Mi hogar.

Ich sitze an meinem Schreibtisch unterhalb der mehr schlecht als recht schließenden Fenster meines Zimmers. Ich blicke Richtung Süden, wo die Strahlen der abendlichen Herbstsonne auf die Berge der Zona Sur fallen. Lange hat es nicht geregnet, ungewohnt nach der langen Regenzeit der letzten Monate. Inzwischen ist die blaue Stunde, also um 18 Uhr herum, kurz vor Sonnenuntergang, meistens klar und lau, wird nicht mehr von bedrohlichen Gewitterwolken verdunkelt. Wie oft haben mich diese Regen verheißenden Gebilde veranlasst, so schnell wie möglich meine noch leicht feuchte Wäsche vom Garten auf das Treppengeländer im Haus zu verlagern, sicher vor einer zweiten Wäsche durch sintflutartige Regenfälle.

Dieser Blick erfüllt mich immer wieder mit einem warmen Gefühl. Wie froh ich bin, dieses Haus gefunden zu haben, meinen Ort, mi hogar. Seit nunmehr drei Monaten lebe ich hier. Mit dem Umzug aus der Zone Norte, einem der reichsten Teile der Stadt, hierher, ans Cruce Taquina, einen der belebtesten Kreisverkehre der Stadt, hat sich eine der meine Zeit am positivsten beeinflußenden Veränderungen eingestellt. Vorher habe ich in einem Viertel gelebt, welches zwar als edel und sicher gilt, dessen Straßen nach 18 Uhr allerdings gähnend leer vor mir lagen. Was für ein Kontrast zu meinem jetzigen Viertel!

Die belebte Avenida Simon López, direkt vor meiner Haustür.

Und eben diese Haustür!

Dieses belebt sich schon um sechs Uhr morgens, wenn die ersten Cholitas ihre Sonnenschirme aufbauen, um darunter ihre Pyramiden von Mandarinen und Äpfeln aufzutürmen, wenn die ersten Imbisswagen, besser gesagt, mit Töpfen beladene Schubkarren, über den holprigen Asphalt rollen. Wenn die ersten Tagelöhner aus den benachbarten Vororten auf den Bordsteinen Platz nehmen, vor sich ein Schild, auf dem die angebotene Dienstleistung geschrieben steht. Nicht zu vergessen die riesigen Säcke voller Coca-Blätter, die die hart körperlich Arbeitenden über den Tag mit frischer Energie versorgen sollen.

Wir erleben hier gerade eine gnadenlose Überproduktion von Mandarinen, die zuhauf von LKWs wie diesem verkauft werden.

Diese Straße führt direkt zum nur zwei Blöcke entfernten Markt. Das weiße Haus, das ihr noch zum Teil erspähen könnt, ist gerade mein Zuhause.

Am Mittag werden dann aus beinah jedem Hauseingang, jedem Garagentor schwere Schilder gewuchtet, fast alle mit ähnlichen Aufschriften: almuerzo familiar, also Mittagessen im familiären Rahmen. Für 10 Bolivianos, also umgerechnet 1,25€, kann man sich hier mit traditionellen Tellergerichten, meist Fleisch oder Hühnchen, begleitet von Kartoffeln, Reis und Salat sowie natürlich Llajwa, einer scharfen Soße aus Locoto und Tomate, den Bauch voll schlagen. Wenn du viel Glück hast, bekommst du noch ein hausgemachtes refresco, also ein Erfrischungsgetränk mit vieeeeeel Zucker, als yapa, also gratis, dazu.

Ein Haus weiter kann ich mir jeden Mittag, wenn Zeit oder Motivation nicht zum Kochen reichen, den Bauch vollschlagen.

Nicht selten lassen mich die Namen der Gerichte nur rätseln – dann wird eben auf gut Glück bestellt!

Gegen Abend rollen dann wieder die Schubkarren über die Straßen, genauso wie die „echten“ Imbisswagen, die dann zuhauf am nur einen Häuserblock entfernten Kreisel positioniert werden. Langsam wird es kühler, es ist ein deutlicher Unterschied zu den zurückliegenden Sommermonaten erkennbar. Doch stiller wird es nicht: Fast jeden Abend gibt es Grund zu feiern, Cumbia und Reggaeton schallen aus der nahe gelegenen Markthalle oder aus Privathäusern durch das ganze Viertel, die Geräusche dringen durch die dünnen Wände bis an meine Ohren und zaubern mir ein Lächeln aufs Gesicht. Wie froh ich bin, der beklemmenden Stille, der Ausgestorbenheit meines alten Wohnorts entkommen zu sein.

Besonders ans Herz gewachsen ist mir auch dieses ganz besondere nachbarschaftliche Gefühl in Colquiri, wie mein Viertel auch heißt. Dass ich morgens immer mit den gleichen Leuten darum streiten darf, wer sich nun in das nächste, eigentlich schon überfüllte Trufi quetschen darf. Dass ich in der tienda gegenüber schon mit Umarmung durch die Tochter den Ladenbesitzerin begrüßt werde, wenn ich mal wieder in Flipflops und Jogginghose über die Straße schlappe, um mir die obligatorische Cola Zero (ja, ich bin süchtig) oder ein großes Stück eigentlich viel zu salzigen Käse zu kaufen. Dass die bestimmt schon über 80jährige Cholita an der nächsten Ecke mir es mit ihrem  herzlichen Lächeln auf ihrem bereits von tiefen Falten durchzogenen Gesicht es mir unmöglich macht, vorbeizugehen ohne 25 Mandarinen für unschlagbare vier Pesos zu kaufen. Zum Glück sind hier im Haus acht hungrige Mäuler zu stopfen. Und Mandarinen mögen wir fast alle gern.

Die tienda meines Vertrauens, genau auf der anderen Straßenseite.

Immer wieder verlasse ich nach einem langen Tag in der Schule am frühen Abend zu der von mir heißgeliebten blauen Stunde das Haus, um auf einem kurzen Spaziergang durch mein Viertel nochmal die Gedanken schweifen zu lassen. Bestimmt höre ich irgendwo Cumbia. Oder kaufe noch mehr Mandarinen!