Archiv des Autors: Leah Preisinger

A vida louca

Bereits im vergangenen September haben mir diverse Freunde aufgeregt vom Karneval im Februar erzählt. Ihrer Meinung nach sei das die beste Zeit des Jahres und die Inkarnation des brasilianischen Lebensgefühls.

In der Woche nach Finns Rückflug nach Deutschland war es endlich soweit. Am Freitagabend habe ich mich mit ein paar Freunden aus der Schule im Stadtviertel Savassi getroffen. Dieser Abend war ein geeigneter Einstieg und eine Vorbereitung auf die kommenden wilden Karnevalstage. Dort war eine Bühne auf einem umgebauten LKW installiert. Nachdem wir uns bei einem der Straßenverkäufer mit Getränken ausgestattet hatten, tanzten wir wild zu Funk-Musik. Da ich mich bisher nur im Fitnessstudio beim Tanzkurs so ausgelassen bewegt hatte war das Tanzen in den Straßen ein ganz neuer Level des Freiheitsgefühls. An diesem Abend habe ich außerdem viele Schüler von mir getroffen, was im ersten Moment ein wenig unangenehm war, aber letztendlich hat an Karneval jeder Spaß und tanzt selbstvergessen und gibt sich dem Gemeinschaftsgefühl der Masse hin. Mit Ana Rachel habe ich im Laufe des Abends ausgemacht, dass wir, sobald sie zum Studieren nach Deutschland kommt, den Deutschen zeigen, wie man in Brasilien tanzt. Darauf freue ich mich jetzt schon, denn leider mangelt es hierzulande an Gelegenheiten für so freies, wildes und körperbetontes Tanzen.

Am nächsten Morgen habe ich mich auf den Weg zu Maria Luiza gemacht, bei der ich während des Karnevals-Wochenendes geschlafen habe. Nach einem zweiten Frühstück machten wir uns gemeinsam mit ihrer Mutter fertig. Die Wohnung und Lebensweise der beiden gefiel mir sehr, denn sie waren nicht nur die erste Familie in Brasilien, die ich kennengelernt habe, die keine Hausangestellte eingestellt haben , sondern sie führen einen starken Frauenhaushalt und überall kleben Sticker linker Protestbewegungen.

Nachdem wir uns in unsere knappen goldenen Sonnen-Outfits geschmissen hatten, kam der spaßigste Teil der Vorbereitung: das Schminken mit viel Glitzer, welchen ich im Übrigen noch heute an Kleidungsstücken oder Taschen wiederfinde- ein Stück Erinnerung an eine einmalige Zeit. Zum Schluss kam noch Kopfschmuck, um das Outfit abzurunden. Nachdem wir ein paar Bilder gemacht hatten, fuhren wir mit einem Uber zum ersten „bloco“.

Bei leckeren Getränken und gutem Wetter tanzten wir hinter der  Musikergruppe, der sogenannten „bateria“ her, die sich in einer Art Straßenzug langsam vorwärts bewegte. Nach und nach stießen weitere Freunde von Malu dazu. Dank ihnen lernte ich ganz neue Getränke kennen. Eine selbst erfundene Mischung aus „Corote“ und einem Milchpulver für Babys wurde zum Hit-Getränk der folgenden Tage. In unseren bikiniähnlichen Outfits genossen wir die allgemein ausgelassene Stimmung, tanzen und lachten.

Als der „bloco“ an seinem Ende angelangt war, machten wir uns auf den Weg zum Mittagessen. Ich bekam einige nette Komplimente für mein Kostüm und eine freundliche Passantin meinte, dank mir würde sie Sonne an Karneval nicht untergehen. Es war wirklich ein tolles Gefühl in solch einem Aufzug herumlaufen zu können und sich nicht unwohl fühlen zu müssen, weil um uns herum alle genauso aussahen oder sogar nur mit beklebten Nippeln unterwegs waren.

In einer kleinen Bar in einem Wohnviertel aßen wir lecker und ruhten uns im Anschluss bei Pedro, einem Freund von Malu, im Garten aus, bevor wir zum zweiten „bloco“ aufbrachen, auch um einen anderen Freund von Malu davon abzuhalten, sich weiter peinlicherweise bei Pedro hemmungslos am Kühlschrank zu bedienen.

Der „bloquinho“ am Nachmittag war stark politisch geprägt. Ständig wurden Anti-Bolsonaro-Parolen gerufen, Fora-Bolsonaro-Flaggen geschwenkt oder Lieder der „restistência“ gesungen. Dazwischen wurde natürlich auch bekannte Musik zum Tanzen gespielt. Nette Anwohner bespritzten uns mit ihren Gartenschläuchen, was angesichts der Wärme eine willkommene Erfrischung war. Außerdem genossen wir zu diesem Zweck Acaí-Getränke.

Bei Malu zuhause angekommen versuchten wir uns vergebungslos von dem vielen Glitzer zu befreien, bevor wir erschöpft aufs Sofa fielen und über die politische Lage und linken Aktivismus in Brasilien diskutierten. Zum Abendessen gab es einen leckeren Salat und vegetarischen „quibe“. Mit Malus Mutter unterhielten wir uns angeregt weiter über Weltpolitik und Frauenrechte. Später im Bett hatte ich Gelegenheit die Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen und kam nicht umhin, mit einem Lächeln auf den Lippen einzuschlafen, auch ein wenig stolz auf meine innere Entwicklung der letzten Monate, die nun deutlich sichtbar wurde und sich im ungehemmten Tanzen ausdrückte.

Am nächsten Morgen wiederholten wir den Vorbereitungsprozess des Vortags, diesmal verkleidete sich Malu als Kommunistin und ich wollte eigentlich nur einen silbernen Badeanzug mit einem Glitzer-Shirt darüber tragen, allerdings kamen Malu und ihre Mutter auf die Idee, ich solle doch ihren schwedischen Lieblingsfilm „Midsommar“ darstellen. Zu diesem Zweck gaben sie mir einen Blumenkranz, sodass ich ihrer Meinung nach wie eine stereotypische Schwedin aussah. Das störte mich wenig, im Gegenteil, ich freue mich immer wenn mich jemand für eine Schwedin hält, da ich dieses Land von Herzen liebe.

Zunächst fuhren wir zu Freunden von Malus Mutter. Die Wohnung dieses schwulen Pärchens hat mir unglaublich gut gefallen und zu Einrichtungsideen meiner ersten eigenen Wohnung inspiriert. Vor allem waren es aber die liebevolle Atmosphäre und der einfühlsame Umgang, die mich berührt haben. Nach und nach trafen weitere homosexuelle Freunde ein und Malus Mutter stellte mich ihnen stets als zweite Tochter vor, was einmal mehr für die Offenheit und Gastfreundschaft der brasilianischen Kultur spricht. Nachdem uns noch Chia-Pudding und Caipirinha angeboten wurden, fuhren wir zum „bloco“ in einer peripheren Gegend der Stadt. Um in den Park zu gelangen, der den Versammlungspunkt darstellte, mussten wir über Zäune klettern und durch Matsch stapfen. Nach und nach bewegte sich die Menschenmenge den Steilhang des Parks hinauf in Richtung Straße, sodass die erste halbe Stunde eher einer Kletterpartie zwischen Spinnen als einem Karnevalsumzug glich. Oben angekommen trafen wir wieder Malus Freunde und genossen die gute Stimmung. Zur Abkühlung tranken wir eisgekühlte Ananassäfte und wurden netterweise wieder von Anwohnern mit Wasser bespritzt. Besonders schön war zu sehen, wie die Bewohner von ihren Fenstern aus den Anblick der tanzenden Menge sichtlich genossen, wenn sie sich noch nicht unter uns gemischt hatten. Im Laufe des Vormittags traf ich einen Cousin eines Schülers, Leute aus der Türkei und dem Iran und gab mich bei leckeren Getränken und angenehmer Wärme der Lebendigkeit und Wildheit hin.

Zu Mittag aßen wir in einem rustikalen Café in der Nachbarschaft, das sogar vegetarisches „Tropeiro“ anbot. Mit dem Bus fuhren wir im Anschluss ins Stadtzentrum zurück, wo wir einen „Afro-bloco“ besuchten. Die Stimmung dort war einzigartig. Am Karneval haben mir besonders diese Empowerment-Bewegungen für LGBTQs, Frauen und Afro-Brasilianer gefallen. In der Menge wurde ich immer wieder von dunkelhäutigen Frauen zum gemeinsamen Tanzen und Twerken aufgefordert. Am Schluss klatschten wir uns angesichts der vereinten Frauenpower ab oder fielen uns in die Armen. Das war für mich ein herzerwärmendes Gefühl und ich genoss die Verbundenheit und ehrliche Anteilnahme an den Schicksalen und mangelnden Rechten dieser Bevölkerungsgruppen, ebenso wie die Verarbeitung derer in Form von lebendiger Musik und ausdrucksstarken Tänzen. An diesem Abend schlief ich wieder bei  einer Gastfamilie und fiel nach dem Abendessen erschöpft angesichts des ereignisreichen Tages ins Bett.

