Autor: Pauline Strempel
Frage ans Unbewusste
Kann das Unbewusste Albträume nur hervorbringen, wenn es sich in Sicherheit wähnt? Weit weg vom Schuss? Am Meer in Frankreich? In der Ferne? Fürchtet sich das Unbewusste?
Die Silhouette
Ein Mädchen stand an einem See, umrundet von einer bunten Blumenwiese. Milliarden von Blüten erstreckten sich zum Himmel. Sehr weit weg, an der anderen Uferseite, erkannte sie eine Silhouette. Aber ihr Gesicht war verschleiert. Jedes Mal, wenn sie versuchte, der Silhouette in die Augen zu blicken, hatte sie das Gefühl, an der Schönheit des Schleiers zu erblinden. Also wendete sie ihren Blick ab. Ein fürchterlicher Sturm stieß in ihre Richtung und ergriff sie. Die Umgebung war haltlos, es gab nichts, um sich festzuhalten. Sie verlor die Orientierung, wurde nach rechts, nach links, nach oben und unten gewirbelt. Zerstörung wütete über den Blüten. Sie wollte rennen, verstand bald, dass das nichts brachte, wurde vom Sturm gejagt, entlang des Sees, ließ sich schließlich vom Wind tragen, vom blinden Zorn. Plötzlich wurde sie vom Sturm umschlungen, sie selbst spürte Sturm. Sie sprang in den See, um sich zu befreien.
Das Leben im Wasser war wunderbar. Wie auf einem anderen Planeten. Ein blauer, purer Planet, unberührt, ausschließlich aus Kristallen, Eiszapfen und Schneeflocken bestehend. Die Kleine erfuhr, dass es sich um den Planeten der Tränen handelte. Gletscher bestanden aus Tränen, Grotten bestanden aus Tränen, alle Materie bestand aus geretteten und verwandelten Tränen. Benötigten die Kristalle neue Tränen, um ihre Glanzkraft zu erhalten, so würde der blaue Planet sie mit weiteren Tränen versorgen. Ein Leichtes. Und da der Ursprung allen Lebens auf dem Planeten Tränen waren, schmeckte es dort sehr salzig. Das Mädchen war fasziniert. Sie begann bald alle Schneeflocken und Kristalle einzufangen. Noch eine, eine Letzte, und eine Allerletzte. Sie bemerkte nicht, wie sie blau anlief, violett. Dann verlor sie das Bewusstsein. Kristalle, Schneeflocken und Eiszapfen verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Ihr Körper wurde schwer und verlor seine Spannung. Das Mädchen sank auf den Grund hinab, in die Tiefe, und noch tiefer.
Als sie nach Luft schnappte, war der Sturm vorüber. Plötzlich befand sie sich wieder auf der Blumenwiese, die den See umgab. Von sehr weit her hörte sie eine sanfte Stimme, die der Silhouette. Das Mädchen wurde wach, schnell stand sie auf und versuchte den Schleier der Silhouette auf der anderen Seite des Sees zu sichten. Sie ließ sich von ihrer Stimme leiten. Aber die Stimme schien sich mit jedem Meter, den das Mädchen zurücklegte, weiter zu entfernen. Ihr Lächeln verschwand aus ihrem verbissenen Gesicht. Sie marschierte und marschierte, weigerte sich, anzuhalten, strebte danach, die unerreichbare Silhouette zu erreichen.
Plötzlich näherte sich ihr zwei Fremde. Ihre Beine liefen den Fremden in die Arme. Immer schon waren die Fremden ihr weniger fremd gewesen als die Silhouette. Die Kleine in ihren Armen haltend, erklärten die Fremden, dass die Silhouette nur eine unter vielen anderen sei. Unglücklicherweise könnte sich jedoch genau diese nicht öffnen. Aber es würde andere geben, die dazu fähig wären. Aber welche? fragte die Kleine. Das musst du selbst herausfinden, antworteten die Fremden, und lächelten. Aber du findest es nur heraus, wenn du aufhörst, deinen ewigen Kreis um den See fortzusetzen, bekam die Kleine als Erklärung. Aber warum? fragte sie erschüttert und verwirrt. Weil das ein Teufelskreis ist, der den See umrundet. Um den Planeten der Tränen zieht sich ein Teufelskreis. Die Kleine schien sie nicht zu verstehen. Denn ihr Warum war Unmengen größer als die Fremden vermutet hatten.
