Archiv für den Monat: Oktober 2018

Wenn eine ganze Stadt zum Stehen kommt.

Die letzen zwei Tage fand an meiner Schule in Cochabamba kein Unterricht statt. Heute, am Donnerstag, den 11. Oktober, begeht Bolivien den sogenannten „Día de la mujer“, den Tag der bolivianischen Frau. Unser Kollegium besteht zum Großteil aus Frauen, ebenso die Schüler*innenschaft, also beschloss die Schulleitung, den Unterricht an diesem Tag nicht stattfinden zu lassen. Und gestern? Gestern war keiner dieser hier oft stattfindenden „Themenfeiertage“, wie der Tag des Schülers, Tag des Lehrers und so weiter. Stattdessen legten in der ganzen Stadt Menschen ihre Arbeit nieder: In Cochabamba, La Paz, ja in ganz Bolivien war zu einem sogenannten „paro ciudadano“ aufgerufen worden, einem Streik der Bürgerschaft.

In Cochabamba äußerte sich das Ganze folgendermaßen: Es fuhren keine öffentlichen Verkehrsmittel, Geschäfte und Restaurants hatten nicht geöffnet, Schulen blieben geschlossen (so zum Beispiel meine). Große Zufahrtsstraßen und Hauptverkehrsadern wurden von Demonstrant*innen blockiert. Bei solchen „bloqueos“ wird mit großen Steinen und Absperrband verhindert, dass Autos und Busse die Straßen befahren können. Ausstände dieser Art finden in Bolivien mehr oder weniger regelmäßig statt. In Cochabamba kam es beispielsweise im Jahr 2000 im Rahmen des „Wasserkriegs von Cochabamba“ zu einem Generalstreik, mit dem die Bevölkerung die angestrebte Privatisierung der Wasserversorgung und die damit einhergehende Verdreifachung des Wasserpreises verhindern wollte. Tatsächlich fühlte sich die Regierung von den protestierenden Bürger*innen so stark unter Druck, dass die geplante Privatisierung gestoppt wurde.

Der Streik gestern lässt sich mit den im Jahr 2019 auf nationaler Ebene anstehenden Wahlen in Verbindung bringen. Hier in der Stadt kam es gestern zu Demonstrationszügen zweier Gruppen mit entgegengesetzten politischen Ausrichtungen: Zunächst zogen die sogenannten MASsistas, die Anhänger*innen der Regierungspartei MAS, der auch der momentane Präsident Boliviens, Evo Morales, ein ehemaliger Koka-Bauer, angehört. Viele seiner Anhänger*innen gehören indigenen Bevölkerungsgruppen an.

So oder so ähnlich könne Proteste gegen eine erneute Kandidatur Morales‘ aussehen. Das Bild stammt nicht von mir, doch die Urheberschaft wurde nirgendwo kenntlich gemacht.

Später am Tag demonstrierte eine beeindruckende Masse an Menschen, die mit der Bewegung „Bolivia dijo No“, zu Deutsch „Bolivien hat Nein gesagt“, sympathisieren. Diese Gruppe engagiert sich gegen eine erneute Kandidatur von Evo Morales für das Präsidentenamt bei den Wahlen im kommenden Jahr – es wäre seine dritte. Doch laut der bolivianischen Verfassung, die unter Evo Morales selbst in Kraft trat, sind einer Person nur zwei Amtszeiten als Präsident*in erlaubt.

Die Anhänger*innen sehen durch Morales angestrebte dritte offizielle Amtszeit die Demokratie im Land in Gefahr; Noch dazu kommt, dass im Jahr 2016 in Bolivien von der Regierung ein Referendum durchgeführt wurde, um eine Abschaffung des Paragraphen der Verfassung, der die Anzahl von Amtszeiten auf zwei beschränkt, zu legitimieren. Doch die Mehrheit der Bevölkerung sprach sich, wenn auch knapp, gegen die Verfassungsänderung aus. Dennoch hat Evo Morales vor kurzem seine erneute Kandidatur für das Präsident*innenamt bekannt gegeben. Gewählt wird nächstes Jahr, einmal im Januar, einmal im Oktober. Warum genau zweimal gewählt werden wird, ist mir bisher noch nicht klar. Weiß das zufällig jemand von euch?