Der Montag war rückblickend der intensivste Tag. Nach dem Frühstück holte mich Malu ab und wir fuhren nach St. Tereza, wo wir auf die anderen Leute und den Beginn des „blocos“ warteten. Leider begann es heftig zu regnen, aber selbst das konnte unsere Hochstimmung und gute Laune nicht trüben.

Dank der angenehm warmen Temperaturen und des ekstatischen Tanzens mit Wildfremden wurde es uns bestimmt nicht kalt. Wenn ich jetzt zurückblicke, kommt mir dieser Morgen mit der sich küssenden Menge, dem erotisch angehauchten Tanzen und dem daraus resultierenden unbeschreiblichen Freiheitsgefühl wirklich surreal vor. Wir schossen zum Glück viele Bilder zur Erinnerung, aber diese Erfahrung wird ohnehin auf ewig Teil von mir sein.

Zum Mittagessen klarte der Himmel auf. Von einem Straßenverkäufer mit einem umgebauten VW-Bus kauften wir leckeres Essen, welches wir auf dem warmen Boden verzehrten. Besonders lustig war, dass zwei freund versuchten Deutsch zu sprechen, was aber kläglich scheiterte. Auf dem Weg zum nächsten Straßenzug wurden wir von einem netten Mann mit Glitzer und Komplimenten hinsichtlich meiner Portugiesisch-Kenntnisse überschüttet. Malu sagte irgendwann zu mir: „Das ist Karneval, wenn du mit Wildfremden Freundschaften schließt(wenn auch nur zeitlich begrenzt), jeden umarmst oder küsst!“ und genauso habe ich das auch wahrgenommen.

Im Anschluss besuchten wir einen „bloco“ in einer Favela, der ganz im Zeichen des Empowerments dunkelhäutiger (lesbischer oder transsexueller) Frauen aus benachteiligten Gegenden stand. Einige Freunde von Malu hatten mir den Spitzname „Willa“ gegeben- ich weiß selber nicht mehr wie es dazu gekommen ist- und meinten zu mir „Willa você é perfeita!“. Ich tanzte oft ausgelassener und wilder als die Brasilianer selbst, was sie lachend zu dem Schluss brachte, ich könne eigentlich keine Deutsche sein. Ich hatte eben einiges nachzuholen, deshalb genoss ich die kollektive Verrücktheit mehr als ich es in Worte fassen kann.

Am letzten Tag sind wir noch auf einen „bloco“ der LGBTQ-Bewegung gegangen. Neben toller Musik, die ich zu meiner großen Freunde bereits kannte und die Texte mitsingen konnte, war das Wassertank-Fahrzeug, das für ständigen Sprühregen sorgte, das Highlight. Am Schluss mussten wir zwar unsere Socken auswringen, aber diese Momente des „vida louca“ waren das absolut wert und haben sich unauslöschlich in mein Innerstes eingebrannt. In schwierigen Zeiten werde ich von den Erinnerungen an diese unbeschwerten und glücklichen Tage zehren können.

Am Mittwoch war ich trotz allem dankbar mich nach den vergangene fünf Tagen ausruhen zu können und nutze die Zeit für das Schreiben eines Blogeintrags über die Zeit mit Finn.

In den kommenden Tagen hatte ich in der Schule besonders viel zu tun. Ich arbeitete zwei Deutschlehrwerke durch und überlegte mir zu jeder Lektion kreative und interaktive Übungen. Des Weiteren bereitete ich nützliche Redemittel für die B1-Prüfung vor und machte Werbung für meine AG „Deutsch-Extra“. Zu meiner großen Freude meldeten sich aus jeder Klassenstufe mindestens zehn Schüler, die freiwillig außerhalb ihres ohnehin schon eng getakteten Stundenplans ihr Deutsch intensivieren und sich dabei mit (klima-)politischen und gesellschaftlich relevanten Themen beschäftigen wollen.

Nebenbei machte ich weiter viel Sport, entwarf und schrieb die Briefe, die ich als Dank und Zeichen der Menschlichkeit den Menschen aus benachteiligten Lebensrealitäten, mit denen ich ein Interview plante, schenken wollte. Leider kam ich nicht dazu mehr als ein Interview durchzuführen oder die AG anzufangen, trotzdem werde ich hier zumindest die Geschichte der Hausangestellten meiner zweiten Gastfamilie veröffentlichen.

Vozes brasileiras

STIMMEN . STIMMEN VON MENSCHEN.

MENSCHEN WIE DU UND ICH.

MENSCHEN MIT DEN SELBEN TRÄUMEN UND ÄNGSTEN.

STIMMEN. STIMMEN VON MENSCHEN.

MENSCHEN, DIE GERNE ÜBERHÖRT WERDEN.

MENSCHEN, DIE TAGTÄGLICH MIT REALITÄTEN ZU KÄMPFEN HABEN, DIE MEIN VORSTELLUNGSVERMÖGEN ÜBERSTEIGEN.

STIMMEN VON STARKEN MENSCHEN, VON BEWUNDERNSWERTEN MENSCHEN.

STIMMEN, DIE FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN, DIE GEHÖRT WERDEN WOLLEN.

Joselita Florencia Rolea, geb. 27/10/1963, Hausangestellte

Über mein Leben sprechen…

Mein Leben war immer schwer. Als ich ein Kind war, war mein Gesundheitszustand sehr schlecht. Bis ich zwölf war, musste ich immer wieder in Krankenhaus. Ich war viel zu klein für mein Alter. Mein Vater war krank. Meine Mutter musste sechs Monate mit ihm im Krankenhaus verbringen. Als mein Vater dann entlassen wurde, hatte er noch immer sehr wenig Kraft, es ging ihm noch nicht wirklich gut. In dieser Zeit ist meine Mutter gestorben. Das war, als ich zwölf war. Das bedeutete, dass ich mich um meine jüngeren Geschwister kümmern musste und fast jeden Tag bin ich zu meinem Vater ins Krankenhaus gegangen.

Als ich geheiratet hatte, bekam ich zwei Kinder. Zu dieser Zeit wohnte ich auf dem Land. Meine Kinder kamen ebenfalls krank zur Welt. Damals sagte ein Arzt zu mir, dass ich mit ihnen nach Belo Horizonte gehen müsse, denn in meiner Heimat im Landesinneren von Minas Gerais gäbe es keine Behandlungsmöglichkeiten für sie. Er sagte mir auch, dass mein Sohn, der damals zwei Jahre alt war, später geistig eingeschränkt sein werde, er mir mehr Arbeit machen werde und dass er wohl verrückt werden würde, sollte ich ihn nicht entsprechend behandeln. Der Arzt befürchtet auch, dass meine Tochter, die erst acht Monate alt war, aufhören würde zu wachsen, den überdimensionalen Kinderkopf behalten werde und vielleicht nie laufen werde.  Also bin ich gegangen…Ich musste meine Kinder auf dem Land zurücklassen, um in der Stadt Arbeit zu suchen. Mir selbst ging es zu dieser Zeit gesundheitlich sehr schlecht.

Heute wohne ich in einem sehr benachteiligten Viertel, in „Riberocampo“. Jeden Morgen stehe ich um vier Uhr auf und komme erst gegen neun Uhr abends wieder zurück von meiner Arbeit als Hausangestellte. Mein Leben ist ein einziger Kampf, ein Kampf für Gesundheit. Meine Tochter wurde bis sie 15 war klinisch überwacht, mein Sohn, bis er 12 war. Da ich keine Mittel und Möglichkeiten hatte, um für die Behandlungskosten meiner Tochter aufzukommen, hat ein Arzt vorgeschlagen, ihre Akte nach Japan zu schicken. Von dort bekommen wir nun Medikamente, die es zum Teil hier in Brasilien nicht gibt.

Meiner Meinung nach müsste sich viel in diesem Land ändern, eigentlich alles, damit sich meine Situation verbessern kann und meine Kindern einmal eine bessere Zukunft haben.

Während des Erzählens hatte Joselita Tränen in den Augen. Je mehr sie mir von ihrer Geschichte anvertraute, desto sprachloser wurde ich. Was sind die richtigen Worte in Anbetracht eines solchen Schicksals? Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als ihre Hand zu nehmen und ihr mittels Körpersprache meine Anteilnahme, meine Betroffenheit, aber auch meine Dankbarkeit für ihr Vertrauen zu vermitteln. Das Schlimmste war für mich in diesem Moment zu wissen, dass ich nichts tun kann, das ihr in ihrer Lebenssituation hilft. Nach dem Gespräch würde sie weiter kochen, abspülen, putzen und Wäsche waschen müssen, um sich und ihre Kinder ernähren zu können. Dieses Ohnmachtsgefühl hat mich überwältigt. Das Einzige was mir zu tun bleibt, ist ihr weiterhin zuzuhören, mit ihr über die Vorteile einer fleischlosen Ernährung zu sprechen und ihre Gerichte zu loben. Wenn ich neben ihr in der Küche mein Essen mache, abspüle oder meine Wäsche wasche, erkläre ich ihr auch, dass ich es aus Sicht meiner Sozialisation unmöglich finde, mich von ihr bedienen zu lassen und damit postkoloniale Strukturen zu verfestigen.

