Autor: Pauline Strempel
Die Silhouette
Ich stehe an einem See. Drumherum: Milliarden von zarten, bunten Blüten, die sich zum Himmel recken. Sehr weit weg, an der anderen Uferseite, erkenne ich eine Silhouette. Ihr Gesicht ist verschleiert. Jedes Mal, wenn ich versuche, ihr in die Augen zu schauen, wird mein Sichtfeld milchig, fast, als würde ich erblinden. Ich wende meinen Blick ab. Ein fürchterlicher Sturm ergreift mich. Ich will rennen, merke bald, dass der Sturm schneller ist, dass er mich derart erfasst, dass ich ihn in meinem Inneren spüre. Ich springe in den See, um mich zu befreien.
Das Leben im Wasser ist wunderbar. Ein blauer, unberührter Planet, der ausschließlich aus Kristallen, Eiszapfen und Schneeflocken besteht. Ich erfahre, dass es sich um den Planeten der Tränen handelt. Gletscher aus Tränen, Grotten, alle Materie besteht aus geretteten und verwandelten Tränen. Ein feuchter Salzgeruch liegt in der Luft. Ich beginne, alle Schneeflocken und Kristalle mit meiner Zunge einzufangen, noch eine, eine Letzte, und eine Allerletzte, natürlich ohne zu bemerken, dass mein Gesicht blau anläuft, dann violett. Ich verliere das Bewusstsein. Mein Körper wird schwer. Ich sinke Richtung Grund.
Als ich nach Luft schnappe, ist der Sturm vorüber. Von sehr weit her höre ich eine dünne Stimme – die der Silhouette. Ich werde wach, berappele mich schnell und versuche sie auf der anderen Seite des Sees zu verorten. Ich lasse mich von ihrer Stimme leiten, aber sie scheint sich mit jedem Meter, den ich zurücklege, weiter zu entfernen. Ich laufe ihr hinterher, jogge, immer weiter, blind.
Plötzlich nähern sich zwei Fremde. Ich laufe ihnen in die Arme. Immer schon waren mir Fremde weniger fremd als die Silhouette. Mich in ihren Armen haltend, erklären sie mir, dass die Silhouette nur eine unter vielen sei. Unglücklicherweise könne sich jedoch genau diese nicht öffnen. Aber es würde andere geben, die dazu fähig wären. Aber welche? frage ich. Das musst du selbst herausfinden, antworten die Fremden, und lächeln. Aber du findest es nur heraus, wenn du aufhörst, deinen ewigen Kreis um den See fortzusetzen. Ich bin verwirrt. Aber warum? frage ich. Weil das ein Teufelskreis ist. Der Planet der Tränen ist von einem Teufelskreis umgeben. Eine schreckliche Stille breitet sich zwischen uns aus. Als die Fremden die Schwere in meinen Augen sehen, fügen sie hinzu, die Öffnung seiner Silhouette hängt von der Position der Sonne und des Mondes, der Leuchtkraft der Sterne und den Gezeiten ab. Das alles liegt weit zurück, sehr weit.
Ideal
Keine Ahnung
an welche Bilder
ich dachte
bevor ich dich aufsuchte
aber was ich fühlte
war warm
und warm
warm und warm und warm und warm und
idealerweise eben
weniger fahl
Frage ans Unbewusste
Kann das Unbewusste Albträume nur hervorbringen, wenn es sich in Sicherheit wähnt? Weit weg vom Schuss? Am Meer in Frankreich? In der Ferne? Fürchtet sich das Unbewusste?
eingeholt
Im Raffer der Zeit:
Reinszenierung Reinszenierung Reinszenierung
einer Tragödie
die Vergangenheit rannte schneller
als die Zukunft
Großwerden
Opa spielte auf den Bühnen
der glorreichen Dreißiger
Papa wurde Börsenmakler
und ich schreib und denk
den Beginn
zu vieler Bücher
Werden entsteht
aus Not und Überschuss
nackt
aufgebahrt unterm Skalpell öffnet die Ärztin Hirn und Herz und verspricht mir sichere Führung ihrer passgenauen Fingerspitzen im Moment der größten Nacktheit hört die Fremde mich entblößter als jeder Nahestehende
Die Suggestion
Manchmal zieht mich die Musik
In einen blendenden Tunnel
Oberkörperfrei
Erfasst mich die Kälte
Und die Haut soll ihr trotzen
Unter schepperndem Bass
Bis die Wände vibrieren
Und nur der Gesang
Den Rausch kontrolliert
Den Kopf
Den Tanz
Die springenden Füße
Und sich der Oberkörper
Zur grellen Deckenwölbung neigt
Let me go blind tonight
Let me just lose lose lose
All bonds to reality
Let me be free
From load
From fuming thee
Singt die Stimme
In die Venen meines Körpers hinein
Volle Dröhnung ohne Schuss
Alles gut, alles bestens
Je länger der Tunnel
Desto größer der Abstand
Leere
Ist der Preis für die Suggestion
Tür zum Schmerz
Schützen heißt nicht
Mauer aufbauen
Schützen heißt
Rückzug
Still
Und ohne Beschluss
In ein verriegeltes Versteck
Hinter dieser Türe
Gibt’s kein Ego
Kein Lob, kein Schmerz
Nur Taubheit
Die Seele
Weit entfernt, tief verborgen
Unangreifbar
Jedes Mal eine Errungenschaft
Wenn das Ich dorthin verschwindet
Doch dieses Mal
Zerbrach der Riegel
Zum ersten Mal
Ohne
Verschluss
Der Fallschirmsprung
I.
Eigentlich fühlt sich das Fallen
Nicht nach Freiheit an
Der Flug nicht nach Rausch
Zu schnell
Trifft man auf den Boden
Erschüttert
Betäubt
II.
Das Bodenlose:
Kaum zu erkennen
Schon als der Atem verschwindet
Im Geschwindigkeitswahn
Und das Bewusstsein verfliegt
Kündigt sie sich an
Die Härte des Asphalts
III.
Der Fallschirm selbst:
(Sofern er vorhanden)
Zwei einfache Hände
Die sich behutsam
Um die Schultern legen
Tragen
Und dämpfen