Das Gedicht kommt zu früh

Atem wiederfinden, in dieser Beziehung.

Mein Körper kann’s noch nicht ganz fassen.

Dass das jetzt wirklich endlich war.

Umso besser, dass da Luft ist.

Ich ringe schon nach innen hin.

Seh dich auf dem roten Sofa,

liegend wie ein Embryo.

Auf dem Stuhl, mit freien Schenkeln.

Im Bett, dein Kopf, am Arm entlang,

dein schwarzes Haar am weißen Körper.

Hast dich eingeschrieben in die Möbel.

Dein Geruch im Kissen.

Ich könnt dran riechen, stundenlang.

Nummer löschen reicht nicht aus.

Brauch die Liste

Mit den Sperrmüllterminen.

Das Gedicht kommt zu früh.

Später, am Tag, soll was passiern.

Früh morgens durch die Stadt.

Heimkommen.

Menschen in der Bahn, wir sind anders. Irgendwie.

Feixen, schwelgen, teilen unseren Schock.

Schauen auf den Tag. Und die Nacht.

Leere Bürgersteige, bisschen Wind. Zum Glück, ich atme.

Lange her, so in der Früh.

Rentner holen Zeitung rein. Gelbe Lichter aus der Wohnung.

Ich bin verliebt, und ahn‘s noch nicht.

Später, am Tag, soll was passiern.

Müder Kopf bringt mich ins Bett.

Schaltet stumm, Gott sei Dank.

Grauer Himmel, Kaffee, Toastbrot.

Tag ist aus der Zeit gefallen.

Mein Herz fängt wieder an, zu schlagen.

Wegen dir? Oder des Koffeins?

Oben, am Balkon zum fünften Stock, da seh ich Sonnenlicht.

Schickt mir einen Abschiedsgruß.

Ich denk an dich.

Scherz am Rande

Ein Junge und ein alter Mann saßen sich an einem Tisch im Café gegenüber. Die Nachmittagssonne lag auf den Schultern des Mannes, im Gesicht des Jungen. Der Mann erzählte, der Junge hörte zu. Zwischendurch pausierten sie. Tranken. Lecker schmeckte die süße Schorle, die der Junge bestellt hatte.

Der Kellner kam, und bat die beiden, ihre Daten zu hinterlassen. Es waren diese Zeiten, in denen man sich überall in Listen eintragen musste. Als Treuebeweis. Dem alten Mann ging’s auf den Sack.

„Die denken wieder, wir sind Vater und Sohn!“, stänkerte er, denn der Kellner hatte ihnen nur eine Liste gebracht. Der Junge lachte. Der alte Mann gluckste. Und wenn’s so wär? dachte der Junge, und lächelte den alten Mann an. Wie wäre ich dann? Wie wärst du dann?

Mindestens ein Instrument würd ich spielen, und Noten rückwärts lesen können, Freunde hätt ich, und ulkig wär ich, und ziemlich peinlich würd ich dich finden. Prahlen würd ich mit meinem Wissen. Und gähnen, wenn’s ne Premiere gäb.

So spekulierte er fort, bis der alte Mann den letzten Schluck seines Kaffees austrank und, so der Lauf der Dinge, aufstand. Er erzählte dem Jungen beherzt, was er noch zu tun hatte. Der Junge nickte.

„Kann ich das abräumen?“, fragte der Kellner. Der alte Mann bejahte. Und ehe der Kellner ein Wort von der Rechnung sprach, fügte der alte Mann hinzu: „mein Sohn zahlt!“

Der Scherz war wärmend. Der Junge schmiegte sich ins Lächeln des alten Mannes. Er hätte ihm gerne einen Scherz zurückgegeben. Vielleicht auch was Provozierendes. Was Pubertäres, wie es Söhne tun. Der Mann schien zufrieden mit dem Lächeln und ging. Der Junge war auch zufrieden.

Dann, als er schließlich alleine war, aufgewühlt, wütend auf den alten Mann, was dieser sich erlaubte. Wie er ihn nannte! Aus heiterem Himmel.

Er beruhigte sich, machte es sich auf dem sanften Scherz bequem, und genoss die Sonne. Er war berührt, als wär‘s kein Scherz gewesen.

Ossobuco

Ein Sohn rief seinen Vater an, weil er seine Stimme hören wollte. Der Vater nahm den Hörer ab.

„Hallo?“

Dem Sohn gefiel die Gewissheit, zu jeder Minute, jeder Stunde, eine Begrüßung des Vaters zu hören.

„Hallo, Papa!“, euphorisch überschlug er sich und machte es sich mit dem Hörer am Ohr gemütlich.

Bald kamen sie auf die Krankheit des Vaters zu sprechen. Leider. Denn egal, was der Sohn sagte, der Vater vermochte irgendeine Assoziation zu seiner Krankheit herzustellen. Sprach er einmal von seiner Krankheit, dann drehte er minutenlange Kreise, wütete, tobte, litt. Der Sohn schaltete ab, sank in seine eigene Welt. Rauschen. Nebel. Dafür hatte er ihn nicht angerufen. Sein Selbstmitleid, seine Angst, sein Zorn. Er verlor seinen Vater und umgekehrt. 

Dann, irgendwann, fragte der Vater: „weist du denn schon, was du dir heute Abend kochst?“

Der Sohn schüttelte den Kopf. Schwieg. Paprika mit Gehacktem? Pfannekuchen? Nudeln?

