Al Palo

30 06 2010

Ich habe an anderer Stelle schon geschildert, wie es mir mit meinem Deutschsein so geht.

Um einmal aufzuzeigen, wie es auch gehen kann: “La argentinidad al palo” von Bersuit Vergarabat, eine der argentinischsten Bands der Welt mit einem der argentinischsten Lieder Argentiniens.

Man kann sich das Lied hier anhören (und -gucken). Leider scheint das mit dem Einbinden nicht mehr zu funktionieren 🙁

Das Lied stellt in seinen fünfeinhalb Minuten ziemlich kompakt vor, was Argentinien eigentlich so ist. Für mich persönlich jedenfalls. Und die Band wahrscheinlich auch. Es hat Groove, Folkloreeinflüsse (besonders das “Schlagzeugsolo” folgt einem hier viel gehörtem Folkloretakt) und viel Rock (con bolas) – Argentinien ist nämlich kaum zu leugnendes Rocker- und Reggaeland. Der rock nacional hat hier nämlich Vergangenheit, die mit den Beatles anfing und heute bis zu den Divididos (u.a.) zurück verfolgbar ist.

Textlich kriegt man einen Überblick über gängige Argentinienklischees geliefert so wie eine Aufzählung der Skandale und eher unschönen Fälle der jüngeren Vergangenheit. So wie Lukas ein Lied gefunden hat, das für ihn den Vibe Buenos Aires’ perfekt einfängt, habe ich in diesem Land mein Argentinien wiedergefunden: Laut, chaotisch, verrockt, arm und reich, unerträglich süß und ungenießbar bitter – aber meistens sympathisch.

Ich bleibe bei meiner Übersetzung mal relativ nah am Original, es wird so schon schwer genug.

La calle más larga,
el río más ancho,
las minas más lindas del mundo…

el dulce de leche,
el gran colectivo,
alpargatas, soda y alfajores…

las huellas digitales,
los dibujos animados,
las jeringas descartables,
la birome…
la transfusión sanguínea,
el seis a cero a perú,
y muchas otras cosas más…

La argentinidad al palo…
la argentinidad al palo…

Gigantes como el obelisco,
campeones de fútbol,
boxeo y hockey.
locatti, barreda,
monzón y cordera
también, matan por amor.

tanos, gallegos, judíos,
criollos, polacos, indios, negros,
cabecitas… pero con pedigree francés
somos de un lugar
santo y profano a la vez,
mixtura de alta combustión

La argentinidad al palo…
la argentinidad al palo…

Diseminados, y en franca expansión,
hoy nos espera el mundo entero,
no es para menos la coronación,
brota el encanto del suelo argento.

¡vamo´…! ¡vamo´…!

¡y no me vengan con cuentos chinos!
que el che, gardel y maradona
son los number one,
como también lo soy yo,
y argentinos
¡gracias a dios!

diarieros:
también videla y el mundial 78
spadone y la leche adulterada
manzano se hizo la cirugía del orto
descuartizan vacas en el norte.
y siguen los nariguetazos en el congreso
galtieri y „los estamos esperando“.
más desnutridos
en el „granero del mundo“.
cayó la fundación padre bufarra.
alfonsín con „la casa está en orden“
„el que apuesta al dólar pierde“,
dijo el ministro.
también menem y su primer inmundo
cavallo y sus lágrimas de cocodrillo.
cinco presidentes en una semana.
encontraron al muñeco de yabrán
con un tiro en la cabeza.
de la rúa con su tímida boludez…

Pero… ¿qué me vienen a coger
a mí con la pija muerta?
¡yo la tengo mucho mas grande que vos!
a los boludos como vos me los cojo
de parado.
cuando vos fuiste,
yo ya fui y vine… ¡cuarenta veces!
¿cómo no querés que los cague,
si son unos boludos de mierda?
¡son todos una manga de garcas!
¡este país está lleno de ladrones!

¿yo?… ¡argentino!

Como el tiro en el corazón
de favaloro.

Del éxtasis a la agonía
oscila nuestro historial.
podemos ser lo mejor, o también lo peor,
con la misma facilidad.

¡al palo! ¡al palo! ¡al palo!

