Silvester-Likör

Ort: am Hörer und in einer Telefonzelle. Personen: junge Frau, am Anfang ihres Lebens; alte Frau, am Ende ihres Lebens.
Alte Frau: Ich war heute bei Käthe. Und da hab ich diesen usseligen Silvester-Likör mitgenommen und wir haben ein Glas getrunken. Käthe und ich. Und haben ein bisschen gequatscht. Die fühlt sich ja so allein sonst. Und dann bin ich wieder hochgegangen.
Junge Frau: Biste denn noch hoch gekommen?
Alte Frau: Ach, von so ein bisschen Likör…
Junge Frau: Und die Käthe hat den auch gut verkraftet?
Alte Frau: Die Käthe erst recht. Die sagt immer, dass sie nicht viel verträgt. Aber in Wahrheit zählt sie gar nicht mehr mit.
Junge Frau: Aber du zählst mit?
Alte Frau: Nein. Ich schau zu. (kichert)
Junge Frau: So kenn ich dich ja gar nicht. Du lachst ja wie beim Pfuschen.
Alte Frau: Es ist nicht wahr! Was ich mir immer anhören muss. Ich spring gleich durch den Hörer!
Junge Frau: Und ich fang dich auf.
Alte Frau: Das will ich auch hoffen.
Junge Frau: Jedenfalls geb ich mir Mühe.
(Schweigen)
Junge Frau: Ich denk an unseren Abschied zurück. Als ich gesagt hab ‚Danke, dass ich bei dir sein durfte.‘ Und du gesagt hast ‚Du Spinner! Du weißt doch, dass du immer bei mir sein darfst‘
Alte Frau: Ja, so ist das auch.
Junge Frau: Und das Gefühl, bei jemandem sein zu dürfen, das beschreibt einfach, wie ich mich fühle. Nämlich, dass ich nicht weiß, wohin mit mir.
(Unterbrochene Verbindung)
Alte Frau: Sina? Ich hab dich nicht mehr gehört. Du warst einfach weg. Also irgendwas war da mit der Verbindung. Du warst ganz verschwommen. Hast du das auch gehört? Da war so ein Rauschen. Bist du wieder da?
Junge Frau: Ich wollt dir bloß sagen, dass ich dich lieb hab.
Alte Frau: Sina. Ich liebe dich auch.

Nach unserem Zuhause

Du erzählst mir, du seist an Silvester in Berlin, und fragst mich, ob ich da auch in Town wäre. Verlockend, denke ich mir, du und Berlin. Ich könnte nicht sagen, wen ich mehr liebe, wer mich mehr an den jeweils anderen erinnert. Gibt es ein Berlin ohne dich? Gibt es dich ohne Berlin? Ich muss mir das Papier nochmal zu Hand nehmen, deine Schnörkelschrift, deine unverwechselbar hochgestochene, unaufdringliche Sprache, um dich mir in Erinnerung zu rufen. „Du […] von Zweifeln über die große Zukunft geplagt […] ich dagegen ebenfalls aufgeregt […], glücklich, weil ich das Gefühl hatte, dass nach langem Zögern mein Plan endlich aufgegangen war.“, schreibst du. Ich sehe dich neben mir, wie wir auf Fahrrädern durch die Münchener Sommernacht schlittern, damals liegt Berlin schon mehrere Monate hinter uns. Du versuchst mich davon zu überzeugen, dass München doch viel mehr ist, als die saubere, hygienische, schicke Spießerstadt, die als Berlinkontrast schon immer in meinem Kopf existiert hat. In den Münchener Nachthimmel rufe ich meine Zukunft, als hätte auch diese schon immer existiert.

Ich sehne mich nach dem Dielenboden. Nach dem penetranten Rauchgeruch im Treppenhaus. Nach  Lichtermeer, das die Gleise beleuchtet und Berlinreisende schon vor Ankunft im Hauptbahnhof empfängt. Nach versteckten, in dunklen Gassen liegenden Jazzkellern. Nach Winter, beißender Berlinerkälte. Nach unserem Zuhause

Teil 2: Von dem, was ich höre

In meiner Nachhilfestunde saßen mir die altbekannten Gesichter gegenüber. Das Zuckergesicht und der kleine Klugscheißer, wie ich sie insgeheim nannte. Ein Viertklässler und ein Sechstklässler. Spätestens nach einer Stunde fingen die zwei an zu quatschen und ließen sich schwer von mir motivieren. Aus dem Gequatsche rief das Zuckergesicht plötzlich hervor: „Der [er zeigte auf den kleinen Klugscheißer] hat mich beleidigt! Der meint, mein T-Shirt sieht schwul aus!“. „Aber ‚schwul‘ ist doch keine Beleidigung!“, sagte ich. Langsam löste sich die Empörung aus dem Zuckergesicht. Das Gequatsche setzte wieder ein. Warum wachsen Viert- und Sechstklässler mit der Annahme auf, „schwul“ sei eine Beleidigung? Schwul sei etwas Peinliches, Beschämendes, etwas, dass es ermögliche, andere zu ärgern, zu stigmatisieren, sich verärgert zu fühlen?

In einer Fernsehshow wird sich offen über ‚das Schwule‘ und ‚Attribute des Schwulen‘, d.h. ein geschlechtsuntypischer Kleidungsstil, eine nasale Stimme, eine exotische Wortwahl […] lustig gemacht. Gesichter „der Homosexualität“ werden gewohnheitsmäßig gedemütigt und ins Lächerliche gezogen. Homosexualität wird als Mittel zur Skandalisierung, zur reißerischen Erzählung verwendet. Ist Homosexualität reißerisch? Ist sie skandalös?