Der Vater wartete nicht lange, begann von seinen Essensplänen zu erzählen. Lebendigkeit kehrte ein. Detailliert beschrieb er dem Sohn, wie er das Ossobuco zubereiten wollte, was er garen, wie lange er es köcheln und womit er würzen wollte. Der Sohn interessierte sich, denn er wusste, dass der Vater gut kochen konnte und dass ihm gutes Essen viel bedeutete. Er stellte Fragen und versuchte zu verstehen, welche Arbeitsschritte es einzuhalten galt. In diesen Momenten spürte er seinen Vater. Lächelte am anderen Ende der Leitung und trocknete seine Tränen.

Sie verabschiedeten sich. Der Sohn begann zu kochen. Und es schmeckte. Besser als das Essen.

Musik im Haus

Ein Junge lag in seinem Bett und versuchte einzuschlafen. Das Flurlicht leuchtete durch die angelehnte Zimmertür. Er spürte es auf seinen Liedern. Nicht so, dass es ihn störte. Es wärmte. Um einzuschlafen, zählte er Schäfchen, dachte an ein schwarzes Loch, das rotierte, fuhr über die Hügel der Raufasertapete. Half alles nicht.

Plötzlich ertönte Musik im Treppenhaus. Wo kam sie her? Träumte er? Er schlug die Augen auf. Das vertraute Licht im Spalt. Kraftvolle Musik direkt unter ihm. Kein Traum. War das Disko? Eine Disko im eigenen Haus?

Er stand auf und tapste die Treppe runter. Mit jeder Stufe kam er dem Bass näher. Kalt waren die Flurfliesen unter seinen nackten Füßen. Die Musik kam zweifelsfrei aus dem Wohnzimmer. Laut. Kraftvoll. Rhythmisch. Viele Begriffe, mit denen er nichts anzufangen wusste. Er zögerte. Wer hatte die Musik angemacht? War jemand außer ihm und seinen Eltern im Haus? Er fasste seinen Mut und griff an die Klinke.

Alles war dunkel. Im Kaminofen brannte Feuer. Es leuchtete orange, gelb und rot. Der Bass war voll zu hören. Eine Schallplatte drehte ihre Runden. She’s an easy lover, She’ll get a hold on you believe it, She’s like no other, Before you know it you’ll be on your knees. Sein Vater stand in der Mitte des Wohnzimmers. Die Beine angewinkelt, die Finger gespreizt, den Kopf im Nacken. Er sang aus vollem Herzen. Was der Junge sah, verstörte ihn. Sein Vater bemerkte ihn und tanzte weiter. Der Junge trat ein und setzte sich vor den Kaminofen. So musste Disko sein.

 

Illustration: Freya Lina Knauer

Silvester-Likör

Ort: am Hörer und in einer Telefonzelle. Personen: junge Frau, am Anfang ihres Lebens; alte Frau, am Ende ihres Lebens.
Alte Frau: Ich war heute bei Käthe. Und da hab ich diesen usseligen Silvester-Likör mitgenommen und wir haben ein Glas getrunken. Käthe und ich. Und haben ein bisschen gequatscht. Die fühlt sich ja so allein sonst. Und dann bin ich wieder hochgegangen.
Junge Frau: Biste denn noch hoch gekommen?
Alte Frau: Ach, von so ein bisschen Likör…
Junge Frau: Und die Käthe hat den auch gut verkraftet?
Alte Frau: Die Käthe erst recht. Die sagt immer, dass sie nicht viel verträgt. Aber in Wahrheit zählt sie gar nicht mehr mit.
Junge Frau: Aber du zählst mit?
Alte Frau: Nein. Ich schau zu. (kichert)
Junge Frau: So kenn ich dich ja gar nicht. Du lachst ja wie beim Pfuschen.
Alte Frau: Es ist nicht wahr! Was ich mir immer anhören muss. Ich spring gleich durch den Hörer!
Junge Frau: Und ich fang dich auf.
Alte Frau: Das will ich auch hoffen.
Junge Frau: Jedenfalls geb ich mir Mühe.
(Schweigen)
Junge Frau: Ich denk an unseren Abschied zurück. Als ich gesagt hab ‚Danke, dass ich bei dir sein durfte.‘ Und du gesagt hast ‚Du Spinner! Du weißt doch, dass du immer bei mir sein darfst‘
Alte Frau: Ja, so ist das auch.
Junge Frau: Und das Gefühl, bei jemandem sein zu dürfen, das beschreibt einfach, wie ich mich fühle. Nämlich, dass ich nicht weiß, wohin mit mir.
(Unterbrochene Verbindung)
Alte Frau: Sina? Ich hab dich nicht mehr gehört. Du warst einfach weg. Also irgendwas war da mit der Verbindung. Du warst ganz verschwommen. Hast du das auch gehört? Da war so ein Rauschen. Bist du wieder da?
Junge Frau: Ich wollt dir bloß sagen, dass ich dich lieb hab.
Alte Frau: Sina. Ich liebe dich auch.

tanzum, freisam

Wenn du wüsstest, was es mir gibt, zu tanzen.

Jene Freiheit auf der Welt, mit der ich etwas anzufangen weiß.

Die meine.

Die ich in vollen Zügen auskosten, in Gänze zu bewegen liebe.

Zwar mag ich mich schämen unter mancherlei Blicken.

Aber bin ich einmal bei mir, ist die Scham einmal fort, ist die Freiheit einmal da,

so tanz ich und tanz,

vermag ganze Gedankenstränge zu vergessen.

Denn es lässt sich nicht in Worten tanzen.

Nur auf sie hören. Und zuweilen auf ihnen atmen.