Die größte Straße
der breiteste Fluss
die schönsten Mädels der Welt

argentinisches Nutella (und doch so viel mehr)
Luxusreisebusse (man frage jegliche KW-Freiwillige)
Was Soda mit Argentinien zu tun hat konnte mir bisher keiner erklären – wohl aber alfajores

Fingerabdrücke (1) (für den Pass, den Perso etc)
animierte Zeichnungen (hä?)
Einwegspritzen (hä?)
Kugelschreiber (eine “argentinische” Erfindung)
Bluttransfusion (hä?)
6:0 gegen Peru (WM 78)
und so manches mehr

”Argentinität” bis zum Äußersten
argentinisch bis zum Extrem (“al palo” hat je nach Auslegung mehr oder weniger starke schmutzige Anklänge)

Giganten wie der Obelisk
Weltmeister im Fussball
Boxen und Hockey
berühmt-berüchtigte Argentinier:
Locatti ist ein Schauspieler,
Roberto Barreda ein Mörder (2),
Carlos Monzón war von ‘70-‘77 Boxweltmeister,
Gustavo Cordera ist der Sänger von Bersuit.

Italiener, Spanier, Juden, Mestizen, Polen, Indios, Schwarze, das “Proletariat” … aber mit französischem Stammbaum (3)

wir kommen von einem Ort
heilig und sündhaft zugleich
eine hochexplosive Mischung

In der Diaspora (4)

uns erwartet heute die ganze Welt
nicht umsonst gekrönt
der Zauber Argentiniens erblüht.

”Hau rein!” “Let’s go” (ganz besonders typische Anfeuerei beim Fussball etc)

Und erzählt mir keine Ammenmärchen

von wegen Che, Gardel (DER Tangomann überhaupt) und Maradona seien die Nummer eins
das bin nämlich auch ich (Bescheidenheit ist keine typisch argentinische Stärke)
und die Argentinier
Gott sei Dank!

In diesem Teil des Liedes hört man Zeitungsverkäufer Schlagzeilen rufen.

Für eine unvollständige Auflistung der Schlagzeilen bzw. Situationen auf die sie anspielen gucke man sich die Fußnoten an.

Videla und die WM 1978 (5)
Spadone und die gepanschte Milch (6)
Nariguetazos (7)
Galtieri und “Sollen sie nur kommen!” (8)
Mehr Unterernährte in der Kornkammer der Welt (9)

”Wer auf den Dollar setzt verliert” (10)

Cavallo und seine Krokodilstränen (11)

Fünf Präsidenten in einer Woche (12)

De la Rúa und seine bescheuerte Feigheit (13)

”Aber warum wollt ihr mich jetzt mit euren toten Schwänzen ficken?”
Auf eine weitere Übersetzung verzichte ich an dieser Stelle einmal – es genüge die Anmerkung, dass die Argentinier im Schimpfen und sich gegenseitig beleidigen wahrhaft kreativ und sowieso Weltmeister sind. Auch das ist Argentinien.

”Dieses Land ist voller Diebe!” – ein oft gehörter Ausruf – oft im Zusammenhang mit Politikern.

Ich? … Argentinier!

Siehe unten. (14)

Zwischen Ekstase und Leid
verläuft unsere Geschichte.
Wir können die Besten und die Schlechtesten sein – alles mit der gleichen Leichtigkeit.

(1) Hier kenne leider nur halbe Geschichten: Während der Militärdiktatur musste man ZU JEDER ZEIT ausweisbar sein, sprich seinen Perso mitschleppen. Abgesehen davon stand das Tragen langer Haare für Männer unter Strafe. Zurück zum Thema: Teil des Personalausweises war anscheinend und ist wohl auch heute noch ein Daumenabdruck. Da findet man auch gar nichts dran, war schon immer so. Weiß jemand mehr?

(2) Roberto Barreda hat ‘92 seine Frau, Töchter und Schwiegermutter umgebracht, wurde ‘95 lebenslänglich inhaftiert und ist seit ‘08 auf freiem Fuß. Führte damals zu einem großen Skandal, weil es in einigen Städten Graffiti gab, auf denen Barreda gelobt wurde. Der machismo lässt grüßen.

