich davon besser anzubinden. Die dort ansässigen Gemeinden protestierten mit einem Fußmarsch bis zum Regierungssitz La Paz. Aufgrund der hohen Medienwirksamkeit war bis dato hoher Druck auf die Regierung entstanden, welche schlussendlich vom Bau der Autobahn absah. Vorbildhaft auch für den Kampf um Tariquía? Wir werden sehen, vamos a ver.

Für mich ist dieser Fall sinnbildlich für einen grundlegenden Konflikt, in dem sich Bolivien zu befinden scheint: Einerseits ist in der Verfassung der Schutz der Mutter Erde gesetzlich festgelegt, auch wegen der tiefen Verwurzelung des Pachamama-Kultes innerhalb der Gesellschaft. Die Anrechte der indigenen Gemeinschaften auf ihr Land und ihre Kultur wurden in den letzten Jahren deutlich gestärkt. Dennoch scheint dies alles unwirksam zu werden, wenn es darum geht, die Bodenschätze des Landes so lukrativ wie möglich zu nutzen. Bolivien erlebte in den letzten Jahrzehnten einen wirtschaftlichen Aufschwung; um dessen Fortbestand zu sichern, scheint Mutter Natur inzwischen des Öfteren das Nachsehen haben zu müssen.

Prinzipiell gesehen.

Nach all den bunten Bildern der letzten Beiträge möchte ich diesmal ein wenig abstrakter werden und über Prinzipien reflektieren, beziehungsweise über den Verlust von ihnen. In den letzten Monaten hat es mich immer wieder nachdenklich gestimmt, wenn ich bemerkt habe, dass einiges, was aus meinem Leben in Deutschland kaum wegzudenken war, hier nach und nach verschwunden ist. Jetzt wisst ihr bestimmt ganz genau wovon ich rede, nicht wahr?

Spaß beiseite, lasst mich etwas plastischer werden:

In Deutschland hätte ich mich als sehr umweltbewussten Menschen bezeichnet. Ich hatte das Glück, das letzte Jahr in einem Umfeld verbringen zu dürfen, welches mich darin noch bestärkt hat. Ich habe kaum Verpacktes gekauft, immer meine eigenen Beutel zum Einkaufen mitgenommen.

Hier hingegen schmerzt es mich jedes Mal, wenn ich wieder beim Gang zum nun einmal ziemlich weit weg gelegenen Supermarkt bemerke, meine gesamte Beutel- und Plastiktütenkollektion zuhause vergessen zu haben. Bolivien hat meiner Meinung nach ein ausgewachsenes Problem mit seiner Müllproduktion und vor allem der arglosen Entsorgung dieses Mülls am Straßenrand. Das heißt, eben deshalb wäre es mir wichtig, nicht noch durch meinen Konsum zu diesem Phänomen beizutragen. Doch habe ich keine Zeit, beziehungsweise war bisher noch nicht bereit, mir die Zeit zu nehmen, nach plastikfreieren Alternativen Ausschau zu halten. Mir ist durchaus bewusst, dass ich meine Angewohnheiten, meinen Standard, kaum Plastikmüll zu produzieren, nicht einfach hierher übertragen kann. Doch könnte ich mit mehr Zeit und Mühe sicherlich weniger produzieren, als ich es gerade tue.

Des weiteren esse ich seit nunmehr einem Monat, zum ersten Mal seit mehr als vier Jahren, wieder regelmäßig Fleisch. Hier in Bolivien ist der Fleischkonsum sehr tief in der Kultur verwurzelt, fast jedes typische Gericht enthält Fleisch. Weshalb ich in den letzten sechs Monaten kaum eines davon probieren konnte. Weshalb ich stets vorher ein Restaurant aussuchen musste, wenn ich essen gehen wollte – meist ein rein vegetarisches. Und irgendwann wurde ich dem müde. Ich wollte mir keine Gedanken mehr darüber machen müssen, ob ich heute Nachmittag in der Stadt wohl etwas zu essen auftreiben würde, hatte keine Lust mehr darauf, dass der einzige Imbiss, der mehr oder weniger immer zugänglich war, eine trockene empanada con queso sein musste.