 

Die Ereignisse rund um Corona haben nach und nach auch Brasilien erreicht. Zunächst wurde es jedem einzelnen Freiwilligen überlassen, ob er oder sie nach Deutschland zurückkehren oder bleiben möchte. Für mich war klar, dass ich bleibe, jedoch erreichten mich immer mehr besorgte Nachrichten von Familie und Freunden in Deutschland und auch andere Freiwillige in Brasilien entschieden sich zu gehen. Als wir von Kulturweit aufgefordert wurden, uns zur Sicherheit nach einem Rückflug umzuschauen ging alles ganz schnell, weil im Reisebüro Hektik herrschte und es offenbar nur noch wenige Möglichkeiten zur Heimkehr gab. Also buchte ich meinen Flug um. Nach dieser Entscheidung ging es mir aber unglaublich schlecht, ich fühlte mich ausgelaugt und innerlich leer. Da es noch keinen Aufruf zur verpflichtenden Rückkehr gegeben hatte, entschied ich mich dazu, den umgebuchten Flug wieder abzusagen. Ich konnte noch nicht gehen, nicht jetzt, nicht freiwillig. Meine Heimat, mein Leben waren doch gerade in Brasilien. Außerdem wusste ich, dass ich bei meiner neuen Gastfamilie, zu der ich am nächsten Tag ziehen würde und die weit außerhalb der Stadt wohnt, sicher sein würde und, dass sowohl das Goethe-Institut, als auch die Schule und alle Brasilianer in meinem Umfeld zum Bleiben rieten.

Am Abend ging es mir angesichts der Aussicht bleiben zu können viel besser. Meine Freunde und Familie in Deutschland sagten mir, sie hätten sowieso gewusst, dass ich bleiben würde. Also sagte ich auch allen brasilianischen Freunden, den ich zuvor von meiner Heimkehr berichtet hatte, ich müsse nicht gehen. Das führte dazu, dass ich noch am selben Abend bei meiner Freundin Ana Rachel übernachtete, um über die Entwicklungen zu sprechen. Wir aßen des Weiteren leckere Avocado und verglichen das deutsche Abitur mit dem brasilianischen ENEM. Dass die Systeme sich stark unterscheiden war mir bereits bekannt, aber, dass auch die Themen und die Schwerpunkte der Oberstufe so stark differierten, hätte ich nicht erwartet. Nach schier endlosen Gesprächen schlief ich glücklich ein. Am nächsten Morgen frühstückten wir gemeinsam mit ihren Eltern in einem leckeren veganen Café an der Ecke. Die Früchtebowl mit „granola“ und anderen leckeren Toppings ist meiner Meinung nach einmalig.

Nachmittags zog ich dann zu meiner neuen Gastfamilie. Bereits auf der vierzigminütigen Autofahrt zu ihrem Haus führten wir ein wunderbares Gespräch über den Umgang verschiedener Länder mit dem Coronavirus. Meine neue Gastschwester Alice war genauso glücklich wie ich, dass doch zu ihnen ziehen würde. Während der Fahrt wurde die Landschaft immer bergiger und spektakulärer. Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass ich bezüglich der Wohnform der „Condomínios“ starke Vorbehalte pflege und, dass ich mit eher konservativen Einstellungen in solch einem Luxus-Viertel gerechnet habe. Das Haus meiner Gastfamilie war aber überhaupt nicht protzig. Schwanzwedelnd begrüßte mich ihr süßer Hund Lara. Von meinem Fenster aus hatte ich einen atemberaubenden Ausblick auf einen See, im Hintergrund die Berge und in den Büschen Kolibris und bunte Kanarienvögel oder Papageienarten.

Meine Gastmutter Paula kam zu mir ins Zimmer und wir unterhielten uns lange über die politische Situation. Als ich bemerkte, wie klimabewusst, linksliberal und naturliebhabend diese Familie ist, fühlte ich mich von Anfang an unglaublich wohl bei ihnen. Sogar veganes Essen gab es, sodass ich ein wenig beschämt meine Vorurteile revidieren musste-man lernt nie aus. In der Abendsonne las ich in einer Hängematte in einem Buch über die Präsidenten Brasiliens, kuschelte mit dem Hund und genoss die Natur.

Am nächsten Morgen musste ich um 5:30 aufstehen, um rechtzeitig mit Alice in der Schule anzukommen. Nach einem leckeren Frühstück mit „tapioca“ nahmen wir den Bus in Richtung Stadtzentrum. Zunächst ging ich wie immer zum Sport und plante dann die Gruppenaufteilung für die AGs. Zu Mittag aß ich mit der Freundesgruppe aus der Schule in einem typisch brasilianischen Kilo-Restaurant. Wir redeten noch ganz ungezwungen über Corona, ohne zu wissen, dass das mein vorletzter Tag mit ihnen sein würde. Nach dem Essen besuchte ich mit Rachel ihren Unterricht, da ich ohnehin auf meine Gastschwester warten musste. Die Literaturstunde zu sechst war wirklich toll, die Lehrerin hat mir sogar Grammatikaufgaben gegeben, während sie die Aufsätze ihrer Schüler korrigierte. Auch der Matheunterricht mit Rachel und ihren Freunden, die ich bereits vom Karneval kannte, war äußerst lustig. Der Lehrer, der offenbar gerne Witze machte, involvierte mich ständig in seinen Unterricht, indem ich Aufgaben vorlesen, den Namen seiner Frau auf Französisch buchstabieren oder Dinge erklären sollte. Für mich war es generell spannend zu sehen, wie sich die Unterrichtsstile in verschiedenen Ländern unterscheiden und nebenbei bot das Schnuppern im Unterricht einen willkommene Gelegenheit, Zeit mit meinen Freunden zu verbringen.

In der Pause am Nachmittag erreichte mich die Nachricht von Kulturweit, die alle Freiwillige zur sofortigen Rückkehr anwies. Diese Entwicklung kam sicher alles andere als unerwartet, aber ich wollte es nicht wahrhaben, hatte in den vergangenen Tagen wirklich gehofft, ich könne bleiben. Fast zeitgleich wurde die Schulschließung bekannt gegeben, was mir das Gehen immerhin ein wenig erleichterte, zumal nach überstandener Krise die Ferien gestrichen und das Unterrichtspensum erhöht werden soll, sodass ich weder meine geplanten Reisen, noch meine AGs oder Aktivitäten hätte realisieren können. Nichtsdestotrotz fühlte ich mich wie von einem Zug überrollt und weinte unaufhörlich, musste aber stark sein und meine Heimreise organisieren und meinen Vertrag im Fitnessstudio kündigen. Am Abend, als wir von meinem Gastvater abgeholt werden sollten, brach ich erneut in Tränen aus. Meine Gastschwestern nahmen mich trösten in ihre Arme, Schüler schenkten mir herzzerreißende Abschiedsbriefe und der Schulleiter brachte mir ein T-Shirt des CSA zur Erinnerung. Auf dem Heimweg ging es mir glücklicherweise besser, ich hatte vorerst genug geweint und wechselte in eine Art Roboter-Modus. Den Abend mit meiner Gastfamilie wollte ich mir nicht von den Umständen zerstören lassen.

Am nächsten Tag fuhr ich trotz allem nochmal zur Schule, kaufte im Supermarkt „tapioca“, „farofa“, meine Lieblingskekse und Mitbringsel ein. In der Schule verabschiedete ich mich von allen Lehrern und den meisten Schülern, bekam tolle Geschenke, ging mit den Schulleitern vegan essen und verbrachte die letzten Stunden in der Stadt mit Freunden. Ich glaube ich habe bis zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich realisiert, dass ich wirklich gehen muss. Einen Flug nach Sao Paulo hatte ich bereits gekauft, dort würde ich dann die verbleibenden Freiwilligen treffen. Den letzten Nachmittag und Abend in Minas Gerais kostete ich voll aus, führte mit meinem Gastvater Flávio interessante Gespräche über Universitäten, Austauschprogramme, Praktika, meine Familie und Politik. Nach einer leckeren Suppe machten wir es uns alle gemeinsam auf dem Sofa gemütlich, erzählten uns gegenseitig lustige Geschichten aus der Familie, ich zeigte ihnen die Merkel-Imitationen und genialen Videos meines Bruders, wir sprachen über Literatur und Filme, Bolsonaros Unfähigkeit zu regieren und tolle Erinnerungen. In dieser Nacht habe ich fast kein Auge zugemacht, es tat so unbeschreiblich weh, allein daran zu denken, dass ich gehen muss.

Abschiedsbild mit dem Geographielehrer Everton.

Am nächsten Morgen berührten mich all die liebevollen und herzlichen Nachrichten meines Umfeldes tief. Ich musste mich zwingen, meinen Koffer zu packen, der voll bis oben hin mit Geschenken, tollen Büchern und Unmengen von Erinnerungen war. Bevor wir losfahren mussten, spazierten Alice, Paula und ich mit Lara noch durch die Natur und ich genoss ein letztes Mal die Zeit und Gespräche mit ihnen. Viel zu schnell fand ich mich im Bus zum Flughafen wieder, war wie gelähmt, unfähig etwas zu fühlen. In Sao Paulo angekommen aß ich eine Kleinigkeit, schaute Nachrichten und redete mit meinen Freunden, bis Thea, eine andere Freiwillige aus Florianópolis gelandet war. Gemeinsam fuhren wir ins Hotel und sprachen auf dem Weg dorthin über unsere Gefühle. Es tat gut mit jemanden zu reden, der genau die selbe Situation durchmachen muss.