(3) Mit dem Aufkommen der Rinder-, Politiker- und Handelsdynastien entstand in Argentinien eine Ober eine Adelsschicht, die immer Richtung Europa blickte. Europa war Kultur, man selber war zu einem Leben in der Kolonie verdammt. Ganz besonders Paris war das Zentrum der Aufmerksamkeit – man wollte als Adliger um jeden Preis Franzose werden. Nicht umsonst wird daher Buenos Aires gerne mal mit Paris verglichen. Ganz abgesehen davon hat natürlich fast jeder hier einen Richtung Europa weisenden Stammbaum. Ein Blick ins Telefonbuch genügt.

(4) Es ist nicht nur unmöglich, im Ausland keinen Deutschen zu begegnen, nein auch Argentinier gibt es überall: “hay argentinos in todos los lugares” ist eine Tatsache. Das ist allerdings weniger der zweifellos vorhandenen Reiselust geschildert als der Tatsache, dass aufgrund Argentiniens wilder Vergangenheit viele ins Exil geflohen sind und dort erst einmal blieben.

(5) Jorge Rafael Videla war der argentinische De-facto-Diktator zwischen ’76 und ’81 und somit der Hauptverantwortliche eines grausamen Überwachungsregimes, das bis heute sichtbare Spuren im Land hinterlassen hat. Die WM ’78 wurde von ihm zu Propagandazwecken genutzt (ähnlich wie die Olympischen Spiele in Berlin 1936) um von den schlimmen Menschenrechtsverletzungen im Land abzulenken.

(6) Carlos Spadone hat ’91 in seiner Funktion als Gesundheitsminister unter Menem annähernd 2000 Tonnen Milchpulver gekauft, von denen knapp 50 schlecht waren. Das an sich ist ja schon merkwürdig genug … wäre es nicht seine eigene Milchfirma gewesen, von der er das Milchpulver kaufte, hätte es vermutlich niemanden interessiert.

(7) „Nariguetazos“ kommt Nariz (Nase) und bezieht sich auf den angeblich exorbitanten Kokainverbrauch im Kongress.

(8) Leopoldo Galtieri war der de-facto-Diktator nach Videla. Er versuchte von seinen innenpolitischen Problemen abzulenken, indem er die Islas Malvinas (dem Rest der Welt als Falklandinseln bekannt) besetzte. Schliesslich gehören die nach argentinischer Auffassung zum argentinischen Staatsgebiet. Nun saßen also die argentinischen Soldaten auf den frisch eroberten Malvinas, Argentinien freute sich aufgrund des Gebietszuwachses und keiner dachte im Traum daran, dass Margaret Thatcher sich dazu entscheiden würde in den Krieg zu ziehen. Nun kann man sich denken, dass die britischen Soldaten besser ausgestattet und ausgebildet waren als die teilweise aus 18jährigen „Freiwilligen“ bestehende argentinische Streitkraft. Galtieri war jedoch davon überzeugt, dass man mit denen schon fertig werden würde: „Die sollen nur kommen!“ (les estamos esperando). Ein paar Monate später waren insgesamt 650 argentinische Soldaten gefallen, die Inseln wieder in britischen Händen und Galtieri im Gefängnis

(9) „el granero del mundo“ – „die Kornkammer der Welt“. Wie kann es sein, so die Bedeutung des Textes, dass es noch immer Unterernährte in einem landwirtschaftlich derart reichen Land wie Argentinien gibt?

(10) „el que apuesta al dólar pierde“ – „wer auf den Dollar setzt verliert.“ Anfang der Neunziger gab es in Argentinien eine Hyperinflation, die den Peso von Tag zu Tag weiter entwertete. Dies veranlasste viele Leute dazu, sich von ihrem Lohn, der in Bar in Peso ausgezahlt wurde (wenn überhaupt), sofort und umgehends Dollar zu kaufen, bevor der Peso noch weniger wert war. Dies führte natürlich dazu, dass der Peso noch weniger wert war und so weiter und so fort. Die Regierung versuchte die Menschen dazu zu bringen, doch Vernunft anzunehmen und mit Pesos zu bezahlen, denn „wer auf den Dollar setzt, verliert“. Dies geschah letzten Endes erst, als der Peso per Regierungsdekret 1:1 an den Dollar gebunden wurde. Was dann wiederum starken Anteil an der Wirtschaftskrise 2001 hatte.