Fleisch zu essen hat für mich hier ein Stigma verloren, welches es für mich in Deutschland seit langer Zeit hatte. Hier wurde es für mich eher zum Stigma, kein Fleisch mehr zu essen. Für mich steht es außer Frage, dass ich zurück in Deutschland kein Fleisch essen werde. Ich rechtfertige meinen Konsum hier also mit einer Art Ausnahmezustand. Doch macht das ihn wirklich besser?

Diese Frage stelle ich mir immer wieder, in Bezug auf verschiedene „Prinzipienverluste“. Ich weiß, dass verschiedene Muster, die sich in mein Verhalten eingeschlichen haben, nur temporär sind. Dass ich sie in Deutschland sicherlich wieder ablegen werde. Aufgrund meines Umfelds, aufgrund des Kontexts. Doch kann ich damit rechtfertigen, dass ich mich so verhalte, dass ich selbst mein Verhalten früher nicht gutgeheißen hätte? Ich bewege mich hier in einer anderen Gesellschaft, in einem anderen Land. Ich kann mein Leben nicht einfach hierher exportieren. Doch ich befürchte, Eigenschaften zu verlieren, die mir wichtig waren, die mich ausgemacht haben. Das ist das, was ich mit Prinzipien meine.

Über den Wolken.

 

Bergabwärts an Tag 1.

Auch wenn dieser kleine Ausflug ins Grüne schon einige Zeit zurückliegt, möchte ich euch einige Worte dazu und vor allem so einige wunderbare Fotos nicht vorbehalten. Ich habe das Wandern schon in Deutschland für mich entdeckt und komme gerade in Bolivien in den Genuss von vielen kaum besuchten Wanderrouten. Für diese Wanderung hat es mich allerdings etwas weiter weggezogen, nach Perú, genauer gesagt in die Nähe von Cusco, gemäß dem Inka-Glauben der Nabel der Welt.

Choquequirao hieß unser Ziel und wurde uns vorher als eine weniger überlaufene Version des Machu Picchus beschrieben, die ihrer bekannteren Schwester allerdings in Schönheit an nichts nachstehe. Nichts wie hin, dachten wir uns also! Die Ruinen von Choquequirao sind bisher nur durch einen zweitägigen Fußmarsch zu erreichen (zumindest, wenn man sich so viele Verschnaufpausen gönnt wie unsere Reisegruppe). Dies soll sich allerdings bald ändern: Es bestehen Pläne, die Ausgrabungsstätte durch ein téléferico (Seilbahn) von der anderen Seite einer bisher nur zu Fuß überbrückbaren Schlucht zugänglich zu machen. Dieses Vorhaben wird sicherlich auch den Besucher*innenandrang exponentiell ansteigen lassen.

Auf dem Weg nach oben eröffnen sich immer wieder Aussichten dieser Art.

Auf unserem Weg nach Choquequirao begegneten wir nie mehr als derselben Handvoll anderer Wanderer*innen, insgesamt vielleicht 20 Personen in vier Tagen. Gestartet hatten wir alle in einem kleinen Dorf namens Cachora, welches durch eine Busfahrt von Cusco aus und eine anschließende Taxi-Fahrt erreicht werden kann. Von dort aus stiegen wir den ersten Tag über erstmal ordentlich ab, bis zu einem eine Schlucht durchfließenden Fluss, der nur an einer bestimmten Stelle über eine Brücke überquert werden kann. Anschließend hieß es sich noch einmal verzweifelt aufbäumend drei weitere Stunden den auf der anderen Seite des Flusses liegenden Hang hinaufkraxeln – die 2500m machten sich durchaus bemerkbar.

Nach einer erholsamen Nacht auf einem am Hang gelegenen Campingplatz inklusive uns Stärke zurückbringenden Nudeltellern legten wir am folgenden Tag den Rest der Strecke bis zum Nahe den Ruinen gelegenen Campingplatz zurück. Am nächsten Morgen besichtigten wir in aller Herrgottsfrühe und zunächst noch komplett allein die wirklich spektakulär auf einer Bergzunge gelegene Ausgrabungsstätte.

Vale la pena. – Die Mühe wert.