Ich möchte noch hinzufügen, dass meiner Meinung nach die Verfassungswidrigkeit einer erneuten Kandidatur Morales‘ nicht der einzige Grund ist, warum Leute für „Bolivia dijo No“ auf die Straße gehen. Evo Morales‘ Politik hat in den vergangenen Jahren sehr stark auf die Verbesserung der Lage von Gruppen abgezielt, denen bisher wenig politischer Einfluss zugestanden wurde. Vor allem wohlhabendere Bevölkerungsschichten haben von den Veränderungen im Land nicht ausschließlich profitiert und teilen mit „Bolivia dijo No“ das Interesse daran, eine erneute Regierungsperiode unter Eva Morales zu verhindern.

Der gestrige Tag war ein Vorgeschmack auf die Proteste, die mit den immer näher rückenden Wahlen einhergehen werden. Meinem auf jeden Fall bisher noch recht oberflächlichem Eindruck nach sind Land und Bevölkerung gespalten: Einige verehren Evo für seine von sozialen Maßnahmen geprägte Politik, die vor allem bisher marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu Gute kommt,  Andere sehen Bolivien an der Schwelle zur Diktatur. Zwischen den unterschiedlichen „Meinungsgruppen“ kommt zu Spannungen und wird es auch weiterhin zu Spannungen kommen.

Atempause.

Hier folgt nun nicht wie angekündigt etwas mehr zu der wirklich schönen Stadt, in der ich jetzt sein fast drei Wochen lebe, sondern ein mit einem Lächeln auf den Lippen verfasster Bericht über einen der schönsten Tage, die ich bisher in Bolivien verbringen durfte. Ich muss dieses Erlebnis teilen!

Am Sonntag morgen machten meine Mitbewohnerin und ich uns gnadenlos früh auf den Weg, um an einem von ihrem Studiengang, ihrer Universität aus organisiertem „Ausflug“ teilzunehmen. Doch Ausflug ist hier ein absolut unpassendes Wort, es war mehr eine Lieferung. Und zwar wurde innerhalb der Universität meiner Mitbewohnerin fleißig gesammelt, alles, was an Kleidung, Spielzeug und Essen aufzutreiben war. Damit machten wir uns dann in einer kleinen Gruppe Student*innen auf den Weg Richtung Oruro, einer anderen großen Stadt Boliviens, die ungefähr 4 Stunden entfernt und um einiges höher liegt, um in einigen Dörfern, die an der vielbefahrenen Straße nach Oruro liegen, die Spenden zu verteilen.

Doch auf den Weg gemacht haben wir uns nicht – wie von mir angenommen – in einem kleinen Bus, sondern auf der Ladefläche eines Pick-Ups, eingekeilt zwischen Haufen gespendeter Kleidung, einem Sack mit Brot für Straßenhunde und einem riesigen Topf Kartoffelsuppe, unserem Mittagessen. Ich genoss unsäglich das Gefühl, für längere Zeit unter freiem Himmel zu sein, die frischer werdende Luft einsaugend und die sich um uns herum erhebenden Bergketten bewundernd.

In den Dörfern verteilten wir dann Spielzeug und Kleidung an die Familien. Scheinbar waren ihnen Lieferungen dieser Art schon bekannten, denn kaum hielten wir auf einem der größeren Plätze in den Dörfern, waren wir sogleich von Müttern und Vätern mit ihren wuselnden Kindern umgeben. Obwohl wir eine riesige Menge an Sachen mitgebracht hatten, glich das Verteilen einer Art Kampf. Alle Eltern wünschten sich für ihre Kinder nur die schönsten Spielsachen, die wärmste Kleidung. Doch egal welches Spielzeug wir einem der Kinder in die Hand drückten, die Freude und Faszination war groß.

Ich möchte eigentlich nur noch Bilder sprechen lassen. Aber lasst mich noch eines festhalten: Was diesen Tag für mich so besonders gemacht hat, was das Gefühl, dem Land so nah zu kommen, wie in meinem Kosmos aus Privatschule und europäisch geprägter Großstadt noch nie zuvor. Ein Tag, der mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Vielleicht auch, weil ich einen herrlichen Sonnenbrand von meiner Fahrt unter der brennenden Bergsonne davongetragen habe…