(11) Domingo Cavallo war Wirtschaftsminister unter de la Rúa. Die Krokodilstränen („lágrimas de cocodrilo“), die im Lied angesprochen werden, beziehen sich darauf, dass Cavallo weinend im Fernsehen zu sehen war. Das kam so: Vertreter von Renterorganisationen sprachen bei ihm vor und baten um eine Rentenerhöhung, den von der Rente allein konnte niemand leben. Leider musste er ablehnen, aber die Misere der Renter und seine Ohnmacht setzten ihm so zu, dass er besagte Krokodilstränen vergoss. Wovon sich die Hungernden natürlich auch nichts kaufen konnten.

(12) Zur Zeit der schlimmen Wirtschaftskrise 2001 hatte Argentinien fünf Präsidenten in einer Woche. Schließlich wurde dann Duhalde gewählt – der knapp fünf Monate im Amt blieb.

(13) Präsident Fernando de la Rúa zeichnet sich im Gedächtnis vieler Argentinier vor allem durch seine zauderhaftes Verhalten und seine Zögerlichkeit aus.

(14) Die Fundación de Favaloro sollte jedem bekannt sein, der in Argentinien mal ab und an Wasser in Flaschen kauft. Auf diesen prangt nämlich oft ein Logo der selbigen. René Favaloro war Herzchirurg von Weltrang, bekannt unter anderem für die erste Bypass-Operation der Welt. Er war sehr beliebt, nicht zuletzt aufgrund seiner Stiftung (fundación), die Forschung und Austausch für Mediziner ermöglicht und kostengünstige Operationen für Arme anbietet. Als der Stiftung im Zuge der Wirtschaftskrise 2000-2001 das Geld auszugehen drohte, bat er die Regierung um Hilfe. Diese jedoch ließ nichts von sich vernehmen. Entmutigt beging er Selbstmord („un tiro en el corazón de Favaloro“ – „ein Schuss ins Herz von Favaloro“).

Trotz der vielen Beispiele für das was schief läuft in diesem Land (weswegen auch nicht wenige Argentinier davon überzeugt sind, in einem país de mierda zu leben) beinhaltet das Lied ein klares Bekenntnis: Yo, Argentino!

Man kann eben seine Herkunft, seine Kultur niemals gänzlich leugnen. So sehr wir das auch manchmal versuchen.

Können die anderen Argentinien-Freiwilligen meine Verbundenheit zu diesem Lied irgendwie nachfühlen? Generell – bei Ergänzungen und Kritik immer die Kommentarfunktion nutzen damit alle was davon haben.

Eine Geschichts- und Popkulturlektion in fünf Minuten. Beileibe nicht vollständig (wobei ganz ehrlich – jedes Land entzieht sich dem Versuch, es objektiv abzubilden), aber für einen guten Eindruck reicht es. Wer zieht jetzt die Analogie zu den Prinzen?





La alemanidad

26 06 2010

Die Schule hat einen Tanzverein, der sich Alpenrose nennt.

Kramt eure Vorurteile raus. Was bildet sich so in euren Köpfen?

Ein Tanzverein namens Alpenrose … was könnte das wohl bedeuten? Bild steht?

Dann bitteschön:

IMG_1981

Heute war ein “Cafékonzert” in der Schule, sprich: Die Tanzkünste wurden vorgeführt und man aß dazu Kuchen, um die Vereinskasse aufzubessern. Die Torten waren über jeden Zweifel erhaben und bildeten mein Abendessen – himmlisch. Wenn es Torten backende Engel gibt, dann ist einer davon hier in Bariloche und hat mein Abendessen gebacken. Unglaublich.

Jedenfalls: Ich nehme diese Vorführung mal zum Anlass, mir mal um mein Deutschsein Gedanken zu machen. In meinem Kopf ist nämlich diese Art von Tanz streng und ausschließlich mit meiner Urgroßelterngeneration verknüpft – und kein Wunder, denn eben diese Generation besiedelte damals Bariloche und nahm die damalige deutsche Kultur eben mit. Das es Menschen in meinem Alter – ja sogar Erstklässler – gibt, die hier mitmachen hat mich dann doch sehr befremdet. Sollte es eigentlich nicht, hat es aber. Den Kindern macht es offensichtlich großen Spaß und sie wissen auch, dass ihre Altersgenossen in DACH in ihrer Freizeit vermutlich Anderes machen. Trotzdem könnte ich mir nie vorstellen, hier mitzumachen.