Wir waren wie am Anfang des Abenteuers in Brasilien zusammen in selben Hotel-der Kreis schloss sich irgendwie. Auf dem Weg zum Abendessen zusammen mit einer weiteren Freiwilligen und deren Freund, welches wir in einem schönen veganen Restaurant verbachten, hörten wir das „Pfannenklopfen“ gegen Bolsonaro angesichts des eingeleiteten Impeachment-Verfahrens und dessen verantwortungslosen Umgangs mit der Corona-Krise. Gegen später lernten wir außerdem drei neuen Kulturweit-Freiwilligen in einer Bar bei Caipirinha kennen. Sie hatten das unglaubliche Pech, nur eine Woche in ihrem Einsatzland verbringen zu können. Angesichts dessen war ich direkt dankbar für meine sieben Monate in Brasilien. Des Weiteren half mir der Austausch über die bescheidene Lage sehr. Wir saßen alle im selben Boot, unsere Situation war vergleichbar mit einem Navigationsgerät, das immerzu den Satz:“Ihre Route wird neu berechnet.“ wiederholt.

Am letzten Morgen in Brasilien genossen wir das Frühstück mit dem uns liebgewonnenen Essen in Überlänge, besuchten das Goethe-Institut, bummelten durch ein paar Läden und machten uns auf den Weg zum Flughafen. Nachdem wir unser Gepäck aufgegeben hatten, kauften wir uns alle von den letzten brasilianischen Reais Havaianas und trösteten uns gegenseitig.

Auf dem Rückflug habe ich nicht geschlafen, nur brasilianische Musik gehört, geweint und den anderen Freiwilligen neben mir getröstet. Wir haben auch konsequent weiter Portugiesisch gesprochen, einfach aus Prinzip. Dass dann im Frankfurt plötzlich meine Eltern und Finn standen, wollte nicht in meinen Kopf hinein. Ich freute mich natürlich alle zu sehen, aber ich fühlte mich fremd in diesem Land, das mein Zuhause sein sollte. Meine Heimat war doch noch bis vor wenigen Stunden in Brasilien gewesen. Wie konnte mir das so schnell genommen werden? Innerlich leer packte ich meine Koffer aus und versuchte anzukommen. Tröstlich ist wenigstens der Gedanke, dass restlos alle Freiwillige, Austauschschüler und Studenten heimgeholt wurden und, dass Corona alle belastet, zum Teil unvergleichlich größere Opfer fordert. In den nächsten Wochen werde ich die Zeit nutzen, um viel zu lesen-vor allem auf Portugiesisch-zu malen, Podcasts und Hörbücher zu hören und natürlich mit meinen brasilianischen Freunden zu reden, beziehungsweise den Tanzkurs des Fitnessstudios online weiterzuführen.

Vorgestern hatte ich das Glück Schnee auf der Alb zu sehen, das hat mir ein Lächeln auf das Gesicht gezaubert, aber es wird noch dauern, bis ich hier ankomme und das Loch in mir gefüllt wird. Das Leben muss ja weitergehen und ich werde, sobald sich die Gelegenheit bietet, zurück nach Brasilien gehen, sei es für ein Auslandssemester, ein Praktikum oder nur eine Reise. Manaus, Belém, den „Nordeste“ und Rio werde ich ,wie ich es mir vorgenommen habe, auf jeden Fall besuchen und glücklicherweise kommen ja einige Freunde in absehbarer Zeit zum Studieren nach Deutschland. Aus Umweltschutzgründen werde ich nicht nur für zwei oder drei Wochen nach Brasilien fliegen, sondern dann sicherlich länger bleiben, aber das ist ja ohnehin mein Wunsch, denn ich liebe dieses Land, durch das ich so unbeschreiblich viel über mich und die Welt gelernt habe und das auf ewig ein Teil von mir sein wird.

Já tô com muitas saudades! Mas vou voltar logo, com certeza, porque o Brasil significa muito pra mim! Nunca vou esquecer essa aventura 🙂

O Brasil dentro de mim

Dass Brasilien inzwischen zu einer zweiten Heimat für mich geworden ist, wurde mir nach meiner Rückkehr aus Costa Rica in vielerlei Hinsicht bewusst. Besonders bezeichnend war in diesem Sinne die Tatsache, dass sich alle Leute, die mir hier wichtig geworden sind, bei mir meldeten, nach einem Treffen fragten. Bei mir stellte sich buchstäblich ein Gefühl des Angekommen-Seins und der Zufriedenheit ein, als so viele nette Nachrichten am Morgen nach meiner Ankunft auf mich warteten und ich realisierte, dass ich mir im Laufe der letzten Monate einen stabilen brasilianischen Freundeskreis aufgebaut habe, was mich natürlich unweigerlich an das Land und seine Gesellschaft bindet und es mir ermöglicht, meinem Umfeld auf Augenhöhe zu begegnen.

So traf ich mich beispielsweise mit Santi, Pedro und einem weiteren Bekannten zum Abendessen in einem leckeren Restaurant im Pátio Savassi. Viel zu erzählen hatten wir uns allemal, nachdem wir uns gut einen Monat nicht gesehen hatten. Während wir leckere panierte Zwiebeln aßen, berichteten wir uns von unseren jeweiligen Reisen, schmiedeten Pläne für meinen Geburtstag und sprachen über die bevorstehende Studienzeit.

Ein anderes Mal besuchte ich meine Freundin Ana Rachel. Wir hatten uns vorgenommen pao de queijo zu backen. Da ich von einigen Zutaten zum ersten Mal hörte, war ich dementsprechend neugierig sie kennenzulernen. Dass Maniok in Brasilien den Stellenwert der Kartoffel in Deutschland einnimmt und somit allgegenwärtig in der kulinarischen Szene ist, war mir bereits bekannt. Aber die Vielzahl an Verwendungsmöglichkeiten, beziehungsweise Produkten überrascht mich jedes Mal aufs Neue. Aus zwei verschiedenen Typen Maniokmehl (polvilho), Eiern, Milch, Butter und einheimischen Käsesorten bereiteten wir den Teig vor. Während dieser kalt gestellt wurde, sind wir in einem nahegelegenen Kilo-Restaurant zu Mittag essen gegangen und haben uns dabei ausführlich über unsere Ferien ausgetauscht. Da auch sie ein Studium in Deutschland anstrebt, unterhielten wir uns ebenfalls über Lebenshaltungskosten, Ernährung, Wohnmöglichkeiten, Freizeit und nicht zuletzt über den Vorbereitungskurs des Goethe-Instituts, bei dem ich meine Freunde unterstützen werde. Gegen später besuchten wir Ana Rachels Großmutter und halfen ihr beim Herstellen von „brigadeiros“, kleinen, pralinenähnlichen Süßigkeiten. Während des Einrollens und Dekorierens hörten wir ihren Reisegeschichten und Ausführungen über Politik zu, sodass sich bei mir ein gemütliches Oma-Gefühl einstellte, vor allem da sie uns immerzu Essen und Trinken anbot.

Wieder bei Ana Rachel zuhause, zeigte sie mir ihr Schwimmbad, das ich jederzeit besuchen könne und ihre Oma half uns beim Rollen der pao de queijo. Währenddessen unterhielten wir uns über die bevorstehende Reise der Oma nach Deutschland und Polen. Am Abend genossen wir das duftende Gebäck und Süßkartoffel-Pfannkuchen. Diesen Tag in einem heimelig-familiären Umfeld habe ich sehr genossen. Es erstaunt mich bis heute noch, wie einfach es in der brasilianischen Gesellschaft für mich ist, aus Fremden Freunde oder gute Bekannte werden zu lassen und mich wirklich wohlzufühlen.

Aber auch in meiner derzeitigen Gastfamilie fühle ich mich geborgen. Abends sitzen wir oft lange zusammen, sprechen über tagespolitische oder gesellschaftliche Themen und hören Musik. Auf diese Weise habe ich schon viele tolle brasilianische Lieder kennengelernt. Meine persönliche Playlist bei Spotify wird derzeit von portugiesischer Musik dominiert, wobei trotzdem Lieder in allen sechs Sprachen, die ich mehr oder weniger spreche, vertreten sind.   Mit meiner Gastschwester Carol war ich außerdem zu Besuch bei ihrer Großmutter. In deren Schwimmbad kühlten wir uns ein wenig ab, genossen aber gleichzeitig die Sonne und sprachen über Partys, die Schulzeit und Reisen, bevor wir lecker zu Mittag aßen und brasilianisches Fernsehen, inklusive Nachrichten schauten. Die Unterschiede der Nachrichtenformate in verschiedenen Ländern interessieren mich besonders, wobei ich auch hier in Brasilien überwiegend Podcasts höre, einfach weil die aktuellen Themen tiefgehender und ausführlicher besprochen und analysiert werden.