Choquequirao wurde wahrscheinlich „in den letzten Tagen“ des Inka-Reichs erbaut und wird wegen seiner schwer zugänglichen Lage oft als letzter Zufluchtsort der Inka auf der Flucht von der spanischen „conquistadores“, Ende des 16. Jahrhunderts, gehandelt. Bei Besuch außerhalb der Regenzeit sollen sich auch wirklich wunderbare Aussichten auf die umliegenden Bergketten bieten – die durften wir leider nicht genießen, aber auch die tief um Berggipfel hängenden Regenwolken boten einen wirklich beeindruckenden Anblick, erzeugten eine verwunschene Stimmung.

Die nächsten zwei Tage verbrachten wir dann wiederum mit dem Rückweg zu unserem Ausgangspunkt, von wo wir dann am Abend des vierten Tages unsere Reise zurück nach Cusco und von dort aus Richtung Grenze nach Bolivien antraten. Diese Wanderung hat mich definitiv mit Lust auf mehr hinterlassen – demnächst geht es für mich in einen Nationalpark an der bolivianisch-chilenischen Grenze, Sajama, in welchem sich der höchste Berg Boliviens befindet. Davon zu gegebenem Zeitpunkt mehr!

Unsere Belohnung bei erneuter Ankunft in Cachora: Zum ersten Mal waren die schneebedeckten Gipfel des nahen Salkantays zu sehen!

Veränderungen. Oder: Wie die Zeit vergeht.

Ich muss reumütig zugeben, mein mir selbst gestecktes Ziel der doch regelmäßigen Führung dieses Blogs gründlichst verfehlt zu haben. Es mussten drei Monate voller berichtenswerter Dinge vergehen, bevor ich endlich wieder dazu kam, mich auf meinen Hintern zu setzen und zu versuchen, die letzten Monate so gut wie möglich zusammenzufassen – ein ambitioniertes Unterfangen…

Nach meinem letzten Eintrag Anfang Dezember habe ich meine sieben Sachen in meinen Reiserucksack gestopft und über La Paz, Arequipa, Trujillo und Quito auf den Weg nach Kolumbien gemacht. Dort durfte ich nicht nur ein Land kennenlernen, das sich noch stärker als erwartet von meinem Zuhause in Südamerika, von Bolivien, unterscheidet, sondern auch einige Zeit mit einer sehr vertrauten, mir sehr lieben Person aus Deutschland verbringen, ihr Leben in Kolumbien kennenlernen. Was für eine Freude! Anbei einige Fotos. Doch das Ganze liegt tatsächlich zu weit zurück für einen ausführlichen Reisebericht – ich lasse einfach Bilder statt Worten sprechen.

Arequipa in der Morgensonne.

Ein Weihnachtsessen der anderen Art in Quito.

 

Valle de Cocora, Quindío, Kolumbien.

Meine liebste kolumbianische Entdeckung: Der Künstler Fernando Botero.

Unser Zuhause für drei Tage in der Guajira, fast am nordöstlichsten Punkt Südamerikas.

Sechs Wochen später hieß es für mich Rückkehr nach Cochabamba. Und wie schwer ist es mir tatsächlich gefallen, nach der langen und vor allem intensiven Zeit auf Reisen hier wieder anzukommen. Tatsächlich habe ich während meiner Abwesenheit über vieles reflektiert, einen gewissen Abstand zu manchem eingenommen, mir sehr stark so einige Veränderungen gewünscht. Darauf lässt sich, so glaube ich, mein anfängliches Fremdeln mit Cocha erklären.

Doch: Plötzlich hat sich ein Schalter umgelegt. Die letzten vier Wochen, der gesamte Februar, waren geprägt von eben jenen Veränderungen, die ich mir so sehnlich gewünscht hatte. Zunächst einmal hat sich meine Wohnsituation stark verändert: Ich wohne inzwischen deutlich weiter entfernt vom Zentrum, aber dafür in einer Gegend, die viel weniger als das Viertel, in dem ich bisher gewohnt habe, europäisch anmutet,  wo die Mieten niedriger sind, das Viertel mir deshalb lebhafter und vielfältiger erscheint. Ich muss nur einige Schritte vor die Tür setzen und finde mich sofort zwischen fahrbaren Garküchen, Marktständen und tiendas, also kleinen Tante-Emma-Läden, wieder.