Wieso eigentlich nicht?

Weil es für mich persönlich unauslöschbar mit einem Deutschland verbunden ist, das ich nicht sehr mag. Ein staubiges, verknöchertes, preußisch-bayrisches erzkonservatives und reaktionäres Deutschland. So betrachtet, gibt es wohl also mehrere Deutschlands. Oder vielmehr eines mit unendlichen vielen Facetten (siehe hierzu auch meine Ausführungen zu Argentinien).

Im Moment habe ich trotz aller Unkenrufe und Hiobsbotschaften ein positives Deutschlandbild – das wird sich wahrscheinlich nach meiner Ankunft relativ rasch ändern.

Wenn ich zur Zeit an Deutschland denke, dann an meines: Ein junges, modernes, zunehmend mobiles, internationales, wohlhabendes und multikulturelles. Sicherlich beeinflusst mein Umfeld dieses Bild auch sehr: diskussionsbereit, tolerant, aufgeschlossen, frisch, kreativ.

Wir stehen im internationalen Vergleich ziemlich gut da, jedenfalls in meinen Augen: Es gibt ein soziales Absicherungssystem. An dem scheiden sich zwar die Geister, aber es gibt eines. Auch ist die medizinische Versorgung gesichert. Darüber wird zwar auch gestritten, aber für den Großteil der Bevölkerung gilt: Man hat Zugang zu sehr guten ärztlichen Diensten zu vergleichsweise erschwinglichen Preise. “Die Rente ist sicher”. Es gibt ein Sozial- und Kulturbudget im Haushalt. Das wird zwar IMG_1976kaputt gespart, aber es gibt eines. Und das “Tabuthema” Bildungssystem: Es könnte zwar zu den Besten der Welt gehören, aber ganz ehrlich – so schlecht ist es auch nicht. Wer letztens Abi gemacht hat (auch in NRW) dürfte dies wissen, und diejenigen, bei denen es schon länger zurück liegt, sollen mal aus dem Stand eine Klausur schreiben. Es wird uns auf Staatskosten so einiges an Bildung vermittelt (immer vom Gymnasium ausgehend).

Um das jetzt mal an einem persönlichen Beispiel fest zu machen:

Der deutsche Staat hat meine Bildung finanziert und wird dies auch weiterhin tun. Dafür zahlen wir alle Steuern (auch die Nichterwerbstätigen: Mehrwert- und Benzinsteuer bspw.).

Außerdem leistet wir uns den Luxus mich, einen völlig unqualifizierten (sieht man einmal von Abi und Zivi ab) jungen Mann ins Ausland zu schicken. Im Klartext: Die deutsche Regierung investiert grob überschlagen 1200€ Flugkostenzuschuss, 4200€ Mietzuschuss und Taschengeld und dann noch laufende Programmkosten in unbekannter Höhe in mich (und andere).

Ich bezahle dafür nichts. Das was ich aus Deutschland überwiesen kriege reicht leider nicht ganz aus, sodass ich zusätzlich aufs Kindergeld und meine eigenen Rücklagen ausm Zivi angewiesen bin. Aber immerhin!

Keine vertraglichen Verpflichtungen, keine expliziten Erwartungen (von den impliziten schweigen wir jetzt mal höflich 🙂 ), nichts.

Das in mich investierte Geld fließt ziemlich direkt in die argentinische Volkswirtschaft, also zieht man in Deutschland auch keinen direkten finanziellen Nutzen daraus. Das dürfte bei allen meinen Kollegen und Kolleginnen ähnlich sein.

Bin ich denn blöd? Hab ich was übersehen? Warum macht man sowas?

Weil es uns gut geht. Das ist die einfache Antwort. Und zwar ziemlich gut. Dass die argentinische Regierung mal so eben mir nichts dir nichts ihre Jugend auf Staatskosten ins Ausland schickt wird wohl auf absehbare Zeit eine Irrenhausfantasie bleiben. Es sei denn mir ist etwas entgangen.

Ich bin also privilegiert, weil in meinem Pass “deutsch” steht.