Eine besondere Erfahrung war des Weiteren das Meeting mit der Einladungskarten-Designerin zusammen mit Carols Familie. Anlässlich des 15. Geburtstags feiern die Mädchen der bessergestellten brasilianischen Familien große Feste, sinnbildlich für das Frau-Werden, oder aber sie unternehmen eine lange Reise. Was allein für ein Aufwand hinter den Einladungen steckt, hätte ich allerdings nicht erwartet. Professionelle Karten oder sogar ganze Bücher, personalisierte Deko, inklusive Bechern, Flip-Flops zum Tanzen, Lichtern und Gästebuch sind nur ein kleiner Ausschnitt des Vorbereitungsprozesses. Die Feste selbst beginnen meist erst gegen zehn Uhr, gehen bis spät in die Nacht und bieten Anlass genug zum Herausputzen und Stylen, wie es manche Frauen in Deutschland nicht einmal zu ihrer eigenen Hochzeit tun würden.

Nach dieser Begegnung mit einer neuen Welt, bildete die Ankunft von Finn am nächsten Tag einen umso größeren Kontrast. Es war an sich schon ein komisches Gefühl nach so kurzer Zeit wieder am Flughafen zu sein und dann nicht selber wegzufliegen, sondern jemanden aus Deutschland, meinem „Leben vor Brasilien“ zu empfangen. Trotz allem war das Wiedersehen wunderschön. Nach all den Monaten, die wir getrennt voneinander gelebt hatten, war es wirklich surreal im Bus nebeneinander zu sitzen und Brezel zu essen, die Finn mitgebracht hatte.

Netterweise hatte meine alte Gastfamilie angeboten, dass Finn bei ihnen wohnen kann. Besonders der erneute enge Kontakt mit ihnen war für mich sehr schön, nach all den Erinnerungen an die gemeinsamen drei Monate. Während Finn auspackte, hatte ich Gelegenheit mich gemütlich mit ihnen zusammenzusetzen und über die Ereignisse der vergangenen Wochen zu sprechen. Dabei merkte ich nicht nur, dass sich mein Portugiesisch seit dem letzten Kontakt mit ihnen wesentlich verbessert hat, sondern auch, wie wohl ich mich bei ihnen fühle. Haroldo, mein letzter Gastvater half uns außerdem noch bei einem Problem mit Bustickets, bevor ich Finn den „Praca da Liberdade“ zeigte. Dort setzten wir uns in die Nachmittagssonne und sprachen über unsere Studienpläne, beziehungsweise deren Vereinbarkeit. In meinem Lieblingscafé genossen wir einen leckeren Saft und tauschten uns weiter aus, schließlich hatten wir trotz etlicher Telefonate einiges aufzuholen, denn die virtuellen Gespräche sind wirklich nicht mit dem direkten Austausch und echtem Augenkontakt zu vergleichen.

In den folgenden Tagen zeigte ich Finn alle sehenswerten Orte der Stadt und führte ihn in die kulinarischen Besonderheiten der brasilianischen Küche ein. Acaí und die berühmten Kilo-Restaurants durften dabei nicht fehlen. Dass Acaí nicht wie ein chemisch-violetter Bananen-Muffin schmeckt und, dass es unzählige Gemüse- und Obstsorten gibt, die man in Europa nicht kennt, davon war er schnell überzeugt. Abends kochten wir trotz aller brasilianischen Leckereien eher europäisch, vor allem da ich Brot, Suppe und einfache Nudeln wirklich vermisste. Wir besuchten den „Mercado Central“, genossen dort die Vielzahl an frischem Obst und Gemüse, die Nüsse, Gewürze, den Käse und leckeres Brot.

Dieses Bild aus einem schönen Kilo-Restaurant kann ich leider nicht drehen.

Ausgestattet mit ungesüßtem Kakao, Käse, Walnussbrot und Melone machten wir uns am Tag darauf auf zu einer kleinen Wanderung zu und im „Parque das Mangabeiras“. Auf dem Weg nach oben wurde es zunehmend frischer, aber als wir angekommen waren, klarte der Himmel glücklicherweise auf. Den Großteil der Anlage, inklusive Sportplätzen, Picknick-Plätzen und Spielecken kannte ich bereits von meinen letzten Besuchen, die Aussichtsplattform, auf der wir picknickten war aber auch für mich neu. Wie sich herausstellte, sind sogar große Teile des Geländes derzeit gesperrt. Die Ausmaße dieses Naturparks, der nur wenige Minuten vom Stadtkern entfernt liegt, begeistern mich jedes Mal aufs Neue. Bei schönstem Wetter machten wir es uns auf der Holzplattform bequem, die Serra auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Stadt. Ein Geier gesellte sich zu uns während wir uns das Vesper schmecken ließen.

Auf dem Rückweg machten wir noch einen Abstecher zu einem anderen Aussichtspunkt, der einen einmaligen Blick über ganz Belo Horizonte bietet.

An einem der Abende waren wir des Weiteren zu der Geburtstagsfeier einer Freundin eingeladen. Nachdem wir feststellen mussten, dass Uber die Adresse meiner Gastfamilie nicht zuordnen kann, kamen wir etwas verspätet mit dem Taxi zur Bar. Wir hatten einen schöne Zeit bei spannenden politischen Gesprächen, Billard und Karaoke, wobei wir Caipirinha tranken und Finn Maniok und Pastel zu probieren gaben.                                                                                  Ebenso wie bei einem Treffen mit einer anderen Freundin zum Acaí- Essen fühlte ich mich an diesem Abend trotz des Spaßes, den ich mit Finn zusammen hatte, tief in mir unzufrieden und in meiner Freiheit eingeschränkt. Als wir dann beim Schlendern über die „Feira Hippie“ am Sonntag wiederholt auf Englisch angesprochen wurden, ist bei mir ein Prozess der Selbstreflexion angestoßen worden, der seit Finns Ankunft im Unterbewussten gearbeitet hatte und erst nach unserer Reise nach Búzios einen Abschluss fand. Im „Parque Municipal“, der mich immer auch an den New Yorker Central Park erinnert, setzten wir uns nach einem Spaziergang mit großer Distanz trotz physischer Nähe an einen See, um uns mit unseren Gefühlen auseinanderzusetzten. Einerseits bereitete es mir große Freude, mein neues Umfeld, die Stadt zeigen zu können und ich wusste, wie wichtig es war, dass Finn meine Freunde kennenlernt, um sich eine Vorstellung von meinem Leben hier machen zu können. Denn das kann helfen die Distanz beim Telefonieren zu reduzieren. Im Hinblick auf die weiteren sechs Monate war es also von höchster Wichtigkeit, dass er mich hier besucht. Auf der anderen Seite fühlte ich mich durch die Präsenz von Deutschland in Form von Finn gehemmt und irgendwie gefangen in mir selbst. Auch die Tatsache, dass ich plötzlich als Touristin wahrgenommen wurde und mit meinen Freunden Englisch sprechen musste, störte mich mehr als ich es erwartet hätte. Bereits auf dem Vorbereitungsseminar im Beziehungs-Workshop wurde uns von solchen Situationen berichtet und geraten, sich gegenseitig Zeit zu lassen und am besten gemeinsam neue Orte zu entdecken, damit sich der eine Partner nicht wie ein außenstehender Beobachter des neuen Lebens des anderen fühlt.

Das taten wir dann auch, als wir zusammen nach Búzios im Bundesstaat Rio de Janeiro aufbrachen und uns gegenseitig Raum gaben, um uns wieder aneinander zu gewöhnen und Brücken zwischen verschiedenen Lebenssituationen und Entwicklungsstufen zu bauen. Das Gefühl in einer Art Transitzustand zu sein legte sich während der Zeit am Meer, kam aber bei unserer Rückkehr wieder auf und führte zu einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema. Unsere Reise nach Búzios begann mit der Busfahrt zur „rodoviária“, dem Busterminal. Zunächst verpassten wir den Ausstieg und mussten noch etwas verschlafen durch ein weniger gut gestelltes Viertel laufen. Am Busbahnhof angekommen unterhielt ich mich mit einem älteren Herrn, wobei ich innerlich wieder einmal darüber schmunzeln musste, wie schnell und einfach solch schöne Gespräche dank der Offenheit und Wärme der meisten Brasilianer entstehen können. Während der kommenden 10 1/2 Busfahrt dösten wir vor uns hin, hörten Podcasts oder Musik, redeten und aßen unser mitgebrachtes Vesper.

In Cabo Frio angekommen fragten wir uns zunächst durch, bis wir den richtigen Bus nach Búzios fanden. Den Ausstieg dort erkannten wir auch nur durch die Hilfe von Einheimischen, aber nach einer kurzen Taxifahrt kamen wir ein wenig erschöpft endlich im Ferienhaus der Gastfamilie an. Die vielen Häuser der Anlage gehören allesamt einem Verwandten meiner Gasteltern, der uns genauso wie die anderen Anwesenden freundlich empfing. Nach einem kleinen Snack fielen wir erschöpft in die Betten, waren aber schon gespannt, was uns bei Sonnenaufgang erwarten würde.