Ich wohne nun in einem wunderbar kruschligen, unaufgeräumten Haus mit insgesamt acht Zimmern. Momentan sind wir sieben: Drei Bolivianer und vier Deutsche. Wir teilen einen riesigen Wohnbereich und eine große Küche, noch dazu einen Garten, der aufgrund unserer Faulheit jeglicher Pflege entbehrt. Ein Paradies für die hier mit uns hausenden vier Hunde, drei Katzen und unzählige Hühner. Ah, wie ihr wahrscheinlich schon bemerkt, bin ich absolut verliebt in unsere casa. Ich fühle mich hier wohler, freier, als in der vorherigen WG und halte mich endlich wieder richtig gern zuhause auf.

Ein Teil meines neuen Reichs.

Die zweite maßgebliche Veränderung hat sich für mich in der Schule eingestellt: Ich arbeite mehr und ganz anderes als bisher. Ich habe endlich einen Stundenplan, wie habe ich mir diesen in den vergangenen sechs Monaten herbeigesehnt! Ich begleite zwei Kindergartenklassen und vier Kurse in der primaria regelmäßig, unterstütze außerdem in der Oberstufe in Konversationskursen und betreue weiterhin Nachhilfeklassen. Noch dazu stehen gerade einige Projekte, zum Beispiel ein Video-Wettbewerb zum Thema „Indigene Kulturen“, an. Das bedeutet, dass ich inzwischen drei Mal in der Woche bis um 16 Uhr bleibe und in Zukunft bestimmt auch den ein oder anderen Samstag oder Sonntag in meine Arbeit investieren werde. Doch wie mich die Arbeit inzwischen erfüllt! Mir ist es inzwischen möglich, Beziehungen zu den Schüler*innen aufzubauen, mit ihnen eine Entwicklung durchzumachen. Es ist ein schönes Gefühl, den Schulhof selten überqueren zu können, ohne sich in ein Gespräch mit Schüler*innen oder Lehrer*innen zu verstricken, ohne in einer Traube von Mädchen aus der 6. festzustecken, die wissen wollen, wann ich wohl wieder vertreten würden (denn das letzte Mal haben wir etwas gespielt, was für ein Ereignis!), ohne fast von einer Gruppe von Erstklässler*innen umgerannt zu werden, die mit lauten Kampfschreien („ALEMAAAAAN, ALEMAAAAAAN!“) zum Deutsch-Unterricht sprinten. In letzter Zeit verlasse ich die Schule fast immer mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.

So. Das waren in Schnellfassung die letzten drei Monate. Und wisst ihr was? Am 12. März feiere ich meinen 6-Monate-in-Bolivien-Tag. Und wisst ihr, was das bedeutet? Dass mir nur noch weniger als sechs Monate bleiben. Der perfekte Zeitpunkt, um erneut feierlich zu geloben, mich in Zukunft mehr zu melden! Und all den geliebten Menschen zuhause, bei denen ich mich viel zu selten melde, dicke Umarmungen zu schicken. Ich hoffe, ihr akzeptiert auch diese Art und Weise des Sich-Meldens – ich denke an euch!

Das Tanzbein schwingen. Mit überdimensionalem Hut.

Natürlich laufen gerade hier in Cochabamba genau wie in Deutschland die Vorbereitungen für Weihnachten auf Hochtouren. Doch während für viele Familien in Deutschland eben dieses uns kurz bevorstehende Fest das wichtigste des Jahres ist, scheint es mir hier einen Anlass zu geben, der noch ausgiebiger gefeiert werden wird: Karneval.

Doch der bolivianische Karneval hat mit unserem nur wenig zu tun: Der Karneval in Bolivien gehört traditionell den folkloristischen Tanzgruppen. Und in so einer tanze ich seit inzwischen zwei Monaten. Der Tanz, den ich tanze, nennt sich Tinku. Über diesen Tanz gibt es einiges spannendes zu erzählen, nicht umsonst muten einige Tanzschritte sehr kämpferisch an. Doch ich möchte mich noch etwas genauer über die Herkunft und Geschichte des Tanzes informieren, bevor ich dem einen separaten Eintrag widme. Hier soll es zunächst nur um meine ganz persönliche Erfahrung gehen.

