Stille

Jedes Vogelgezwitscher
Jedes Kräuseln des Windes
Jedes Miauen
Jeder Gedanke dreifach so laut
Jedes Atmen doppelt so hörbar
Jedes Außeratemsein ein Segen
Jedes Gefühl unmittelbar
Sprengt die Stille, füllt den Raum
Stößt auf Resonanz
Auf die Katze, die Großmutter, den Vater
Hingabe
Ans Dasein

Lilagefärbter Beerenjoghurt

Gestern habe ich mir diesen komischen lila gefärbten Beerenjogurt gekauft, der in meinen letzten Urlauben tagtäglich auf eurem Frühstückstisch stand. Er schien den frisch gepressten Möhrensaft von früher in seinem Stellenwert zu ersetzen. Oftmals aßt du nur diesen Joghurt, beschmiertest unfreiwillig das Tischset und dein Gesicht, eines lilafarbener als das andere. Ich schielte zu dir rüber, zu deiner Joghurtzunge und deinem Joghurtspeichel, der in deinen Mundwinkeln aussah wie die Schwimmhäute einer Ente. Die leicht verdauliche Flüssigkeit war eine letzte karge Gewohnheit, die du annahmst. Sie gruselte mich. Und jetzt, Opa, jetzt habe ich mir tatsächlich diesen lila gefärbten Beerenjoghurt zugelegt. Das ganze volle Glas stopfe ich mit Haferflocken und Nüssen in mich rein. So eine eklige Scheiße, denke ich kopfschüttelnd, und schlucke weiter. 

Vole vole

Vole, vole, mon enfant
Vole légèrement à travers ta vie
Comme un petit oiseau qui découvre ses ailes
Laisse-toi emporter
Par un vent très léger
Et en platant,
Soigne toute ta douleur
Embrasse ton cœur
Quand il pique
Embrasse ton corps
Par un tendre doudou
Si jamais t’es seul
Dans l’air

L’ange et le diable

Quand tu me demandes

Si ta pote elle me plaît plus –

Jeanne,

Aux lèvres rouges, aux cheveux noirs,

des yeux qui ignorent mon regard

Une dirigeante à lassitude

Un certain esprit sans motif

– j’ai peur

et je te dis :

C’est ta personnalité que je préfère,

en faisant des énumérations

pour gagner en raison

puisqu’il est raisonnable

de choisir l’ange au lieu du diable

Die Kraft der Angst

Die Kraft der Angst

Wenn ich keine Angst (vorm Tod) mehr hätte,
Würd ich sterben (paradoxerweise)
Ja, ich würd mit meinem Surfboard auf die raue See rauspaddeln, hyperventilierend und berauscht vom Anblick der Brandung, der Wassermasse, würde erregt weiter paddeln, bis mir bei einem Tauchgang irgendwann die Luft ausginge, ich unter Normalnull um Atem ringe, und stürbe.

Wenn ich keine Angst mehr hätte, hätt ich dann noch Adrenalin?
Würd ich dann überhaupt noch in die Wellen ziehn? Oder wär mir das alles viel zu schöde? Viel zu lahm?

Und Mut? Hätt ich dann noch Mut?
~ Mut heißt nicht keine Angst zu haben, singt Sarah Lesch, sim, sim, Mut heißt nur trotzdem zu springen. ~
Ohne Angst gäb es kein Trotzdem mehr.
Stolz wohldenn, den gäb es trotzdem noch. Auch ohne Trotzdem.

Ohne Verlustangst, wüsst ich da noch um den Wert der Dinge? Der Liebe?

Holz

Kindheitserinnerung reloaded. Wir sind im Wald, Mama, Papa und ich – eine der wenigen Erinnerungen, in denen wir alle zusammen sind, und die ich vermutlich habe, weil wir zusammen sind. Der silberne Ford Focus steht mit geöffnetem Kofferraum am Waldrand. Wir laufen über zerzaustem Waldboden, ein Schlachtfeld an wüst umherliegenden Ästen und gekappten Bäumen. Wie Arbeiterwespen schwärmen wir aus, um Brennholz für unser Nest zu suchen, für unsere Nestwärme. Wir machen das öfter. Mehrmals im Jahr fahren wir in den Wald, um Holz zu sammeln, das im Garten gesägt, dann gespalten und schließlich im Schuppen aufgeschichtet wird, um dort zwei Jahre lang zu trocknen. Meine Aufgabe ist es, kleine „Käsestücke“ einzusammeln, die Enden von dicken Stämmen, die ich (als vielleicht Zehnjährige?) tragen kann. Ich erinnere mich an das Gefühl, beschäftigt zu sein, schwer zugange zu sein. An einsetzenden Hunger. Ich rieche Waldluft, erdigen Boden, der unter meinen dicken Profilschuhen nachgibt, leicht sinke ich ein und drücke mich von dem organischen Material wieder ab; der federnde Boden und die sperrigen Schuhe geben mir das Gefühl von Trainingscamp, zum Aufbau von Kondition und Durchhaltevermögen. Wir machen eine Pause, setzen uns in den Kofferraum. Mama öffnet eine Thermosflasche, die heiße Wienerwürstchen enthält. Ich empfinde Belohnung, die haben wir uns verdient, diese superleckeren Wienerwürstchen. Dann später Sättigung, Geborgenheit.