Am nächsten Vormittag hatten wir Gelegenheit genug uns umzuschauen und kamen angesichts des uns umgebenden Luxus zu dem Schluss, wie in einem 5-Sterne-Hotel zu hausen. Wieder einmal war ich überaus dankbar dafür, was ich in Brasilien dank der Gastfamilien erleben darf. Gleichzeitig bot dieses Luxus-Leben wie schon so oft Anlass zur Reflexion über die ungleiche Verteilung von Vermögen, das nebeneinander von bitterer Armut und protzendem Reichtum. Im Rahmen meines Alltaglebens bin ich weiterhin in der Blase des Wohlstands scheinbar abgeschirmt von anderen Lebensrealitäten. Es liegt an mir, Raum für Begegnung und Auseinandersetzung mit Menschen aus prekären Realitäten zu schaffen. In dieser Hinsicht plane ich ein Treffen mit einer Aktivistin aus peripheren Gegenden, möchte im Rahmen meines Freiwilligenprojekts eine Art Reportage über das gesamte Gesellschaftsbild Brasiliens schreiben und dabei jene Menschen zu Wort kommen lassen, die mir tagtäglich begegnen, die durchaus Sichtbar im Stadtbild sind, wenn man nicht bewusst wegsieht.

Gegen Mittag fuhren wir mit dem Boot des Gastgebers Andre hinaus aufs Meer. Wie sich herausstellte, hat dieser weitgereiste Mann schon viel von Deutschland gesehen, ist sogar gut mit zwei Deutschen befreundet, die mit Fahrrad und Segelschiff die Erde umrundet haben, weil er zeitweise Teil deren Crew war. Wehmütig erzählte er uns von den Zeiten, als die Landschaft noch unbebaut war. Die mit luxuriösen Häuser und Villen zugepflasterten Hängen und von Sonnenschirmen bedeckten Strandabschnitte stellten einen starken Kontrast zu den naturbelassenen Felsen weiter außerhalb dar. Diese Landschaft, geprägt von mit mit Gräsern, hellgrünen Bromelien und dunkelgrünen Kakteen bewachsenen Hängen vor türkisblauem Wasser und von nistenden Vögeln bewohnt, war etwas ganz und gar Neues für mich und zog mich dementsprechend in ihren Bann. Nach der sonnenreichen Fahrt entlang der Küstenlinie und durch hohe Wellen, genossen wir das vergleichsweise kühle Wasser, bevor wir gegen drei Uhr zu Mittag aßen. In den kommenden Tagen lernte ich zu schätzen, wie problemlos die vegetarische Ernährung bisher funktioniert hatte. Das typische Mittagessen bestehend aus Reis, Bohnen, Farofa, verschiedensten Gemüsesorten und Obst zum Nachtisch bietet alle Nährstoffe einer ausgewogenen Ernährung. In dieser Woche gab es mehr als einmal Gerichte ohne vegetarische Beilagen, sodass ich trockenen Reis und Soya-Proteine aß, was aber nicht weiter schlimm war, denn aus meiner Schulzeit war ich ganz anderes gewöhnt. Drei Jahre lang jeden Dienstag den gleichen Kartoffelauflauf zu essen; selbst daran hat man sich gewöhnt.

An diesem Tag hat es geregnet, deshalb sah das Wasser weniger türkisfarben und glitzernd aus…

Wir verbrachten die folgenden Tage am Wasser oder gemütlich in Hängematten gekuschelt. Finn ist ein paar Mal mit dem Kayak herausgefahren, während ich die Bucht durchschwamm. Das stellte sich aber als weniger gute Idee heraus, da ich immer noch ein wenig angeschlagen war, sodass im Laufe der nächsten Tage nochmal alles rauskam. Infolgedessen habe ich viel gelesen oder Podcasts gehört, wahlweise auf Deutsch oder Portugiesisch und zu Themen aus Politik und Philosophie, oder ich schaute mit Finn die Serie „o mecanismo“, die auf wahren Begebenheiten rund um den Lava-Jato-Korruptionsskandal in Brasilien beruht. Auch das Buch „Ana Terra“ von E. Veríssimo, das ebenfalls auf einer realen Geschichte basierend die Widrigkeiten des Fazenda-Lebens vor allem aus Sicht der Frauen in Zeiten der ständigen Annexionskriege gesellschaftskritisch unter die Lupe nimmt, hat mir gut gefallen. Besonders weil ich der Geschichte Brasiliens beim Lesen anhand von einheimischen Werken näherkommen konnte, was aber angesichts der schwerverdaulichen Lektüre nicht immer leicht gewesen ist. Yoga, Billard, Frisbee mit Finns Hut und Flip-Flops über den Pool oder das Planen unserer Studienzeit füllten ebenfalls unserer Zeit. An einem Regentag brachte mir Finn des Weiteren Canasta bei und wir begannen eine Liste mit allen nötigen Möbelstücken und Gegenständen, die wir für unsere Wohnung brauchen werden. Das löste bei mir eine unglaubliche Vorfreude auf das Studium, Wollsocken, gemeinsames Kochen, gutes Brot, Freunde und Familie aus. Aber gleichzeitig will ich noch gar nicht richtig daran denken, denn jetzt bin ich hier und genieße die Zeit in Brasilien in vollen Zügen.

Einmal haben wir auch eine kleine Wanderung auf einen der umliegenden Hügel unternommen, von dem sich eine spektakuläre Aussicht auf benachbarter Felsen, das Meer und unzählige Kakteen bot. Auf einem schmalen Pfad durchquerten wir den tropischen Wald, der sich aber durch die Kakteen und vielen Bromelien deutlich von klassischen Regenwäldern abhob. Wir gelangten zu einer kleinen Bucht, wo wir uns alle abkühlten, bevor wir uns auf den Rückweg machten.

 

Ein lustiges Erlebnis war die improvisierte Untersuchung, die Carols Opa angesichts meiner Grippe in der Küche mithilfe eines Löffels unternahm. Dank dessen Medikamenten und durch den vielen heißen Kakao, den ich fortan getrunken habe, ging es mir zum Glück schon bald besser. Besonders süß finde ich, dass mich dieser Opa wie seine Enkelinnen zur Begrüßung auf die Stirn küsst. Anknüpfend daran konnten wir während unserer Zeit in Búzios auf besonderer Weise feststellen, dass die Auffassung von Familie in Brasilien im Allgemeinen einen sehr viel größeren Personenkreis umfasst, als ich das aus Deutschland gewohnt bin. Am Geburtstag der Gastgeberin war eine schier unüberblickbare Menschenmenge zu Besuch, wobei allein schon der Teil der Familie, der mit uns in den Ferienhäusern Urlaub machte, nicht an drei Händen abzuzählen war. Toll war an dieser Anzahl von Menschen allerdings das Gesprächspotential, das aus ganz verschiedene Wohnorten, Arbeitsplätzen und Erfahrungen resultierte. Generell stellte sich bei diversen Gesprächen heraus, dass der Großteil der Anwesenden irgendwelche wichtigen Posten besetzt.

Besonders viel über Brasilien habe ich im Austausch mit meinem Gastvater Gustavo gelernt. Dass Brasilien über 70% seiner Energie aus erneuerbaren Quellen, vor allem Wasserkraft bezieht, hat mich doch ein wenig überrascht. Wenn Deutschland oft als Vorreiter in diesem Bereich genannt wird, sollten wir uns als Europäer wirklich fragen, ob die Berichterstattung über weite Teile der Welt nicht dazu neigt, einseitig den Fokus auf die leider ebenso vorhandenen negativen Ereignisse und Strukturen zu richten, möglicherweise auch, um selbst in einem möglichst guten Licht zu erscheinen. Außerdem sprachen wir über das fehlende Bahnnetz und das Scheitern einiger Projekte des Wiederaufbaus, beispielsweise aufgrund von Vandalismus oder Korruption. Nicht weniger interessant waren seine Ausführungen über die Notwendigkeit von Guarani-Stunden im Ingenieurwesen. Wo heute ganze Straßen in Sao Paulo oder BH jedes Jahr aufs Neue überschwemmt werden, sogar in Rohre verlegte Flüsse den Teer aufsprengen oder wo der Flughafen von SP mit heftigen Stürmen und Starkregenereignissen zu kämpfen hat, wussten die indigenen Völker schon lange von den natürlichen Phänomenen, benannten die Orte gar nach diesen, was aber im Zuge des Überlegenheitsdenkens des modernen Menschen gerne überhört wurde. Jüngst machte sich die Kraft der Natur im Rahmen der starken Regenfälle in Minas Gerais bemerkbar. Zum Glück waren wir zu dieser Zeit in einem anderen Bundesstaat, den so viel hatte es in den letzten 110 Jahren nicht geregnet.

Abends waren Finn und ich ein paar Mal mit meiner Gastfamilie oder auch nur mit meiner Gastschwester und deren Cousine in der Innenstadt, die sehr touristisch geprägt ist. In der „rua das pedras“ grenzt ein Restaurant an das nächste oder wechselt Klamotten- oder Souvenirläden ab. Die geschützte Lage des alten Fischerdorfs in einer schönen Bucht, konnte dem Tourismusboom nicht standhalten und wird nun vor allem von Mineiros besucht, die in ihrem Bundesstaat über kein Meer verfügen. Bei leckerem Essen und einmal im Rock n Roll- Haus auch bei Live-Musik, führten wir nette Gespräche über das Schulsystem, Politik und Reisen.