Letztes Wochenende stand für mich mein erster unbeholfener Tanzversuch außerhalb meiner Komfortzone, der abgelegenen Seitenstraße hinter der Universität in Cochabamba, in welcher wir täglich trainieren, an. Erläuterung dazu: Aufgrund des angenehmen Klimas in Cochabamba braucht es nicht viel mehr als eine wenig befahrene Straße und eine große Musikbox, um ein Trainingsgelände herzustellen.

Beigebracht werden die Tanzschritte Mund-zu-Mund, das heißt, dass jeden Abend einige der geübteren Tänzer*innen dafür zuständig sind, uns zu vermitteln, zu welchem Zeitpunkt welches Körperteil wohin bewegt werden soll. Sobald dann die Grundlagen durch diese „Einzelstunden“ – mehr oder weniger – verinnerlicht wurden, wird weiter im „bloque“ geübt, also in der Aufstellung, die wir auch bei Wettbewerben und schlussendlich beim Karneval einnehmen werden. Wir stehen in Reihen zu viert nebeneinander, den Blick nach vorn gewandt, wo vier besonders fähige Tänzer*innen uns symbolisieren, welcher Tanz als nächstes bevorsteht. Außerdem lässt sich bei ihnen auch wunderbar abgucken!

Genauso bewegten wir uns bei der „Entrada Universitaria“, einer von mehreren Veranstaltungen, die dem Auftritt beim Karneval vorweggehen, durch die Straßen. Es wurden verschiedenste traditionelle Tänze dargeboten, es gibt davon wirklich unzählige: Salay, Cueca, Morenada und Diablada, um nur einige zu nennen. Die Gruppen waren aus ganz Bolivien angereist, da dieser Umzug in Cocha die letzte große Tanz-Veranstaltung dieses Jahres sein würde.

Wo ist Anna?

Leider machten die momentane Regenzeit und ihre überraschenden, sturzbachartigen Regenfälle dem ganzen Spektakel einen Strich durch die Rechnung – so schien es! Doch trotz des Regens, der fast unmittelbar nach Einzug meiner Gruppe in den Umzug einsetzte, absolvierten wir die komplette Strecke, bis zum Ziel in der Nähe der Universität. Die ganze Euphorie beim Tanzen ließ mich fast vergessen, dass ich teilweise bis zum Knöchel in den Pfützen stand – und das in meinen „avarcas“, Sandalen aus Autoreifen.

Auch andere Teile unseres Kostüms waren für die Witterungsbedingungen nicht optimal geeignet: So mussten unsere voluminösen Hüte von Plastiktüten vor der Feuchtigkeit geschützt werden.

Nach sechs Stunden auf den Straßen Cochabambas kamen wir müde, durchgefroren, aber für diese Umstände noch einigermaßen euphorisch an unserem Ziel an. Ich freue mich schon darauf, wenn unsere Trainingseinheiten im Januar wiederbeginnen – damit ich hoffentlich dieses riesige Fest, das der Karneval in Bolivien bedeutet, ganz direkt miterleben kann. Aber bis dahin heißt es erstmal noch üben, üben, üben.

 

Für die schlechte Qualität der Bilder entschuldige ich mich herzlich. 

„Vor der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis“.

Um zu erklären, weshalb es für mich von Anfang an außer Frage stand, diesen Beitrag unbedingt schreiben zu wollen, müsst ihr mich etwas ausholen lassen: Noch im August vor meiner Ausreise stand ich vor einigen haushohen Fragezeichen: Wohin sollen sich meine Schritte im nächsten Jahr lenken? Will ich wirklich nach Bolivien? Sehe ich mich im kommenden Jahr nicht viel eher in Deutschland?

Einer der Gründe dafür, dass ich mich letztendlich so entschieden habe, wie ich mich entschieden habe und jetzt mitten im bolivianischen Sommer kalten Kaffee schlürfend an diesem Eintrag arbeite, liegt darin, dass ich damals meinerseits einen Blog gelesen habe. Und zwar den eines ehemaligen Freiwilligen in meiner Stadt, an meiner Schule. Einen ganzen Morgen lang habe ich mich in ihn vertieft und konnte nach meiner ausgiebigen Lektüre zum ersten Mal feststellen, dass sich langsam ein Gefühl der freudigen Erwartung in meiner Magengrube breit machte.