Harter Brocken. Denn wo selektiert wird, bleiben auch Menschen draußen; dazu gleich mehr. Zuerst allerdings gilt: Hey, danke! Das es uns so gut geht, dass wir uns solche Vergnügungen leisten (können) freut mich schon. Und ein bisschen stolz macht es mich auch.

Da ist es also, dieses Wort: Stolz. Hier scheiden sich die Geister. Darf man das überhaupt? Stolz sein auf ein Land? Gar seine Herkunft? Oder genauer: Darf man das als Deutscher?

Wenn ich sage “Ich bin stolz drauf Deutscher zu sein” dann ist mir das seeeehr unangenehm. Erstens impliziert es für mich (unangebrachten) Nationalstolz und zweitens klingt es unangenehm nach vergangenen Zeiten. Ih bäh. Ich kenne Menschen, die diesen Satz am liebsten unter Todesstrafe verbieten würden (ja, damit bist du gemeint, D.W.). Ganz davon abgesehen ist es auch eine kaum zu unterbietende Dummheit auf einen Zufall stolz zu sein.

Mit “Ich komme gerne aus Deutschland” könnte ich schon eher leben. Es bezieht sich nicht so sehr auf den Nationalstaat, sondern die Kultur. Für mich jedenfalls. Und obwohl es auch hier zu Recht genug zu kritisieren gibt (latent braun, spießig und verknöchert – siehe oben, man kann seine Vergangenheit eben nicht leicht abschütteln), bin ich doch gerne Deutscher: wir haben das beste Bier und das beste Brot der Welt, wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, wir haben Presse-, Meinungs-, Versammlungs-, Aufenthaltswahl- und Redefreiheit. Alles keine Selbstverständlichkeit.

Alles in allem also: Es gibt schlimmeres als deutsch zu sein.

Das kann man natürlich auch anders sehen: während und aufgrund von Zwangsabschiebungen sterben Menschen, deutsche Politik erinnert zunehmend an schlechtes Theater, Hartz-IV-Empfänger werden teilweise unter aller Sau behandelt, die Integrationspolitik ist verkorkst, wir sind im Krieg, “die Rente ist sicher”, Maikrawalle und Polizisten, von denen einige ihre Nichtidentifizierbarkeit ausnutzen und auf Demonstranten einschlagen, ein hochverschuldeter Haushalt und kein Ende in Sicht…

Kurzum: es steht nicht zum Besten. Es gibt besseres als deutsch zu sein.

Wat nu?

Im Endeffekt hat mich dieses Jahr gelehrt, dass es auch Gründe gibt aus denen man zu Recht so etwas wie Heimatverbundenheit auch als Deutscher entwickeln kann. Gleichzeitig weiß ich aus Erfahrung, dass es auch genügend Gründe dagegen gibt.





Wort zum zweiten Sonntag

29 11 2009

[youtube Na8ITulEkmQ]

La Vela Puerca noch einmal:

Me levanto a la mañana busco el sol bajo mi cama
Sabemo que la vida es dura pero la amargura no es la solucion
Me levanto a la mañana busco el sol bajo mi cama
Sabemo que la vida es dura pero la amargura no es la solucion

Es la peor prision del alma
Es la peor prision
Es la peor prision del alma
Es la peor si

Mejor abrir la mente mirar siempre al frente
Que ningun camino lleva a igual destino
Mejor abrir la mente mirar siempre al frente
Que ningun camino lleva a igual destino

Und damit auch jeder versteht, was ich damit sagen will:

Ich stand heute morgen auf und suchte die Sonne unter meinem Bett
Wir wissen dass das Leben hart ist aber Bitterkeit ist keine Lösung (denn)

Sie ist das das schlechteste Gefängnis (der Seele)

Besser wärs, offen zu sein und den Blick nach vorne zu richten,
denn keine zwei Wege führen zum selben Ziel

