FAQ Plurinationalität

Was ist Plurinationalität?

Das Konzept der Nationalität ist dem europäischen Verständnis nach eng mit dem Staat, der Begriff  an sich wird beinahe synonym für „Staatsbürgerschaft“ verwendet: Die Nationalität kann erwerben, wer sich lange und gründlich integriert hat. Bei den meisten europäischen Staaten handelt es sich um Einwanderungsgesellschaften. Um von mehrerer Kulturen oder Völkern innerhalb eines Staates zu sprechen, verwendet man im europäischen Kontext der Begriff multikulturell..

Tatsächlich ist es so, dass es sich bei den Nationen, die innerhalb Boliviens leben, aus europäischer Sicht eher um indigene Völker handelt. Völker ist jedoch ein kulturwissenschaftlicher Begriff, der keine juristische Komponente aufweist. Die Anerkennung der indigenen Völker als einzelne Nationen durch den Staat ist hingegen mit dem Recht auf ein Territorium und auf politische Selbstbestimmung verbunden. Auf staatlicher Ebene stehen den Nationen zusätzlich kollektive Rechte zu. Eine solche Veränderung der staatlichen Strukturen erfordert die Verabschiedung einer neuen Verfassung.

Was ist ein plurinationaler Staat?

Der plurinationale Staat erkennt die Existenz mehrere ethnischer Identitäten innerhalb seiner Grenzen und deren Unterschiedlichkeit institutionell an. Er spricht einzelnen ethnischen Gruppen politische Rechte sowie Autonomie in Bezug auf ein bestimmtes Territorium zu, wodurch diese zu Nationen werden. Verbunden sind die einzelnen Nationen durch die gemeinsame Staatsbürgerschaft.

In Europa weit verbreitet ist das Konzept des Nationalstaates. Im Gegensatz zum plurinationalen Staat erkennt der Nationalstaat nur eine Nationalität als konstituierende Identität des Staates an. Die Ethnizität der Mehrheitsbevölkerung wird zur Staatsnation, kulturelle Macht und politische Macht fallen zusammen. Innerhalb des Nationalstaates kann es nur unterschiedliche Völker, nicht aber Nationen nebeneinander geben.

Wie wurde Bolivien zum „Plurinationalen Staat“?

Plurinationalität ist als Staatskonzept eng mit den Freiheitskämpfen der indigenen Bevölkerungsmehrheiten in den ehemaligen lateinamerikanischen Kolonien verknüpft. Evo Morales, der Bolivien seit 2006 regiert, ist der ist der erste indigene Präsident Lateinamerikas. Sein Anliegen ist es, Bolivien von den Herrschaftsstrukturen zu befreien, die fast 300 Jahre spanische Kolonialisierung  (1538– 1825) hinterlassen haben. Die bolivianische Gesellschaft der vorkolonialen Zeit setzte sich aus indigenen Völkern zusammen, die jeweils ein bestimmtes Territorium des heutigen bolivianischen Staatsgebiets bewohnten. Zu dieser originären Gesellschaftsform will Evo Morales Bolivien zurückführen. Die Bezeichnung „Plurinationaler Staat“ ist somit ein Vorgriff auf das Ziel, zu dem Vielvölkerstaat vor der Kolonialisierung zurückzufinden. Als ein wichtiger Schritt in diese Richtung kann die Staatliche Neugründung Boliviens Anfang 2009 verstanden werden, im Zuge derer eine neue Verfassung verabschiedet und Bolivien von der Republik in einen Plurinationalen Staat umbenannt wurde.

Wie spiegelt sich die Plurinationalität in der Bolivianischen Verfassung von 2009 wieder?

Die Verfassung, die Bolivien zum „Plurinationalen Staat“ werden ließ, wurde am 25. Januar 2009 durch ein Referendum vom Volk angenommen. Darin konstituiert sich Bolivien als „Einheits- und Sozialstaat plurinationalen und kommunitären Rechts mit Autonomien.“ In Bezug auf die Plurinationalität sind insbesondere Art. 2, Art. 5 sowie Kapitel 4 (Art, 30, Art. 31. und Art. 32) der Verfassung von Bedeutung. Art. 2 kann als Definition dessen verstanden werden, was in der Verfassung mit Plurinationalität gemeint ist, Art. 5 erkennt 36 verschiedene indigene Sprachen als Nationalsprachen an und Kapitel 4 hält die kollektiven Rechte der originären Völker und Nationen fest, zu denen auch das eigentlich nicht originäre afrobolivianische Volk zählt.

Artikel 2

Aufgrund der präkolonialen Existenz der originären Völker und Nationen und der althergebrachten Herrschaft über ihre Territorien wird ihnen die freie Selbstbestimmung im Rahmen der staatlichen Einheit garantiert, diese besteht gemäß dieser Verfassung und gemäß dem Gesetz in ihrem Recht auf Autonomie, auf Selbstverwaltung, auf ihre eigene Kultur, auf die Anerkennung ihrer Institutionen und auf die Konsolidierung ihrer Gebietskörperschaften.

Artikel 5

Amtssprachen des Staates sind das Spanische und alle Sprachen der originären Nationen und Völker, und zwar das Aymara, das Araona, das Baure, das Bésiro, das Canichana, das Cavineño, das Cayubaba, das Chácobo, das Chimán, das Ese Ejja, das Guaraní, das Guarasu’we, das Guarayu, das Itonama, das Leco, das Machajuyai-Kallawaya, das Machineri, das Maropa, das Mojeño-Trinitario, das Mojeño-Ignaciano, das Moré, das Mosetén, das Movima, das Pacawara, das Puquina, das Quechua, das Sirionó, das Tacana, das Tapiete, das Toromona, das Uru-Chipaya, das Weenhayek, das Yaminawa, das Yuki, das Yuracaré und das Zamuco.

Artikel 30

Eine originäre Nation oder ein originäres Volk ist jede Menschengemeinschaft, die eine kulturelle Identität, eine Sprache, eine historische Tradition, Institutionen, Territorialität und Weltanschauung teilt, deren Bestehen aus der Zeit vor der spanischen Kolonialinvasion herrührt.

Artikel 32

Das afrobolivianische Volk genießt maßgeblich die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Rechte, die die Verfassung den originären Nationen und Völkern gewährleistet.

 

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