Ich habe an anderer Stelle schon geschildert, wie es mir mit meinem Deutschsein so geht.
Um einmal aufzuzeigen, wie es auch gehen kann: “La argentinidad al palo” von Bersuit Vergarabat, eine der argentinischsten Bands der Welt mit einem der argentinischsten Lieder Argentiniens.
Man kann sich das Lied hier anhören (und -gucken). Leider scheint das mit dem Einbinden nicht mehr zu funktionieren 🙁
Das Lied stellt in seinen fünfeinhalb Minuten ziemlich kompakt vor, was Argentinien eigentlich so ist. Für mich persönlich jedenfalls. Und die Band wahrscheinlich auch. Es hat Groove, Folkloreeinflüsse (besonders das “Schlagzeugsolo” folgt einem hier viel gehörtem Folkloretakt) und viel Rock (con bolas) – Argentinien ist nämlich kaum zu leugnendes Rocker- und Reggaeland. Der rock nacional hat hier nämlich Vergangenheit, die mit den Beatles anfing und heute bis zu den Divididos (u.a.) zurück verfolgbar ist.
Textlich kriegt man einen Überblick über gängige Argentinienklischees geliefert so wie eine Aufzählung der Skandale und eher unschönen Fälle der jüngeren Vergangenheit. So wie Lukas ein Lied gefunden hat, das für ihn den Vibe Buenos Aires’ perfekt einfängt, habe ich in diesem Land mein Argentinien wiedergefunden: Laut, chaotisch, verrockt, arm und reich, unerträglich süß und ungenießbar bitter – aber meistens sympathisch.
Ich bleibe bei meiner Übersetzung mal relativ nah am Original, es wird so schon schwer genug.
La calle más larga, el río más ancho, las minas más lindas del mundo… el dulce de leche, las huellas digitales, La argentinidad al palo… Gigantes como el obelisco, tanos, gallegos, judíos, La argentinidad al palo… Diseminados, y en franca expansión, ¡vamo´…! ¡vamo´…! ¡y no me vengan con cuentos chinos! diarieros: Pero… ¿qué me vienen a coger ¿yo?… ¡argentino! Como el tiro en el corazón Del éxtasis a la agonía ¡al palo! ¡al palo! ¡al palo! | Die größte Straße der breiteste Fluss die schönsten Mädels der Welt argentinisches Nutella (und doch so viel mehr) Fingerabdrücke (1) (für den Pass, den Perso etc) ”Argentinität” bis zum Äußersten Giganten wie der Obelisk Italiener, Spanier, Juden, Mestizen, Polen, Indios, Schwarze, das “Proletariat” … aber mit französischem Stammbaum (3) wir kommen von einem Ort In der Diaspora (4) uns erwartet heute die ganze Welt ”Hau rein!” “Let’s go” (ganz besonders typische Anfeuerei beim Fussball etc) Und erzählt mir keine Ammenmärchen von wegen Che, Gardel (DER Tangomann überhaupt) und Maradona seien die Nummer eins In diesem Teil des Liedes hört man Zeitungsverkäufer Schlagzeilen rufen. Für eine unvollständige Auflistung der Schlagzeilen bzw. Situationen auf die sie anspielen gucke man sich die Fußnoten an. Videla und die WM 1978 (5) ”Wer auf den Dollar setzt verliert” (10) Cavallo und seine Krokodilstränen (11) Fünf Präsidenten in einer Woche (12) De la Rúa und seine bescheuerte Feigheit (13) ”Aber warum wollt ihr mich jetzt mit euren toten Schwänzen ficken?” ”Dieses Land ist voller Diebe!” – ein oft gehörter Ausruf – oft im Zusammenhang mit Politikern. Ich? … Argentinier! Siehe unten. (14) Zwischen Ekstase und Leid |
(1) Hier kenne leider nur halbe Geschichten: Während der Militärdiktatur musste man ZU JEDER ZEIT ausweisbar sein, sprich seinen Perso mitschleppen. Abgesehen davon stand das Tragen langer Haare für Männer unter Strafe. Zurück zum Thema: Teil des Personalausweises war anscheinend und ist wohl auch heute noch ein Daumenabdruck. Da findet man auch gar nichts dran, war schon immer so. Weiß jemand mehr?
(2) Roberto Barreda hat ‘92 seine Frau, Töchter und Schwiegermutter umgebracht, wurde ‘95 lebenslänglich inhaftiert und ist seit ‘08 auf freiem Fuß. Führte damals zu einem großen Skandal, weil es in einigen Städten Graffiti gab, auf denen Barreda gelobt wurde. Der machismo lässt grüßen.
