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Vom Unsinn des Uhrzeigersinns (und anderen Erkenntnissen)

In Bolivien ticken die Uhren anders als in Deutschland, schon wegen der sechsstündigen Zeitverschiebung. Hat man sich aber erst einmal akklimatisiert, entdeckt man erstaunlich viele Gemeinsamkeiten.

Es ist ein Sonntagnachmittag in La Paz und wir veranstalten eine kleine Grillfeier auf unserer Dachterrasse. Die Sonne brutzelt auf unsere Scheitel, René, der Hausherr, wendet Würstchen und ich spreche einen jungen Bolivianer an, der gerade mit einem Berg Kartoffelsalat beschäftigt ist. Eddie ist neunzehn Jahre alt und arbeitet im Büro einer bolivianischen Stiftung. Er spielt Schlagzeug und Gitarre, sonntags nimmt er Ballettunterricht in einer Tanzschule. Eddie hat Bolivien noch nie verlassen. Er würde gerne mal nach Brasilien reisen, erzählt er. Deutschland hingegen reizt ihn nicht: „Diese entwickelten Staaten machen mir Angst. Ich würde mich da vermutlich nicht zurechtfinden.“

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Vielleicht denkt Eddie, dass wir in Deutschland mit Raumschiffen zur Arbeit fliegen, während unsere intelligenten Häuser den Einkauf für uns erledigen. Vielleicht hat er auch einfach nur das Gefühl, dass ihn die Menschen in Deutschland nicht verstehen, dass er auf Leute treffen würde, die vollkommen anders sind als er selbst. Ich beuge beiden Befürchtungen vor, indem ich Eddie erzähle, dass Deutschland gar nicht so anders ist als Bolivien. Dass wir auch nur mit Wasser kochen und Schlagzeug oder Gitarre spielen. Und während ich so rede bemerke ich, dass mir das alles sehr bekannt vorkommt: Das Verbindende zwischen den Kulturen und Lebensformen war Thema auf dem Kulturweit-Vorbereitungsseminar, das ich im März in Berlin besucht habe.

Das Kulturweit-Programm als pädagogischer Lerndienst

Ich bin mit dem Kulturweit-Programm in Bolivien, dem internationalen Freiwilligendienst der UNESCO-Kommission und des Auswärtigen Amts. Seit 2009 vermittelt Kulturweit junge Menschen im Alter von 18 bis 26 Jahren für sechs bis zwölf Monate an eine Einsatzstelle in Afrika, Asien, Lateinamerika oder Europa. Bei den Einsatzstellen handelt es sich um Einrichtungen oder Kooperationen der Partner von Kulturweit. In meinem Fall ist das die Deutsche Welle Akademie.

Kulturweit versteht sich als pädagogischer Lerndienst, es sind die Freiwilligen, die etwas lernen sollen während ihres Aufenthalts. Zum Beispiel, dass die Menschen am anderen Ende der Welt gar nicht so anders sind als die Menschen zuhause, oder auch, dass es im Arbeitsalltag viele Dinge gibt, die ähnlich funktionieren wie in Deutschland. Zumindest für meine Einsatzstelle, die Fundacíon para el Periodismo (Stiftung für den Journalismus, kurz FPP) trifft das zu. Montagmorgens ist hier Teamsitzung, man bringt sich gegenseitig auf den neuesten Stand. Unter der Woche gehen unzählige Emails über den Server, am Wochenende stehen Konferenzen und Geschäftsreisen an. Das Aufgabenspektrum der FPP ist breit, es wird publiziert, kommuniziert und ausgebildet. Letzteres in Kooperation mit der Deutschen Welle Akademie, die hier gemeinsam mit der GIZ den Aufbau einer dualen Journalistenausbildung, die Educación Dual, unterstützt.

Duale Journalistenausbildung der FPP und der DW Akademie

Die erste neunmonatige Lehrredaktion der Educación Dual ist gerade zu Ende gegangen. Ich war dabei, als die Edualeños eine Kindernachrichtensendung produzierten, eine Plastikverarbeitungsanlage in Szene setzten, Tierschutzaktivistinnen interviewten und Diskussionen über journalistische Ethik im digitalen Zeitalter führten. Beeindruckend, wie schnell hier gearbeitet wird: Ideen sind kaum gedacht schon getwittert, GesprächspartnerInnen werden über Facebook kontaktiert, ein Interview meist für die nächste halbe Stunde vereinbart. In der FPP laufen alle Fäden zusammen: Sie stellt die Räumlichkeiten, kommuniziert mit den Ausbildern, ist mit der Planung, Ausführung und Evaluation des Projekts betraut.

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Seit die Educación Dual pausiert, mache ich Fotos. Von Minibussen und Blumenständen, von Flussläufen und Graffiti-Kunstwerken auf Häuserdächern. „Weiß jemand, wer diese Dächer bemalt hat?“, habe ich auf Facebook gefragt und ein Foto dazu gepostet. Die Edualeños kommentierten, am Nachmittag saß ich mit der Initiatorin des Projekts vor der architektonischen Fakultät und lies mir erklären, warum die Dächer von La Paz nun bunte Motive tragen: Es handelt sich um einen künstlerischen Protest gegen Reklametafeln, gegen die urbane „contaminación visual“. Die FPP wird meine Fotoreportage in einem Zeitschriften-Spezial über La Paz veröffentlichen.

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In Bolivien ticken die Uhren anders – und das nicht erst, seit Evo Morales ein linksläufiges Ziffernblatt am Parlamentsgebäude anbringen lassen hat, um sich symbolisch vom kolonialem Import des Uhrzeigersinns zu emanzipieren. In Bolivien gibt es Kinderarbeit, Korruption, Kokain- und Menschenhandel. Es gibt Gesetze, die die Pressefreiheit einschränken und Tageszeitungen, die weit entfernt von unabhängiger Berichterstattung sind. Aber es gibt auch Kindernachrichtensendungen, Plastikverarbeitungsanlagen, Tierschutzaktivistinnen, Twitter und Facebook. Projekte gegen visuelle Raumverschmutzung. Und Eddie, der mit mir auf der Dachterrasse gesessen, über das Leben philosophiert und dabei Unmengen schwäbischen Kartoffelsalat gegessen hat.

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Clock of the South: Der Uhrzeigersinn ist dem Lauf der Sonne auf der Sonnenuhr nachempfunden – und auf der Südhalbkugel läuft der Schatten nun mal in die entgegengesetzte Richtung, ergo nach links.

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Dieser kleine Bericht wurde in leicht abgeänderter Form im Newsletter der Deutschen Welle Akademie veröffentlicht. Den bekommt man übrigens (auf Deutsch und auf Englisch) per Mail, wenn man sich hier anmeldet:

dt >> http://www.dw.com/de/newsletter-anmeldung/a-15718221 
en >> http://www.dw.com/en/newsletter-registration/a-15718229

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