Am letzten vollen Tag bin ich nochmal mit den Mädels auf dem Boot hinausgefahren. In einer benachbarten Bucht erkundeten wir eine von Meerwasser durchspülte Grotte und begegneten einer großen Meeresschildkröte vor einer malerischen Kulisse. Wieder einmal musste ich mir ins Gedächtnis rufen, dass das alles andere als selbstverständlich ist, dass ich am anderen Ende der Welt bin, auch wenn sich das Leben in Brasilien inzwischen ganz normal anfühlt.

Die Zeit in Búzios ist im Rückblick wie im Fluge vergangen.

Viel zu bald saßen wir wieder im Bus zurück nach BH, hörten Musik und Podcasts und genossen die vorbeiziehende Landschaft. Von den Unwettern war bei unserer Rückkehr, abgesehen von ein paar gesperrten Straßen nichts mehr zu sehen und am nächsten Morgen wachten wir bei strahlend blauen Himmel auf.

Am Vormittag bereitete ich einige Dinge für den Schulanfang vor und wir ergänzten unsere Wohnungsliste um weitere Details, bevor wir nach dem Mittagessen zwei Museen am „Praca da Liberdade“ besichtigten. An diesem Nachmittag ist mein Selbstreflexionsprozess erst richtig an die Oberfläche gekommen. Angefangen hat es mit der Tatsache, dass wir die Museen in zwei Stunden durchquert haben, in denen ich sonst jeweils mindestens acht Stunden verbracht hatte. Das war sicherlich vor allem der Sprachbarriere zu verschulden, aber trotzdem fühlte es sich in meinen Augen wie eine Abwertung meiner bisherigen Erlebnisse dort an, so als wären mir Teile meines neu gewonnenen Lebens in Brasilien entrissen worden. Natürlich wirkte dieser Museumsbesuch nur als Katalysator für tiefliegende Gefühle und Gedanken, die beim Acaí-Essen hinaufkatapultiert wurden und in unzähligen Worten Ausdruck fanden. Erst durch die Distanz zu Deutschland ist mir so einiges über mich selbst bewusst geworden und vor allem das „Einfallen“ von Deutschland in meine neue Welt, hat mich zurückversetzt fühlten lassen. Mir ist klar geworden, wie stark, unabhängig und frei ich mich durch die Erlebnisse der letzten Monate fühle, wie viel Selbstvertrauen ich dazugewonnen habe. Ich bin seit meinem ersten Tag in Brasilien mit der Einstellung „always be a beginner“, durch mein Leben gegangen, habe mir ganz neue Dinge zugetraut, ohne mir irgendwelche Gedanken zu machen, habe außerhalb der Leistungsgesellschaft, unterdrückte, extrovertierte Teile meiner vielschichtigen Selbst zugelassen, gerade weil ich die befreiende Erfahrung der Positionierung fern von jeglichen Zwängen, Erwartungen und Leistungsansprüchen erlebe. Hier in Brasilien fühle ich mich gesehen, wirklich wertgeschätzt für mein Tun und genieße die Tatsache, dass mich meine Freunde als „richtige, wilde Brasilianerin“ wahrnehmen, denn sie hatten kein einseitiges Bild einer guten Schülerin von mir, sondern haben mich als offene und erzählfreudige Person kennengelernt, die gerne mit ihnen weggeht, lacht, tanzt und die Eigenheiten des Landes erkundet. In einem Essay habe ich all das verarbeitet und mich danach wie schon so häufig durch den Schreibprozess erleichtert gefühlt. Ich werde alle neuen Teile von mir mit nach Deutschland bringen, mir nichts von meinen Gedanken und Einstellungen nehmen lassen, dafür bin ich hier viel zu glücklich und lebensfroh.

Mit Finn und meinem vorherigen Gastvater Haroldo war ich im Laufe der folgenden Tage bouldern, womit ich endlich das Versprechen eingelöst habe, Haroldo an seinen Lieblingsort der Stadt -die Kletterhalle- zu begleiten. Dort kamen wir mit einem jungen Brasilianer ins Gespräch, der mit uns über Umweltschutz und kulturelle Unterschiede sprach. Bezeichnend war wieder einmal seine Offenheit, die Selbstverständlichkeit mit der er anbot, wir könnten bei seinen Freunden in Rio wohnen, sollten wir jemals dorthin reisen – und das nach einer zehnminütigen Unterhaltung.

Am Abend sind wir mit Laura, Maria Luiza und einem weiteren Freund von ihnen zum „Mercado Novo“ gegangen. Wir schlenderten durch die alternativen Lädchen, zeigten Finn die leckersten Getränke und Snacks und sprachen viel über den bevorstehenden Karneval und politische Parteien.

Im Laufe des Abends sind wir in eine einfache Straßenbar mit Plastikstühlen und billigen Getränken weitergezogen. Dort tummelten sich unzählige Studenten, sodass auch wir einigen Freunden der Mädels begegneten. Bei Bier und Cachaca sprachen wir über die Notwendigkeit der Begegnungen auf Augenhöhe in einer globalisierten Welt, in der junge Leute aus aller Herren Ländern oft mehr gemeinsam haben, als mit der älteren Generation des Heimatlandes. Das Gespräch war ein lustiges dreisprachiges Experiment weil ich weiter Portugiesisch sprechen wollte, da ich tatsächlich mit dem Wechsel der Sprachen auch zwischen Einstellungen, beziehungsweise inneren Universen wechseln kann und ich mich zurzeit im Portugiesischen wohler fühle, zumindest solange, bis ich meine neuen Stärken ins „deutsche Denken“ übersetzten kann. Die Brasilianer sprachen deshalb unter sich und mit mir Portugiesisch, mit Finn Englisch und ich mit ihm Deutsch. Besonders freute mich an diesem Abend, dass meine Freunde zu dem Schluss kamen, ich sei eine Brasilianerin geworden und wir müssten Finn etwas davon mitgeben, was zu gegenseitigen Umarmungen und lieben Worten führte. Auf dem Weg zu dieser Bar führten wir noch zwei herzerwärmende Gespräche mit Obdachlosen, die unglaublich dankbar waren, gesehen zu werden. Da sie im Straßenbild leider keine Seltenheit sind, schenken ihnen die wenigsten Passanten Beachtung, behandeln sie wie Luft. Wir hörten uns ihre Geschichten an und erzählten ihnen von uns. Diese Begegnungen inspirierten mich dazu, Briefe mit netten Worten der Wertschätzung an die Menschen, die mir tagtäglich begegnen und die mit ganz anderen Lebensrealitäten zu kämpfen haben, zu verschenken. Gehört und als Mensch gesehen zu werden ist unglaublich wichtig, erst dann ist Kontakt in gegenseitigem Respekt möglich.

Ein anderes Mal haben Finn und ich das Stadtviertel Pampulha mit seinem großen See besucht. Nach einem langen Spaziergang in Flip-Flops und einem Picknick am Ufer stiegen wir unglücklicherweise in den Bus mit der falschen Fahrtrichtung und fanden uns eine halbe Stunde später in einem sehr benachteiligten Gebiet der Stadt wieder. Ermattet von der Sonne, ohne Essen und mit schmerzenden Füßen, fühlte ich mich wie erschlagen von dem Anblick, der sich uns bot. Man muss dazu sagen, dass das noch eine der besseren Favelas gewesen ist, denn die Busanbindung war ironischerweise regelmäßiger als in meinem Heimatdorf. Wie nichtig die eigenen Probleme plötzlich angesichts sich selbst verstärkender Armutskreisläufe und struktureller Benachteiligung erscheinen, die sich direkt neben uns offenbarten, ist vor allem im Hinblick auf einen kritisch-reflektierenden Umgang mit den eigenen Privilegien überaus wichtig und hat mir meine Augen weiter geöffnet, als das im Alltagsleben möglich ist.

In der darauffolgenden Woche hat der Unterricht wieder begonnen und zeitgleich habe ich erneut mit den Kursen im Fitnessstudio angefangen. Beim Tanzen konnte ich wieder voll aufgehen, aber auch das Yoga und Pilates haben viel Spaß gemacht. In der Schule habe ich zunächst einige Tage lang Alberts Unterricht begleitet. Ich habe den Schülern Texte vorgelesen, die Aussprache von neuen Vokabeln mit ihnen geübt, Hausaufgaben kontrolliert, beim Lösen von Aufgaben oder beim Erstellen von Plakaten unterstützt, Aufgaben mit ihnen an der Tafel korrigiert und Spiele mitgespielt.

Mittags habe ich dann Finn getroffen, habe mit ihm wahlweise Biscotti oder meinen Geburtstagskuchen gebacken, war mit ihm in Cafés, wo wir lange und tiefgründige Gespräche führten oder aber ich arbeitete an den Geschenken für Jannik und Finn.

