Nicht so Schönes

22 06 2010

In Argentinien herrscht Ausnahmezustand. In Bariloche ganz besonders.

Das ganze Land (das ganze Land? Nein, ein wackerer junger Deutscher in einem kleinen Dorf am Rande der Anden…) ist dem Fußballfieber verfallen. Leere Straßen, nichts geht mehr, man guckt Fussball. An Unterricht ist nicht zu denken. Währenddessen räumen ein paar Findige in Buenos Aires Wohnungen aus, deren Eigentümer bei Freunden gucken.

Will sagen: Es liegt eine deutliche onda in der Luft, man kann es fast riechen. Der Argentinier an und für sich legt jetzt besonders viel Leidenschaft an den Tag.

In ausgerechnet diese Atmosphäre platzt am Donnerstag um 5 Uhr nachts ein Mord bzw. “ein Unfall”, je nach Lesart.

Unweit der Kindertagesstätte in einem der sozial schwachen Viertel hier wo wir jeden Donnerstag Kinder bespaßen (gotitas de esfuerzo) hat ein 15-jähriger Junge ein Haus beklaut. Diversen Gerüchten zufolge war er grade dabei, einen Fernseher aus dem Haus zu tragen, als die Polizei ihn in flagranti ertappt.

Soviel wiederum ist verbürgt: Der Junge fängt an zu rennen und wird dabei von einem Polizisten erschossen. Kopfschuss.

Die Nachricht breitet sich natürlich wie ein Lauffeuer aus und im Laufe der Nacht geht unter anderem die Aussenstelle der Polizei in der Gegend in Flammen auf. Der Vater des Getöteten gibt sich alle Mühe, den Mob zu beschwichtigen.

Am Abend des nächsten Tages wird die Nachricht über Radio etc. verbreitet und es tritt ein, was manche bereits befürchtet haben: Es kommen Leute zu Wort, die den Tod des Jungen nicht nur als bedauerlich, aber notwendig, sondern als “richtig” bezeichnen: “Einer weniger!”

In der Zwischenzeit gab es zwei weitere Tote, ein 28jähriger Familienvater und der 16jährige Kumpel des ermordeten 15jährigen.

Das natürlich heizt die Atmosphäre noch weiter auf. Am nächsten Tag, also am Freitag, gibt es mittags auf dem Dorfplatz eine Demo. Besorgte Eltern holen ihre Kinder früher aus der Schule ab oder schicken sie gar nicht erst hin. Vor allem die Grundschule leert sich ziemlich schnell. Etwa eine halbe Stunde nachdem die Demo angefangen hatte war ich mit Lotte dort einmal die Lage auschecken. War so ungefähr die friedlichste Demo die ich je erlebt habe.

Etwa eine Stunde später hingegen lieferten sich dort Polizei und Randalierer Straßenkämpfe. Molotowcocktails, eingeschmissene Schaufenster, Plünderungen, Tränengas, Ziegelsteine, Gummigeschosse, das ganze Programm halt.

Am Freitagabend hatten dann auch schon alle Geschäfte auf unserer Hauptstraße geschlossen, manche Ladeninhaber hatten ihre Läden regelrecht verbarrikadiert. Auch der Mexikaner, zu dem ich mit Lotte noch hin bin um ein Bierchen zu trinken, schloss nach jedem Gast die Tür ab(!). Damit ja keiner von den bösen Menschen neikommt.

Was ja an sich schon traurig genug ist. Aber viele Menschen begehen jetzt den klassischen Fehler, die Welt in schwarz und weiß zu malen und sind der Überzeugung, alle Demonstranten seien “Scheißdelinquenten”. Wobei es diversen Augenzeugenberichten zufolge nur etwa 20 gewesen seien, die Stress gemacht hätten und meiner Schätzung nach ungefähr das zehn mal so viele Leute an der Demo teilnahmen.

Was mich jedoch besonders betroffen macht ist das teilweise sogar mir persönlich bekannte Jugendliche(!) im Alter von 15-18(!!) bei dieser Vorverurteilung einer bestimmten Bevölkerungsschicht mitmachen. Es ist ja so, dass in dem Viertel, wo der junge Mensch umgebracht wurde, vornehmlich arme Leute leben. Die oftmals eine etwas dunklere Hautfarbe haben. Jetzt höre ich “man sollte sie alle umbringen”, “negros* de mierda”, “diese leute haben keine kultur” und so weiter. Ich bin doch ein wenig schockiert.

Natürlich gibt es auch Viele, die sich energisch gegen dieses Verhalten zur Wehr setzen und Aufklärung betreiben. Und mein Umfeld besteht nun einmal in erster Linie aus dem Nachwuchs von Eltern, die es sich leisten können ihr Kind auf eine Privatschule zu schicken. Klar dass die zu Hause von ihren Eltern andere Werte übernehmen als ich es eventuell gewöhnt bin. Ich bin nur so überrascht, weil mir immer noch die Worte meines alten Biolehrers im Kopf klingen: “Wer als er jung war nicht links war, der hat nicht gelebt. Wer allerdings mit 50 immer noch links ist, der hat was nicht verstanden.” War allerdings auch eher ein Scherz.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Öffentlichkeit hier (und es ist ÜBERALL Thema, egal wo man hingeht) ist ziemlich genau in der Mitte gespalten. Es gibt diejenigen, die meinen man sollte “diese Menschen” in eine Grube werfen und töten und diejenigen, die das Ganze etwas differenzierter sehen, aber vor allem erst einmal den Mord an einem 15jährigen (egal welcher Herkunft und Biographie) verurteilen. Und alles andere dazwischen, daneben und dadrüber/drunter auch.

Die Menschliche ist eben eine bunte Gesellschaft. Und das soll sie bitteschön auch bleiben.

* wörtlich: Scheißschwarze. In einem Land wie Argentinien, in dem political correctness ungefähr eine so lange Tradition hat wie Vuvuzelas in Südafrika hat das wahrscheinlich auch nicht die gleiche Bedeutung wie in Deutschland. Schließlich nannte man hier auch einen Präsidenten liebevoll “el turco”, der Türke, weil sein Vater aus Syrien (damals noch zum Osmanischen Reich gehörend) kam.








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