Einundzwanzigstes Türchen – Du oder Sie oder ganz anders?

Kennst du das, wenn du nicht genau weißt, ob du zu einer Person nun „Du“ oder „Sie“ sagen sollst? Zum Beispiel zu den Eltern einer guten Freundin. Zu einer nur wenige Jahre älteren Person. Zu einem Reisenden, der zwar älter als du ist, aber dich auch gleich mit du angesprochen hat.

Ganz ehrlich, diese Zwickmühle hat mich schon wirklich lange aufgeregt. Wählt man das formelle „Sie“, kann es schnell mal zu der Frage kommen: „Bin ich denn so alt?“ oder ähnliche Anschuldigungen folgen. Das eher lockere „Du“ wird hingegen oft als unverschämt oder unpassend empfunden.

Ich meine, wie einfach und entspannt wäre es, einfach ein universelles Wort für die Anrede von anderen Personen zu verwenden. Warum gibt es im Deutschen nicht auch einfach sowas wie das altbewährte „you“ für jede Person, mit der man sich unterhält? Warum denn einfach, wenn es auch schwer geht!?

Jetzt kommen wir aber genau zum Thema: Es geht auch noch schwerer!

In kaum einem Land ist die Anrede so wichtig wie in Vietnam. Wählt man den falschen Begriff, kann es schnell mal vorkommen, dass man sich zu locker verhält, darin Respektlosigkeit erkannt wird oder das ganze sogar als Beleidigung gesehen wird. Entscheidend für die Anrede sind Status und Alter.

Zwei Seiten aus meinem Vietnamesischbuch mit ein paar Anreden. Aber lange noch nicht alle!

Ein Beispiel: Drei Männer lernen sich bei einer Veranstaltung kennen, kommen ins Gespräch und trinken ein Ba Ba Ba (ba ist 3 auf vietnamesisch und dieser Name steht für eine Biersorte namens „333“). Minh ist 23, Long 34 Jahre alt und Hung mit 54 Jahren am ältesten. Rasch wird erkannt, dass sie bezüglich ihres sozialen Hintergrunds ziemlich ähnlich sind. Der Status muss aus diesem Grund nun nicht beachtet werden, sonst würde es noch viel, viel komplizierter werden.
Trotzdem kann man behaupten, dass es doch recht schwer ist, die richtige Anrede zu finden:
Minh als Jüngster der drei Männer hat Long mit anh (großer Bruder) und Hung mit chu (Onkel) anzusprechen. Spricht er von sich selbst, sollte er im Gespräch mit Minh von em (kleiner Bruder), mit Hung jedoch von chau (Neffe) sprechen.
Natürlich erinnert das jetzt an eine große Familie, aber tatsächlich hat die Anrede viel damit zu tun, ob die Person dir gegenüber nun wie ein großer Bruder, deine Großmutter, dein Onkel oder deine kleine Schwester ist. Ganz unabhängig davon, ob du diese Familienmitglieder wirklich hast.
Zum Kriterium Alter kommt auch noch der Status. Nachdem es dir vermutlich schon mit dem Alter reicht, lasse ich dir den sozialen Status lieber erspart bleiben.

Nun stell dir vor du bist im Restaurant oder in der Straßenküche und willst bezahlen. In Vietnam wird jetzt nicht sowas wie „Herr Ober“ gerufen oder geduldig gewartet, sondern die Person lautstark mit „… oi“ (zum Beispiel em oi) herbeigerufen. Die Frage ist aber, welche Anrede verwendet man? Auf die Falsche wird niemand reagieren und die anderen Menschen im Raum werden dich vermutlich blöd ansehen und lachen. In deine Unsicherheit spielt auch die Tatsache, dass es für dich – ich gehe einfach mal davon aus, denn mir geht es auch so – extrem schwierig ist, das Alter der Person (bei Vietnamesen nochmal zusätzlich schwerer) einzuschätzen. Die Entscheidung liegt bei dir. Und das Risiko.

Ich muss gestehen, dass ich oft einfach gar nicht sage und darauf hoffe, dass schon irgendwer mal nach Ewigkeiten kommen wird. Das klappt auch – mit mal mehr, mal weniger Erfolg.

Was ich noch gar nicht gesagt habe: Die Anrede wie em, anh, chu, … wird immer in Verbindung mit dem Vornamen verwendet. Minh sagt zu Hung also zum Beispiel „Chu Hung“.

Für Ausländer wie mich stellt sich jedoch erst mal die Frage, welcher Name denn nun der Vorname ist? Vietnamesen haben nämlich drei Namen: den Familien-, den Mittel- und den Vornamen.
Geschriebene Namen beginnen immer mit dem Familiennamen. Generell bekommen die Kinder den Familiennamen des Vaters. Kurzer Funfact: Insgesamt gibt es nur um die 300 vietnamesische Familiennamen. Der häufigste davon ist Nguyen, der mit knapp 40% vorkommt. Ein Glück wird der Familienname nicht zur Anrede verwendet. Würde man „Nguyen“ rufen, würde sich sonst mehr als jeder Dritte umdrehen.
Danach kommt der Zwischenname, der den Namen melodisch unterstützt oder die Familienzugehörigkeit bestimmt. Der Zwischenname kann aber auch den Namen spezifischer machen, falls Vor- und Familienname oft auftreten. Sollte der Rufname nicht geschlechtsspezifisch sein, kann der Zwischenname jedoch auf das Geschlecht definieren.
Der für den Alltag wohl wichtigste Teil ist definitiv der Vorname. Die Eltern eines Neugeborenen wollen ihrem Kind einen Wunsch, eine Eigenschaft oder einen Plan für den weiteren Lebensweg mitgeben und dementsprechend wählen sie den Vornamen. Jeder Vorname hat nämlich eine alte Bedeutung, die sorgfältig mit in die Namenswahl einfliest.
Das ganze klingt noch nicht kompliziert genug? Keine Sorge! Ein zusätzlicher Stolperstein ist der Fakt, dass viele Vornamen sowohl für Frauen als auch Männer verwendet können. Wenn es dann keine genauere Definierung durch den Mittelnamen gibt oder du einfach keinen Plan von den Namen hast wie ich, dann hast du den Salat! Dementsprechend kompliziert wird es, wenn eine Person auf Facebook kein Bild hat und du keine Ahnung hast, mit wem du gerade schreibst…

Du merkst bestimmt gerade schon, wie anspruchsvoll es ist, alle Regeln und Besonderheiten im Kopf zu behalten. Das ist es auch für mich, aber ich gebe mein Bestes, wenigstens etwas mehr einzutauchen in dieses System. Ich finde nämlich, dass man hierdurch richtig viel über die Einstellungen und die Kultur der Vietnamesen erfährt, über die Wichtigkeit des Alters, des Statuses und des Verhältnisses zwischen zwei Menschen.

Und was mir gerade auffällt: Eigentlich können wir verdammt froh sein, dass wir „nur“ du und Sie haben und keine unzähligen anderen Anredeformen. Ganz nach dem Motto, sei zufrieden mit dem, was du hast!

Viele Grüße, deine sich-immer-noch-nicht-mit-Anreden-sichere Sophie

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