Und hier versteckt sich eine, wenn nicht gar die wichtigste Lektion, die man sich hinter die Ohren schreiben sollte; besonders wenn man im Ausland ist: Es wird immergute und schlechte Zeiten geben, aber selbst die beschissenste Tage gehen irgendwann vorüber. Wo Schatten ist, ist auch das Licht nicht fern, auch wenn es manchmal ganz anders aussieht.
Und ganz besonders im Ausland ist Offenheit eine Schlüsselfertigkeit – wer mit festen Vorstellungen, wie es in der Ferne zuzugehen hat an einem Auslands-FSJ teilnimmt oder gar der Meinung ist, er wüsste besser als die Einheimischen, wie die Dinge laufen sollten, verbaut sich selbst schnell viele Chancen. Viel lehrreicher und einfacher ist es, sich einfach mal einzulassen auf die Gegebenheiten und sich nachher zu wundern, dass es ja auch anders funktionieren kann, als man eventuell gewohnt ist. Vielleicht nicht ganz so schnell, effizient oder „gut“, aber klappen wirds doch in den meisten Fällen.

Eigentlich eine Binsenweisheit.





Stamp of Origin

7 08 2009

Call me Ishmael.

Ich leg hier jetzt einfach mal los in der Hoffnung dass ich Gedankenanstöße biete und auch welche zurückkriege.

Ich heiße Timon Traub, werd am Sonntag 20 und komme zusammen mit Charlotte nach (San Carlos de) Bariloche, ARG. Dort werden wir an der ansässigen Deutschen Schule arbeiten. Ich freu mich schon wie verrückt 😀 und hoffe, ihr euch auch 😉

Für alle von uns, die wir uns im September hoffentlich kennen lernen werden, beginnt mit dem Dienstantritt ein neuer Abschnitt im Leben. Durchaus eine abgegriffene Phrase und ein totes Klischee. Oder doch?

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mir zumute war, als ich mit grade eben 16 Jahren für ein Jahr in die USA ging, um dort in Kansas Englisch und die Amerikaner verstehen zu lernen ;).

Großartig Gedanken darüber gemacht habe ich mir damals eigentlich nicht; ins Ausland gehen war halt einfach total logisch für mich – vor allem, da ich frei und ungebunden war (:D) und dringend die Sprache lernen wollte als auch einen Tapetenwechsel brauchte. Also nicht lange fackeln, ab in den Flieger. Macht ja durchaus auch Sinn und sich gut auf dem Lebenslauf, so ein Auslandsjahr.

Wer sich ebenfalls auf dieses Abenteuer eingelassen hat wird bestätigen können, dass sehr zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt. Ich habe jedenfalls viel über mich selber gelernt. Mindestens genauso viel über andere Menschen und unsere Beziehungen untereinander. All das, was ich also aus den USA mitgenommen habe, hat wesentlich dazu beigetragen, meine Identität zu prägen – und damit sind wir beim heißen Eisen.

Wer bist du?

Wer bin ich?

Und was macht das aus?

Bevor ich mich hier in esoterisch-spirituelle Beobachtungen versteige, was denn nun letztlich einen Menschen ausmacht, möchte ich einen Gedankengang mit euch teilen, der mich seit gestern sehr beschäftigt (und ihr werdet gleich sehen, warum 😀 ):

  • Aktion – Reaktion – Identität?

Was macht mich zu dem, der ich bin? Ist es das, was ich will; das was mich antreibt – oder ist es meine Umwelt, die Reaktionen anderer Menschen, die mich wiederum zu bestimmten Taten veranlassen (oder davon abhalten)?

Damit das Ganze nicht so abstrakt bleibt:

Vorher

Vorher

Das bin war ich. Bis gestern. Meine Dreadlocks begleiten mich seit Weihnachten 2006. Davor hatte ich (sehr) lange Haare und wurde ständig gefragt, ob ich MetalVorher höre. Die letzten zweieinhalb Jahre wurde ich hingegen ständig gefragt, ob ich wohl Gras dabei hätte („Ey, Bob Marley! Hasse Weed?“).

Weder höre ich besonders viel Metal noch kiffe ich. Dennoch veränderte sich das Verhalten der Menschen um mich rum (mit Ausnahme meines engeren Freundeskreises) sofort und spürbar. Wem ich zuvor noch als Metaller galt sprach mich nun auf Bob Marley und Kiffen an („Ach tu nicht so, du hast doch bestimmt was dabei!“). Die Beobachtung dürfte vielen hier nicht neu sein: Kleider Haare machen Leute. Man kriegt direkt einen Herkunftsstempel aufgedrückt – alles aufgrund einer simplen Frisur. Dass das Auswirkungen auf die eigene Identität hat dürfte jedem klar sein.