Lange Rede, kurzer Sinn: Mir hat dieser Blog unheimlich geholfen, deshalb möchte ich jetzt einigen von euch, für die es in der Zukunft zu entschieden heißt, ob sie sich auf nach Bolivien machen, eine hoffnungsfrohe Botschaft senden. Und allen anderen von euch berichten, was es heißt, sich zu fühlen wie in Kafkas „Prozess“, machtlos und orientierungslos: nämlich während des Prozesses zur Erlangung der Arbeitserlaubnis in Bolivien. Ja, es soll um nichts weiter als mein Visum gehen. Aber was für ein Visum!

Bolivien gilt als eines der Länder mit dem aufwendigsten Prozess zur Erlangung einer Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis. Das Ganze fing schon gut in Deutschland an: Um hier in Bolivien einen Antrag auf eine „permanencia“ stellen zu dürfen, braucht es – offizieller Weise – ein „visa de objeto determinado“, welches bei einer bolivianischen Vertretung in Deutschland zu beantragen ist. Und zwar mit ganz schön vielen Dokumenten. Zum Glück hatte ich tatkräftige Unterstützung durch meine Eltern, die in Berlin leben und mir so verschiedenste Odysseen zu Honorarkonsulaten im Süden Deutschlands ersparen konnten.

Außerdem erhielten wir im Vornherein eine Liste, eine lange Liste, mit verschiedensten Dokumenten, die für die Antragsstellung in Bolivien vonnöten sein sollten. Alles natürlich in mehrfacher Ausführung, übersetzt und legalisiert. Ablaufen durfte so einiges auch nicht, musste also auf den letzten Drücker beantragt werden. Ich liebe Papierkrieg!

Hier angekommen hatte ich glücklicherweise einen Tipp von meinem Vorfreiwilligen erhalten: Er gab mir den Kontakt einer Frau, die hauptberuflich mit Äusländer*innen deren Behördengänge erledigt und deshalb genau wusste, welche Dokumente ich benötigte. Ansonsten hätte mir eines der oft gehörten Horrorszenarien gedroht: Welche Dokumente benötigt werden, ändert sich oft, ständig werden die Antragstellenden weggeschickt, um noch andere Dokumente zu besorgen, dann ist manches plötzlich zu alt. Auch interessant: Ich habe keines, ich wiederhole, keines der Dokumente aus Deutschland hier verwandt. Zitat: „Das ist aus Deutschland, das bringt dir hier nichts.“

Dank der tatkräftigen Hilfe der oben erwähnten Dame kämpfte ich mich inklusive langer Wartezeiten erfolgreich durch den Behördendschungel und hielt ungefähr sechs Wochen nach meiner Ankunft den Abholzettel für meinen Reisepass inklusive Arbeitserlaubnis für ein Jahr in den Händen. Doch bisher war ja alles viel zu einfach gewesen. Also dachte ich mir, ich wasche einfach mal meine Hose. Inklusive Abholzettel!

Mittlere bis schwere Krise. Doch beim Abholen zeigte sich dann, dass es in den Behörden hier eben doch nicht immer so formal zugeht wie zu einem Großteil der Zeit. Ich konnte mich ganz einfach mit einer Unterschrift ausweisen und hielt den heiligen Gral, das Zeichen meiner Legalität in den Händen.

Jetzt hieß es nur noch meinen Ausweis für Ausländer*innen beantragen, den ich am Montag nach einer halben Weltreise entlang einer Straße in Cocha, die so lang ist, dass Adressen mithilfe der Entfernung vom Zentrum in Kilometern angegeben werden (meine Behörde lang bei Kilometer 7), abgeholt habe. Das bedeutet: endlich Ruhe. Soweit ich das absehen kann, bin ich jetzt aus dem Schneider.