Warum bestand der Planet nur aus Tränen? Warum erblinde ich an dem Schleier meiner Silhouette? Das Mädchen verlor sich in Fragen und Gedanken. Die Fremden, ihrerseits, schienen überfordert von den vielen Fragen, die sie sahen, aber nicht hörten. Eine schreckliche Stille breitete sich zwischen den Herzen der drei aus. Das Mädchen öffnete schlagartig die Augen. Als die Fremden die Schwere in den Augen der Kleinen sahen, sagten sie, es sei nicht schlimm. Die Öffnung seiner Silhouette hänge von dem Moment, den Umständen, der Position der Sonne und des Mondes, der Leuchtkraft der Sterne und der Gezeiten ab. Das alles sei weit, sehr weit.
Die Schritte des Mädchens wurden schwer, ihre Beine labil, und ihr blinder Wille, die Silhouette zu erreichen, wurde schwächer. Von Zeit zu Zeit schaffte sie es, sich von dem Teufelskreis zu entfernen, Abstand vom Planeten der Tränen zu gewinnen. Dafür suchte sie umso mehr die Arme der Fremden, die längst in der Ferne verschwunden waren. Wie zuvor von der Silhouette, wurde sie jetzt von den Fremden magnetisch angezogen. Aber auch wenn die Fremden sich öffnen konnten, waren sie keine Silhouetten. Die würde es nicht geben. Damals nicht, wie heute.
eingeholt
Im Raffer der Zeit:
Reinszenierung Reinszenierung Reinszenierung
einer Tragödie
die Vergangenheit rannte schneller
als die Zukunft
Großwerden
Opa spielte auf den Bühnen
der glorreichen Dreißiger
Papa wurde Börsenmakler
und ich schreib und denk
den Beginn
zu vieler Bücher
Werden entsteht
aus Not und Überschuss
nackt
aufgebahrt unterm Skalpell öffnet die Ärztin Hirn und Herz und verspricht mir sichere Führung ihrer passgenauen Fingerspitzen im Moment der größten Nacktheit hört die Fremde mich entblößter als jeder Nahestehende
Die Suggestion
Manchmal zieht mich die Musik
In einen blendenden Tunnel
Oberkörperfrei
Erfasst mich die Kälte
Und die Haut soll ihr trotzen
Unter schepperndem Bass
Bis die Wände vibrieren
Und nur der Gesang
Den Rausch kontrolliert
Den Kopf
Den Tanz
Die springenden Füße
Und sich der Oberkörper
Zur grellen Deckenwölbung neigt
Let me go blind tonight
Let me just lose lose lose
All bonds to reality
Let me be free
From load
From fuming thee
Singt die Stimme
In die Venen meines Körpers hinein
Volle Dröhnung ohne Schuss
Alles gut, alles bestens
Je länger der Tunnel
Desto größer der Abstand
Leere
Ist der Preis für die Suggestion
Tür zum Schmerz
I.
Schützen heißt nicht
Mauer aufbauen
Schützen heißt
Rückzug
Still
Und ohne Beschluss
In ein verriegeltes Versteck
II.
Hinter dieser Türe
Gibt’s kein Ego
Kein Lob, kein Schmerz
Nur Taubheit
Die Seele
Weit entfernt, tief verborgen
Unangreifbar
III.
Jedes Mal eine Errungenschaft
Wenn das Ich dorthin verschwindet
Doch dieses Mal
Zerbrach der Riegel
Zum ersten Mal
Ohne
Verschluss
Der Fallschirmsprung
I.
Eigentlich fühlt sich das Fallen
Nicht nach Freiheit an
Der Flug nicht nach Rausch
Zu schnell
Trifft man auf den Boden
Erschüttert
Betäubt
II.
Das Bodenlose:
Kaum zu erkennen
Schon als der Atem verschwindet
Im Geschwindigkeitswahn
Und das Bewusstsein verfliegt
Kündigt sie sich an
Die Härte des Asphalts
III.
Der Fallschirm selbst:
(Sofern er vorhanden)
Zwei einfache Hände
Die sich behutsam
Um die Schultern legen
Tragen
Und dämpfen