(3) Mit dem Aufkommen der Rinder-, Politiker- und Handelsdynastien entstand in Argentinien eine Ober eine Adelsschicht, die immer Richtung Europa blickte. Europa war Kultur, man selber war zu einem Leben in der Kolonie verdammt. Ganz besonders Paris war das Zentrum der Aufmerksamkeit – man wollte als Adliger um jeden Preis Franzose werden. Nicht umsonst wird daher Buenos Aires gerne mal mit Paris verglichen. Ganz abgesehen davon hat natürlich fast jeder hier einen Richtung Europa weisenden Stammbaum. Ein Blick ins Telefonbuch genügt.
(4) Es ist nicht nur unmöglich, im Ausland keinen Deutschen zu begegnen, nein auch Argentinier gibt es überall: “hay argentinos in todos los lugares” ist eine Tatsache. Das ist allerdings weniger der zweifellos vorhandenen Reiselust geschildert als der Tatsache, dass aufgrund Argentiniens wilder Vergangenheit viele ins Exil geflohen sind und dort erst einmal blieben.
(5) Jorge Rafael Videla war der argentinische De-facto-Diktator zwischen ’76 und ’81 und somit der Hauptverantwortliche eines grausamen Überwachungsregimes, das bis heute sichtbare Spuren im Land hinterlassen hat. Die WM ’78 wurde von ihm zu Propagandazwecken genutzt (ähnlich wie die Olympischen Spiele in Berlin 1936) um von den schlimmen Menschenrechtsverletzungen im Land abzulenken.
(6) Carlos Spadone hat ’91 in seiner Funktion als Gesundheitsminister unter Menem annähernd 2000 Tonnen Milchpulver gekauft, von denen knapp 50 schlecht waren. Das an sich ist ja schon merkwürdig genug … wäre es nicht seine eigene Milchfirma gewesen, von der er das Milchpulver kaufte, hätte es vermutlich niemanden interessiert.
(7) „Nariguetazos“ kommt Nariz (Nase) und bezieht sich auf den angeblich exorbitanten Kokainverbrauch im Kongress.
(8) Leopoldo Galtieri war der de-facto-Diktator nach Videla. Er versuchte von seinen innenpolitischen Problemen abzulenken, indem er die Islas Malvinas (dem Rest der Welt als Falklandinseln bekannt) besetzte. Schliesslich gehören die nach argentinischer Auffassung zum argentinischen Staatsgebiet. Nun saßen also die argentinischen Soldaten auf den frisch eroberten Malvinas, Argentinien freute sich aufgrund des Gebietszuwachses und keiner dachte im Traum daran, dass Margaret Thatcher sich dazu entscheiden würde in den Krieg zu ziehen. Nun kann man sich denken, dass die britischen Soldaten besser ausgestattet und ausgebildet waren als die teilweise aus 18jährigen „Freiwilligen“ bestehende argentinische Streitkraft. Galtieri war jedoch davon überzeugt, dass man mit denen schon fertig werden würde: „Die sollen nur kommen!“ (les estamos esperando). Ein paar Monate später waren insgesamt 650 argentinische Soldaten gefallen, die Inseln wieder in britischen Händen und Galtieri im Gefängnis
(9) „el granero del mundo“ – „die Kornkammer der Welt“. Wie kann es sein, so die Bedeutung des Textes, dass es noch immer Unterernährte in einem landwirtschaftlich derart reichen Land wie Argentinien gibt?
(10) „el que apuesta al dólar pierde“ – „wer auf den Dollar setzt verliert.“ Anfang der Neunziger gab es in Argentinien eine Hyperinflation, die den Peso von Tag zu Tag weiter entwertete. Dies veranlasste viele Leute dazu, sich von ihrem Lohn, der in Bar in Peso ausgezahlt wurde (wenn überhaupt), sofort und umgehends Dollar zu kaufen, bevor der Peso noch weniger wert war. Dies führte natürlich dazu, dass der Peso noch weniger wert war und so weiter und so fort. Die Regierung versuchte die Menschen dazu zu bringen, doch Vernunft anzunehmen und mit Pesos zu bezahlen, denn „wer auf den Dollar setzt, verliert“. Dies geschah letzten Endes erst, als der Peso per Regierungsdekret 1:1 an den Dollar gebunden wurde. Was dann wiederum starken Anteil an der Wirtschaftskrise 2001 hatte.