Antoine Villoutreix

Es ist Frühjahr, permanent scheint Sonne, Menschen sind im Park unserer Wohngegend oder im Stadtzentrum. Die WG ist lichtdurchflutet, bis 12 Uhr dringt die Sonne an der Ostseite ins Wohnzimmer, ab 14 an der Westseite. Das färbt den Innenraum. Die Wandfarbe der Wände ist mattes Deckweiß, der Boden wirkt gelb gebleicht. Alle halbe Stunde robbe ich nach hinten, um weiter im Sonnenfleck zu baden. Wir verbringen die letzten Tage miteinander. Den Abenden haftet Melancholie und Genuss an, ein bisschen Bohème. Bei Sonnenuntergang sitzen wir auf dem Balkon und trinken Rum. Zwei Wochen später sind meine liebsten Mitbewohner ausgezogen. Ihre Zimmer sind leer. Nur einmal erlaube ich mir das Pathos, ihre ehemaligen Zimmer zu betreten, und die Leere zu begutachten, das Gewesene. Wir feiern Abschiede. Letztes gemeinsames Abendessen, vorletztes Auf Wiedersehen, Auszug Nummer eins, Auszug Nummer zwei. Vorletzter WG-Putz, letzter WG-Putz, letzte Verantwortlichkeiten. Alles hat Bedeutung. Ich erlebe einen Bewusstseinsmoment: hier ist ein Cut, hier ist das Ende unseres gemeinsamen Lebens. Ich weine, und umarme sie. In der leeren lichtdurchfluteten WG übermannt mich der schlimmste Liebeskummer aller Zeiten. Ich muss raus, muss tun, mich beschäftigen. Ich will meiner inneren Unruhe über äußere Reizüberflutungen entkommen. Eine Art Aufbruch. Auf, in die Welt. Und Bruch mit einer erlebten Geborgenheit, mit dem Schönen von Bordeaux, das mir jetzt schmerzlich, verdorben und belegt vorkommt. Zu den wenigen einsamen Momenten, die ich zuhause in der leeren WG verbringe, läuft Musik: Antoine Villoutreix, ganz im Vordergrund. Melancholisch dudelnder Folk. Ein bisschen übertönt er die innere Lautstärke. Die Zeilen sind sanft, fast belanglos.

Kultur-Familie

Papa und ich befinden uns auf der Bühne, das Stück ist vorbei. Wir erfahren, dass es keine Zugabe geben wird, trotz Premiere. Dann scheint es, als würdet ihr doch auf die Bühne kommen. Ich schäme mich ein bisschen für meinen Voyeurismus. Schnell verschwinden Papa und ich von der Bühne, suchen uns Plätze in der ersten Reihe, er setzt sich links vor die Bühne, ich mittig, zwischen uns ist ein Platz frei, kurzerhand setze ich mich doch neben ihn. Dann tauchst du auf. Nach der Zugabe versetzen sich die Menschen im Theatersaal in Bewegung. Im Aufstehen und Getümmel schaust du in meine Richtung, ohne dass sich unsere Blicke treffen. Du kommst zu uns. Wir reden über Papa (ich erinnere mich nicht über was genau). Papa benimmt sich wie ein pubertierender Junge, überdreht und findet sich cool. Ich sage: „Und genau das ist das Problem!“ Daraufhin formt er mit seinen Fingern ein Loch, drückt sein Becken nach vorne, tut als hielte er seinen Schwanz und pinkelte in meine Richtung. Du nimmst das alles zu Kenntnis, wertfrei. Dann fragst du: „Ein Teil deiner Familie war doch eine Kultur-Familie, oder?“