Jenes Frühjahr

Ich liege auf der Betthälfte neben meiner Oma, meinen Kopf auf den Unterarm gestützt, und denke ans Frühjahr. Mit ihrem steifen Körper, den sie in Zeitlupengeschwindigkeit aus dem Sitzen in eine Embryostellung dreht, liegt sie unterhalb des Kopfkissens und rollt ihre Augen zu mir hoch, nach schrägoben. Wir erzählen von Gott und der Welt und manchmal fangen wir an, zu giggeln, meistens wegen irgendwelcher skurrilen Begegnungen. Der Bürgermoaster. Der Schriftsteller ohne Charisma. Die betont eloquente Großtante und ihr Saarbrücker Dialekt. Irgendwann schläft Oma ein. Sie spricht im Schlaf. Laut und deutlich spricht sie Wahrheiten aus. Ich reiße mich zusammen, um nicht loszuprusten. Das Licht der Straßenlaterne sprenkelt durch die kleinen Löcher des Rollos und wirft ein Muster an die gegenüberliegende Wand. Ein Bild, das ich aus einem Urlaub von vor ungefähr 15 Jahren erinnere. Kuhglocken, die treibende Stimme des Bauern, das Scharren der Tiere, ich blinzele.

In jenem Frühjahr gehe ich morgens ein Schokocroissant vom Dorfbäcker holen, Hinweg, Rückweg, eine asphaltierte Straße an drei Bauernhöfen vorbei, klare saubere Luft, Güllegeruch. Wir frühstücken. Das Sonnenlicht streift das kühle, feuchte Gras und fällt durchs Küchenfenster. Es zieht uns nach draußen. Ich schreibe, Oma liest Süddeutsche. Dann Mittagessen, Fahrradfahren, spazieren, Abendessen. Zwischendurch Gespräche. Fragen, Erinnerungen, Antworten. Zahllose Fragen übers Leben und Lieben und Leiden. Über Trennung, Verlassenwerden, Vergangenheit, übers Gewicht der Vergangenheit. Und sie, meine Oma, fängt das Gewicht auf, mit ihren Augen und ihren verständnisvollen Worten, und manchmal, wenn sie unruhig nach vorne wippt und anfängt, zu summen, bekomme ich ein schlechtes Gewissen.

Ein halbes Jahr später verbrenne ich den 40-seitigen Text aus jenem Frühjahr. Das Feuer saugt ein Blatt nach dem anderen nach oben, fackelt zuerst die Ränder an, zieht das Blatt dann langsam in die Tiefen des Kaminofens, und knetet es dort hinten zu schwarzgrauen Hortensienblüten zusammen. Es sieht magisch aus. Ich schaue dem Feuer bewundernd zu. Jetzt riecht’s nach Feuer, sagt Oma. Jetzt riecht‘s nach Rauchvergiftung, sage ich.

Ich gärtnere lange und ausgiebig in jenem Frühjahr. Ich saue mich ein, meine über die Knie geschobene Adidas-Jogginghose, mein weißes T-Shirt, Opas rote Cap, auf der nieder mit Goethe! steht. Meine schwarzbraun befleckte Haut, mein Schweiß, das in Dauerschleife laufende Lied Frénésie von Réné Aubry. Ich ziehe gedankenverloren das Unkraut aus der trockenen Erde. Erster voller Eimer. Zweiter Voller Eimer. Freudestrahlende Oma. Lob. Dritter voller Eimer. Noch ein Lob. Weniger Tränen von Woche zu Woche. Weniger Tränenflut. Heilung? Und die vielen Witze über meinen versauten Körper.

Der Chat mit meiner Tante ist ein Zeugnis all jener Witze. Ich scrolle durch die vielen Anekdoten, die skizzierten Dialoge. Oma hat grad versehentlich statt einer Rommé-Karte ein Kartoffelchips gezogen, schreibe ich. Ich zu Oma: siehst du, das meine ich mit dem Alkohol. Oma: Schnauze! Tage später: Omas Idee, mit dem Astl-Bus nach Meran zu fahren. Das Magazin der Süddeutschen bewirbt Südtirol. Ich geh ne Runde Fahrradfahren, sage ich. Und wann fahren wir nach Meran? Fragt sie. Ich hingegen freue mich auf Lets Dance, jeden Freitagabend, und hoffe, dass Oma vergisst, dass sie vorhatte, ins Bett zu gehen. Große Vorankündigungen an den Tagen zuvor, große Vorfreude. Andere Vorankündigung: Oma hat dem Pflegedienst gesagt, dass morgen angeblich der Bürgermeister kommt, um ihr nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren. Schreibt meine Tante. Waaaas. Schreibe ich. Dann sehr viele Lachsmileys. Dann: Das hat sie bestimmt geträumt.

Gerade träumt sie wieder. Irgendwas Vergangenes. Kindheit ihrer Kinder. Wer wars, Hedi? Haste mir gar nicht erzählt, wer das war. War das jemand aus Alecs Klasse? Oder aus deiner? Ooo…da war ein o im Namen. Eine Erinnerung, die sie mir immer wieder erzählt, ist, wie ihr Ältester (mein Vater), bei einem der vielen Umzüge der Familie seinen besten Freund verließ, Axel Pormeter. Er war mein bester Freund, sagte ihr Sohn weinend. Axel Pormeter. Den Namen werde ich nie vergessen, sagt Oma, jedes Mal am Ende dieser Erzählung.