(11) Domingo Cavallo war Wirtschaftsminister unter de la Rúa. Die Krokodilstränen („lágrimas de cocodrilo“), die im Lied angesprochen werden, beziehen sich darauf, dass Cavallo weinend im Fernsehen zu sehen war. Das kam so: Vertreter von Renterorganisationen sprachen bei ihm vor und baten um eine Rentenerhöhung, den von der Rente allein konnte niemand leben. Leider musste er ablehnen, aber die Misere der Renter und seine Ohnmacht setzten ihm so zu, dass er besagte Krokodilstränen vergoss. Wovon sich die Hungernden natürlich auch nichts kaufen konnten.
(12) Zur Zeit der schlimmen Wirtschaftskrise 2001 hatte Argentinien fünf Präsidenten in einer Woche. Schließlich wurde dann Duhalde gewählt – der knapp fünf Monate im Amt blieb.
(13) Präsident Fernando de la Rúa zeichnet sich im Gedächtnis vieler Argentinier vor allem durch seine zauderhaftes Verhalten und seine Zögerlichkeit aus.
(14) Die Fundación de Favaloro sollte jedem bekannt sein, der in Argentinien mal ab und an Wasser in Flaschen kauft. Auf diesen prangt nämlich oft ein Logo der selbigen. René Favaloro war Herzchirurg von Weltrang, bekannt unter anderem für die erste Bypass-Operation der Welt. Er war sehr beliebt, nicht zuletzt aufgrund seiner Stiftung (fundación), die Forschung und Austausch für Mediziner ermöglicht und kostengünstige Operationen für Arme anbietet. Als der Stiftung im Zuge der Wirtschaftskrise 2000-2001 das Geld auszugehen drohte, bat er die Regierung um Hilfe. Diese jedoch ließ nichts von sich vernehmen. Entmutigt beging er Selbstmord („un tiro en el corazón de Favaloro“ – „ein Schuss ins Herz von Favaloro“).
Trotz der vielen Beispiele für das was schief läuft in diesem Land (weswegen auch nicht wenige Argentinier davon überzeugt sind, in einem país de mierda zu leben) beinhaltet das Lied ein klares Bekenntnis: Yo, Argentino!
Man kann eben seine Herkunft, seine Kultur niemals gänzlich leugnen. So sehr wir das auch manchmal versuchen.
Können die anderen Argentinien-Freiwilligen meine Verbundenheit zu diesem Lied irgendwie nachfühlen? Generell – bei Ergänzungen und Kritik immer die Kommentarfunktion nutzen damit alle was davon haben.
Eine Geschichts- und Popkulturlektion in fünf Minuten. Beileibe nicht vollständig (wobei ganz ehrlich – jedes Land entzieht sich dem Versuch, es objektiv abzubilden), aber für einen guten Eindruck reicht es. Wer zieht jetzt die Analogie zu den Prinzen?
[…] Weil es für mich persönlich unauslöschbar mit einem Deutschland verbunden ist, das ich nicht sehr mag. Ein staubiges, verknöchertes, preußisch-bayrisches erzkonservatives und reaktionäres Deutschland. So betrachtet, gibt es wohl also mehrere Deutschlands. Oder vielmehr eines mit unendlichen vielen Facetten (siehe hierzu auch meine Ausführungen zu Argentinien). […]
Hallo Timon!
Das muss ich später hören, weil ich nun Livestream von Deutsche Welle anhöre.
Ich wollte hallo sagen. Und ich habe für dich eine Frage dh gibt es viele deutschsprechender in Argentina? Und darf ich bitte mal fragen warum deine Familie ursprünglich nach Südamerika ausgewandert?
Seit viele Jahre, als ich sehr klein war, wollte ich ins Ausland wohnen. Vor einige Jahre mein Bruder, der Komputerprogrammer ist, wohnte in Amerika.
Ich habe 2 Onkel (von der beide Familieseite) und 6 Kusinen in Australien. Ich habe auch eine Tante in Texas, USA.
Aber ich, der so viel mit Sprachen zu tun hatte, bin noch in England gestrandet! Natürlich hat meine Drogenabhängigkeit etwas damit zu tun…
Ich hoffe, du bist nicht zu kalt in Patagonien. Hier in London erleiden wir subtropisches Wetter, ungefähr 30 Grad. Viel zu heiß für mich!
Viele Grüße aus London
Dein Gledwood