Also, ihr lieben zukünftigen Freiwilligen: Lasst euch nicht ins Bockshorn jagen. Ja, es ist nicht leicht, es ist nervenaufreibend und noch dazu ziemlich teuer. Aber ihr werdet immer Hilfe angeboten kommen, euch immer irgendwie durchwurschteln. Am Ende wird es sich gelohnt haben: Dann seid ihr nämlich im Besitz einer Plastikkarte mit einem schrecklichen Webcam-Foto von euch und habt das Gefühl, genau da sein zu dürfen, wo ihr sein wollt. Legal!

 

 

Atinchik. – Juntos podemos. Gemeinsam können wir.

Was für ein schöner Name, was für ein schöner Leitsatz, unter den ich meine folgenden Schilderungen stellen möchte: Ich durfte mich nämlich vor nunmehr zwei Wochen für eine kurze Zeit erneut in unsere kleine kulturweit-Gemeinschaft zurückversetzen lassen und gemeinsam mit anderen Freiwilligen aus Bolivien, Peru, Ecuador und Brasilien unser Zwischenseminar, weit weg von jeglichem Alltag, in der Casa Atinchik, einem herrlichen Holzhaus nahe Lima, umgeben von einem saftig grünen Garten, verbringen. Ein paradiesisches Paralleluniversum! Doch auch an so einigen tiefschürfenden Erkenntnissen hat es mir in unserer Oase südlich von Lima nicht gefehlt: Durch den intensiven Austausch mit anderen, sich in einer ähnlichen Situation befindlichen, wurde mir so einiges bisher nicht wirklich zugelassenes – teilweise auch schmerzhaft – bewusst.

 

Doch gehen wir, ganz nach meinem Geschmack, chronologisch vor: Da mir meine knapp 20,000 Flugkilometer, die ich hierher nach Bolivien und nächstes Jahr zurück nach Deutschland zurücklegen werde, ziemlich in den Knochen stecken, habe ich mich mit zwei meiner Mitfreiwilligen aus Bolivien bereits am Freitag vor Beginn des Seminars auf dem Landweg auf nach Lima gemacht. Sehr gelegen kam uns dabei, dass wir auf dem Wege einen kurzen Zwischenstopp in Cusco, laut Inka-Glauben dem Nabel, dem Ursprung der Welt, einlegen konnten. So musste ich zumindest eine von vier Nächten nicht im Bus verbringen, welch‘ herrliche Abwechslung!

Kurz vor der bolivianisch-peruanischen Grenze – die schlechte Qualität gibt dem Ganzen doch irgendwie Charme!

Und wie hat sich unser kurzer Aufenthalt gelohnt: Dank unserer wirklich unchristlichen Ankunftszeit (5 Uhr morgens am Busterminal in Cusco…) hatten wir mehr als genug Zeit diese wunderschöne Stadt zu durchstreifen. Tatsächlich stellte sich bei mir, inzwischen auf bolivianische Bürgersteige gepolt (von Löchern durchsetzt, oftmals gar nicht vorhanden oder so uneben, dass ich wirklich hohe Konzentration darauf aufwenden muss, nicht noch öfter zu straucheln, als ich es eh schon tue), fast eine leichte Irritation ob der unheimlich gepflegten, fast herausgeputzten Straßen ein.

Die Plaza de Armas von Cusco in der Morgensonne.

„Über den Dächern von Cusco“.

Wir verbrachten unseren Tag auf unheimlich angenehme Weise mit der für uns schon sehr üblichen Routine (wir drei gemeinsam Reisenden wohnen alle mehr oder minder nah aneinander, höchstens eine Nachtfahrt voneinander entfernt, und sehen uns dementsprechend recht regelmäßig): Herumspazieren, bis ein genehmes Café mit angenehmen Preisen gefunden, Kaffee trinken, lesen, schreiben, zeichnen, vielleicht die ein oder andere Zigarette rauchen. Und quatschen, sehr viel und über alles. Dabei genossen wir die peruanische Sonne und die Bewegung nach unserer ersten langen Nachtfahrt.

 

Nach einer erholsamen Nacht ging es für uns am nächsten Vormittag weiter Richtung Lima. Umweltbewusstsein in allen Ehren, aber diese Fahrt hätte ich mir wirklich gern gespart. Cusco liegt auf über 3000 Metern, Lima dagegen nur wenig über dem Meeresspiegel. Dementsprechend ging es für uns circa die Hälfte der für die Strecke angesetzten 20h in Serpentinen bergab. Ich muss sagen, ich bevorzuge das Ausbleiben von Fliehkraft, wenn ich versuche zu schlafen.