Das System ist bekannt: Wer in seinem Umfeld/Klasse/Stufe als Außenseiter gilt, glaubt dies auch von sich selber. Oder ist er tatsächlich der Außenseiter und die Anderen haben dies lediglich als Tatsache erkannt?

So auch hier: Ich liebe es mit Vorurteilen zu spielen – also kaufte ich mir gebatikte T-Shirts, kam barfuss zur Schule (einmal sogar zur mündlichen Lateinprüfung), kaufte Fair-Trade-Klamotten und boykottierte H&M. Die gebatikten T-Shirts würde ich jetzt nicht unbedingt als integren Teil meiner Persönlichkeit betrachten ( 🙂 ), Fair Trade und H&M-Boykotte hingegen eher.

Was ist Ursache und was Wirkung? Ist beides überhaupt klar voneinander abzugrenzen?

Bin ich ein Hippie geworden weil ich wie einer aussehe oder sehe ich wie ein Hippie aus weil ich einer geworden bin?

Besonders brisant wird diese Fragestellung eigentlich erst durch das nächste Foto. Über die Jahre hinweg habe ich also mit Freude alle Klischees bedient, die sich mir boten. Macht unglaublich viel Spaß, das könnt mir glauben: „Ey Hippie, ja du, haste was zu smoken dabei?“ – „Seh ich etwa so aus?“ 😀

In der letzten Zeit bin ich aber vor allem der Haare überdrüssig geworden, nicht so sehr der „Rolle“, die damit einhergeht und ganz ehrlich – jeder von uns spielt in der Öffentlichkeit bis zu einem gewissen Grad eine Rolle; dazu reicht es schon, sich ausschließlich von seiner Schokoladenseite präsentieren zu wollen. Denn damit porträtiere ich nur die halbe Wahrheit und somit teilweise eine ganz andere Identität als die Identität, die meine Freunde und Familie kennen. Manche verstecken sich ihr Leben lang dahinter, weil sie (irrigerweise?) annehmen, so einen effektiven Schutzschild (vor anderen Menschen/Verletzungen) aufbauen zu können. Andere haben schlicht und einfach zu viel Spaß daran (und ihr ratet es, in die Kategorie würde ich mich einordnen) die Vorurteile der jeweils Anwesenden zu bedienen, anstatt stets als „Ich“ aufzutreten. Die Welt ist eine Bühne. Wiederum andere ziehen Anzüge und teure Klamotten an, weil es ihnen Autorität verleiht.

Wer bin ich jetzt?

Punk

Nachher

Als wir gestern im kleinen Kreise anfingen, meine Prachtlocken abzuschneiden waren selbst meine engsten Freunde erschüttert, was vor ihren Augen aus mir wurde: „Wenn ich dir jetzt nachts auf der Straße begegnen würde, würde ich meine Mama anrufen, die soll mich abholen kommen!“

Und das von den Leuten, denen ich spätestens seit Weihnachten 2006 als One Love/World Peace-Anhänger galt – wohlgemerkt, die Bemerkung war ein Witz, aber sie zeigt die Wirkung die ich beabsichtigt hatte.

Bin ich jetzt ein anderer Mensch? Oder ist das wahre Problem in unseren Köpfen – gesehen, Schublade auf, rein damit, Schublade zu, ad acta ad eternam?

Ich bin kein Hippie, ich bin kein Punk – ich bin ein Mensch. Ein alte Wahrheit. Oder doch nur ein Klischee (der Kreis schließt sich 😀 )?

Letzten Endes – und hier ist mein Monolog zu Ende – wünsche ich uns allen „offene Köpfe“. Bei dem was wir so tun werden, gegenüber den Menschen die wir kennen lernen werden und nicht zuletzt uns selbst gegenüber; in Berlin, aber auch mit sich selbst. Nur weil ich lange Zeit ein „Hippie“ war, muss ich nicht auf ewig einer bleiben. Es ist Zeit für Veränderung. Für mich jedenfalls. Ein neuer Abschnitt beginnt. Ein alter wird abgeschnitten.

Und beim Seminar seh ich hoffentlich wieder zivilisiert aus 😀








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