Der Tanz im März.

Wie sagt man doch so schön: Besser spät als nie! Meine Vorliebe für abgedroschene Kalendersprüche zahlt sich hier einmal mehr aus und hilft mir, diesen doch recht verspäteten Eintrag über den bolivianischen Karneval auf gebührende Art und Weise einzuleiten.

Dass im Ausland so wenig über den bolivianischen Karneval, die bolivianische Folklore allgemein bekannt ist, lässt mich nach sieben Monaten hier nur Staunen. Denn kaum etwas erscheint mir für die Kultur dieses Landes so charakteristisch wie seine Umzüge; auf keiner der zahlreichen Feiern dürfen die traditionellen Tänze fehlen. Die Begeisterung für diese zieht sich durch alle Altersgruppen: Die jüngsten Mitglieder der Tanzgruppen können sich meist geradeso auf den Beinen halten, werden also in den wahrscheinlich schon von ihren Eltern praktizierten Tanz quasi hineingeboren. Und zum Karneval im Mai jedes Jahres werden sogar diejenigen wieder aktiv, die das Tanzen eigentlich aus Altersgründen längst an den Nagel gerissen haben.

Getanzt werden viele verschiedene Tänze, ich werde versuchen euch von einigen, über die ich inzwischen wenigstens das Grundlegende zu wissen glaube, ein Bild mit Worten zu malen:

Zunächst einmal natürlich der Tanz, dem ich mich hier verschrieben habe: Tinku, oder auch Tinkus, stammt aus dem Landesteil Potosí. Zu unterscheiden gilt es hier zwischen zwei Dingen: Erst einmal zu dem seit langer Zeit zu Ehren Pachamamas praktizierten Kampfritual Tinku. Jedes Jahr im Mai treffen im Norden Potosís Kämpfer verschiedener indigener Gemeinden aufeinander. Unter Einfluss von Alkohol wird solange gekämpft bis Blut fließt, welches dann das Opfer an Mutter Erde darstellt. Den gleichen Namen trägt auch der Tanz, den ich hier seit inzwischen einem halben Jahr übe. Entsprechend kämpferisch muten auch die ausgeführten Bewegungen an, begleitet von lauthalsen Rufen auf Quechua.

Ich habe mich damals dafür entschieden Tinku zu tanzen, weil mir die Bewegungsabläufe komplexer und interessanter erschienen als bei einigen andern Tänzen. Inzwischen habe ich festgestellt, dass keinem der folkloristischen Tänze hier seine Komplexität abgesprochen werden kann, oh nein, beim Salay zum Beispiel, sehr vereinfacht beschrieben einer Art Stepptanz, verknoten sich mir regelmäßig die Beine…

Auch gefiel mir gut, dass die Frauenschritte beim Tinku wenig geziert, sondern sehr kraftvoll, eben kämpferisch anmuten. Ebenfalls kommt mir gelegen, dass das Tinku-Kostüm, unsere „traje“, mit einem sehr langen Kleid für mich, mit meinen 1,85m, um einiges besser geeignet ist als zum Beispiel die kurzen Röcken der Caporales-Tänzerinnen.

Wo wir dann gleich am richtigen Punkt angelangt wären, um elegant zu einem weiteren Tanz, dem Caporales, hinüberzuleiten. Dieser entstand im vergangenen Jahrhundert im Landesteil La Paz. Bezug genommen wird auf die Epoche der Kolonialgeschichte, in der die spanischen Invasoren afrikanische Sklav*innen nach Bolivien brachten, um so noch effektiver Bodenschätze abbauen zu können.

Die Männer tanzen große, dynamische Schritte und stecken dabei in Stiefeln, die mit zahlreichen Glöckchen versehen sind. In einer Hand halten sie einen breitkrempigen Hut, mit dem sie raumgreifende Bewegungen ausführen. Porträtiert werden so Vorarbeiter, die untergebene Sklav*innen zur Arbeit antreiben. Das Glockenklingeln soll hierbei an das Klirren der Ketten der Ausgebeuteten erinnern.

Die Bewegungen der Frauen hingegen sind kleiner, graziler und haben keinen so eindeutig erkennbaren historischen Bezug.

Ein interessantes Detail: Sämtliche Kostüme sind über und über mit Pailetten bestickt. Manchmal sind sogar kleine LED-Lämpchen auf ihnen angebracht. Warum? Nun, das kann ich mir auch nicht genau erklären.

Keinesfalls unerwähnt lassen möchte ich außerdem die Diablada, einen Tanz aus Oruro, der Stadt Boliviens, in der der Karneval am größten und traditionsreichten begangen wird. Dieser Tanz ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Feuerwerk für die Sinne, er besitzt eine unglaublich detaillierte Choreographie, verschiedenste Charaktere und die diversesten Kostüme.

Dargestellt wird, grob gefasst, der Sieg des Guten über das Böse, genauer gesagt besiegt der Erzengel Michael den Teufel. Teilnehmen tun noch eine Reihe weitere Figuren, die zum Beispiel sieben Sünden oder sieben Tugenden darstellen sollen.

Die Aufführung einer Diablada, die einem Theaterstück an Materialaufwand und Länge gleichkommen kann, wird manchmal durch besondere Effekte in Form von Feuerwerk begleitet. Atemberaubend!

Der Vollständigkeit halber folgen hier noch die Namen einiger anderer Tänze: Salay, Saya Afroboliviana, Cueca, Morenada, Tobas, Phulljay… Die Liste ließe sich um ein Leichtes fortsetzen!

Die Karnevalszeit erschien mir als bisher größte und längste Festivität während meines Aufenthaltes hier. Fast jede Stadt, jedes Dorf hat seinen eigenen Umzug, der ganze März steht im Zeichen des Karnevals. Am größten wird dieser wie gesagt in der Bergbaustadt Oruro begangen, aus der auch die Diablada stammt. Ebenfalls große Umzüge gibt es in La Paz, Cochabamba, Tarija und Santa Cruz. Hier lässt sich interessanterweise feststellen, dass die Umzüge sich mindestens genauso stark unterscheiden wie die Regionen an sich. Wie so oft zeigen sich eindeutige Unterschiede zwischen dem Karneval des Occidente, also den westlichen Landesteilen, und dem des Oriente, also zum Beispiel dem in Santa Cruz. Ich habe mir sagen lassen, dass die Feier dort dem Karneval in Rio zu ähneln scheint. Ganz im Gegensatz zu beispielweise der in Oruro.

Mich hat dieser Monat, der mir wie ein langanhaltender Ausnahmezustand vorkam, umso eindrücklicher davon überzeugt, was für einen hohen Stellenwert die bolivianische Folklore auch innerhalb der modernen Gesellschaft noch einnimmt. Ich lege euch ans Herz, euch selbst von der Eindrücklichkeit dieser Feierlichkeiten zu überzeugen, es gibt zahlreiche Videos zu sehen!