Dennoch stiegen wir am nächsten Morgen beschwingt aus dem Bus, trafen unsere Seminargruppe, feierten freudiges Wiedersehen mit schon bekannten Gesichtern und trafen auf so einige unbekannte, die aber nicht lange unbekannt blieben.

 

Zu den nächsten fünf Tagen lässt sich sagen, dass sie für mich vor allem von dem wunderbaren Umfeld geprägt wurden, in dem wir uns befanden. Cochabamba hat viele gepflegte Parks und Gärten zu bieten, doch wirkliche Natur finde ich hier kaum. Gerade deshalb genoss ich unsere langen Gesprächsrunden auf dem Rasen, umgeben von wunderbar nach Limone duftenden Bäumen und 13 Katzen, besonders. Wir hatten sehr viel Freiraum, um uns gegenseitig von unseren Erfahrungen der letzten zwei Monate zu berichten.  Darauf lag meiner Meinung nach auch der Schwerpunkt dieses zweiten Seminars: Es war weniger Input, Input, Input als Raum für individuelle Reflexion. Mir ist in dieser Woche klar geworden, dass ich mich bis zum Beginn des kommenden Schuljahrs auf jeden Fall um gewisse Veränderungen bemühen möchte. Doch ich denke, dass diese Überlegungen in einem anderen, separaten Blogeintrag Platz finden sollten.

Gut genutzte Mittagspausen.

Am Mittwoch stand für uns ein kleiner Ausflug in das Stadtviertel Santa Maria in Lima an. Dort wird „agricultura urbana“, also Landwirtschaft in der Stadt, in kleinen, einzelnen Familien zugeteilten Parzellen betrieben. Diese stellen für viele Familien nicht nur einen wichtigen Teil ihrer Existenz dar, indem sie die ohne industriellen Dünger produzierten Lebensmittel auf Märkten in besser situierten Vierteln verkaufen, sondern bilden auch ein wichtiges Bindeglied zwischen den Familien im Viertel, einen sozialen Raum für Austausch.

Grün vor grau.

Am Freitag ging das Seminar zu Ende, wir zerstreuten uns erneut in verschiedenste Richtungen. Meine kleine Reisegruppe und mich hielt es noch einen Tag lang in Lima, an dem wir diese wirklich riesige Stadt durchstreiften und, wie sollte es anders sein, Kaffee tranken und die letzten Stunden gemeinsam nutzen, bevor wir wieder die Reise in unsere Einsatzorte antraten.

Der Strand von Lima, kurz nach meinem ersten Bad im Pazifik.

Die Rückreise traten wir Bolivianerinnen diesmal per Flugzeug an – eine Busfahrt wäre aus Zeitgründen nur schwer möglich gewesen. Ich kam nach Station in Oruro am Sonntag spät abends in Cochabamba an. Am nächsten Morgen, auf dem Weg in die Schule, merkte ich, wie sehr mich diese zehn Tage doch aus meiner Routine gerissen hatten. Ich betrachtete alles mit anderen Augen, vieles wirkte recht befremdlich auf mich. Dieses Gefühl hat sich inzwischen wieder verflüchtigt, doch es hat mir gezeigt, wie leicht es scheinbar für mich war, sich sowohl in einem neuen Umfeld einzuleben, als auch den Bezug zu diesem wieder zu verlieren, sobald ich mich an einen anderen Ort zurückversetzt fühle, in diesem Fall das Vorbereitungsseminar in Berlin.

 

Alles in allem habe ich meinen kurzen Realitätsverlust mehr als genossen, hatte die Möglichkeit allein und gemeinsam mit anderen über meine momentane Situation nachzudenken, habe dabei noch ein neues Land kennengelernt und gelernt, dass es auch mit über 1,80m möglich ist, in einem Reisebus eine halbwegs bequeme Position einzunehmen (Embryonalhaltung!). Was für eine erleichternde Erkenntnis für die Fahrten, die da kommen!