Am Freitagabend waren wir anlässlich meines Geburtstags am Sonntag mit zwei Freundinnen in einer veganen Bar, haben viel gelacht und geredet und sind ein bisschen durch das Stadtviertel geschlendert, um andere beliebte Orte und Straßenzüge kennenzulernen. Am nächsten Tag feierten wir meinen Geburtstag mit einer anderen Freundesgruppe in der Spielebar „funtasy“. Der Abend war sehr lustig. Wir spielten verschiedene Gesellschaftsspiele, wobei wir über das Studium drei meiner Freunde in Deutschland sprachen und uns über kulturelle Feinheiten amüsierten. An meinem Geburtstag selber war ich morgens erst lange joggen, bevor Finn und ich mit meiner Gastfamilie gemütlich und ausgiebig frühstückten. Wirklich süß war, dass ich einen großen Käse als Kuchenersatz bekommen habe, da sie wussten, dass ich keinen Zucker vertrage. Außerdem gab es Vollkorntoast, Roggenbrot und pao de queijo und sie schenkten mir ein tolles Sport-Shirt. Auch von meinen Freunden habe ich wirklich besondere Geschenke bekommen, die bewiesen haben, dass sie mich schon sehr gut kennen. Von Ana Rachel habe ich beispielsweise ein selbstgemachtes Kochbuch mit brasilianischen Rezepten und einen lieben Brief bekommen. Den restlichen Tag verbrachten wir damit, Brezeln zu backen und es uns gemütlich zu machen.

Auch dieses Bild lässt sich nicht drehen, aber das macht nichts- der Käse war trotzdem lecker:)

Während Finn die nächsten vier Tage in Rio de Janeiro verbrachte, wo ich auch im April mit meiner Mutter hingehen werde, habe ich in der Schule Juliana vertreten, die zusammen mit Albert auf einer Fortbildung war. Im ersten Teil der Stunden führte ich eine Aktivität zum Thema Sprichwörter durch, wobei die Schüler die direkt übersetzten Ausdrücke verstehen und entweder interpretieren oder als Standbild, beziehungsweise in kurzen Szene darstellen sollten. Besonders mit den ersten beiden Klassen, die neu zur Oberstufe hinzugekommen waren und noch nie Deutschunterricht gehabt haben, war diese Aktivität lustig. Viele Lacher entstanden infolge ihrer Darbietungen von „Die Kuh vom Eis holen“, oder „Ich glaube mein Schwein pfeift !“. Im zweiten Teil führte wir eine Debatte über deutsche Kultur und ich beantworte ihre Fragen zu Deutschland. Des Weiteren erklärte ich den Schülern das politische System und unsere Parteienlandschaft, inklusive jüngster Ereignisse in Thüringen. Weiterhin unterstützte ich die Schüler beim Lösen von Revisionsaufgaben und nahm mir Zeit die vier Fälle ausführlich in Kleingruppen auf Portugiesisch zu erklären, was zu wirklichen Erfolgserlebnissen führte, sodass ein paar Mädels zu mir kamen und sagten: „So viel wie heute haben wir in den letzten fünf Jahren nicht begriffen!“. Diese Rückmeldung hat mich sehr berührt und es hat mir große Freude bereitet, solche Fortschritte mit anschauen zu können. In den verbleibenden Stunden sollte ich einen Film über Deutschland mit dem Titel „A Alemanha em nós“ zeigen. Nach dem fünften Mal hing mir die Darstellung deutscher Marken und das rein positive Bild meines Heimatlandes ein wenig zum Hals heraus, weshalb ich die Zeit während des Filmes mit Geschenke-Basteln überbrückte. Besonders der Unterricht in Klassen, in denen Freunde von mir sind, waren lustig weil ich mich einfach zu ihnen setzten und mit ihnen schwatzen konnte, wenn ich gerade nichts erklären musste. Schön war für mich auch zu sehen, dass einige Schüler großes Interesse am kulturellen Austausch, Politik und sogar an einem Auslandsaufenthalt in Deutschland zeigen, weshalb wir nicht selten auch noch nach der Stunde weitersprachen. Die Schüler sind meiner Meinung nach wirklich lieb und herzlich. Sie machen mir ständig Komplimente für meinen Style, mein Aussehen, mein Portugiesisch oder meinen Unterricht und umarmen mich, kreischen sogar auf dem Pausenhof, sobald sie mich sehen.

Nachmittags habe ich viele Podcasts gehört, mit Freunden telefoniert, mich mit einer Freundin zum Bullet Journaling oder zum Einkaufen von Karnevalskleidung verabredet. Außerdem war ich mit ein paar Freunden zu Mittag essen und habe einen Schülerin bei ihren Vorbereitungen auf die B1-Prüfung unterstützt.

In Zukunft werde ich in der Schule mit den 8.Klässlern eine Art Papiertheater zu verschiedenen Märchen basteln, einen Back-Workshop in den neunten Klassen anbieten, Spiele und Quizze mithilfe von Lern-Apps vorbereiten und durchführen, beim Korrigieren von Texten helfen und meine AG „Deutsch extra“ beginnen, in der ich je nach Interesse und Sprachniveau Spiele spielen, backen, kochen oder basteln werde. Außerdem werde ich Beiträge aus Zeitungen, Podcasts, Musik, Literatur und Film zu gesellschaftlich aktuellen Themen mit den Schülern behandeln oder offene Fragen aus dem Unterricht klären.

Am letzten Samstag wollten Finn und ich eigentlich in einem Naturpark mit Wasserfällen wandern gehen, aber leider hat er seinen Wecker verschlafen, sodass wir nochmal im „Parque das Mangabeiras“ spazieren gingen und die Sonne im weichen Gras genossen. Des Weiteren backten wir ein Bananenbrot für meine vorherige Gastfamilie als kleines Dankeschön für ihre Gastfreundschaft Finn gegenüber. Am Sonntag sind wir mit Maria Luiza auf eine Prä-Karneval-Veranstaltung einer linken Bewegung für niedrigere Preise im öffentlichen Nahverkehr gegangen. Zunächst sah es aus, als ob die traditionell konservative Polizei den „bloquinho“ verbieten wollte und es sammelten sich absurd viele Einsatzkräfte im Vergleich zu den vielleicht 30 Anwesenden, darunter viele Kinder. Letztlich konnte die Veranstaltung aber stattfinden und neben bekannten Liedern, deren Texte an die sozialen Forderungen der Bewegung angepasst und zum Teil von einem kleinen Mädchen gesungen wurden, spielte ein improvisiertes Trommel- und Rasselorchester verschiedene Rhythmen. Wir tanzten und sangen kräftig mit. Angesichts dieser Erlebnisse freue ich mich schon riesig auf den Karneval, der am kommenden Wochenende beginnt. Auch beim Tanzen im Fitnessstudio haben vorgestern die anderen Frauen gesagt, ich sei mehr als bereit für den Karneval und würde sehr schön tanzen.

Zuletzt habe ich vergangene Montag spontan eine kranke Lehrerin vertreten. In Windeseile habe ich ein Quiz mit Fakten über Deutschland erstellt, das ich mit den 6. und 7. Klassen gespielt habe. Weiterhin habe ich Unterricht gemäß des Lehrplans zum Thema Begrüßung und Zahlen bis 100, beziehungsweise Schulsachen gehalten. Das hat erstaunlich gut funktioniert und am Abend bekam ich sehr positive Rückmeldung von Albert, der meinte, ich sei einsame Spitze und im Sekretariat, im Kollegium und auch innerhalb der Schulleitung sei man sehr zufrieden mit meinem Engagement und stolz auf mich. Sie hätten sogar gefragt, ob ich nicht bleiben könne und in anderen Städten beneide man das CSA um mich. Diese Worte haben mich unglaublich gerührt und einmal mehr verdeutlicht, wie wichtig es ist, Portugiesisch zu sprechen, denn ohne die Landesprache hätte ich nur einen Bruchteil der Aktivitäten mit den Schülern durchführen können, vom Unterrichten mal ganz zu Schweigen.

Wie ihr vielleicht heraushören konntet, fühle ich mich wirklich sehr wohl in Brasilien, sehe mich in gewisser Hinsicht als Teil der Gesellschaft und blicke mit Vorfreude auf den Karneval, meine bevorstehenden Projekte und Workshops.

 

Liebe Grüße!

P.S.: Viele der hier benutzten Bilder sind von Finn 🙂

Pura Vida

Es war irgendwie ein komisches Gefühl zu wissen, dass ich nach den sehr intensiven vergangenen Monaten in Brasilien das Land mitsamt seiner Sprache, in der ich gerade so richtig angekommen war, für dreieinhalb Wochen verlassen werde. Nichtsdestotrotz freute ich mich unglaublich auf das Abenteuer, das mir bevorstand.

Mitten während eines Familienfests im Haus der Großmutter meiner Gastschwester wurde ich von einem Taxi abgeholt, das mich zu später Stunde zum Flughafen brachte. Dort wurde es zunächst spannend, ob ich denn tatsächlich fliegen können würde, da das Standby-Fliegen immer ein gewisses Risiko mit sich bringt. Glücklicherweise hat aber alles reibungslos geklappt und nach einem gesprächsintensiven Flug mit meiner brasilianischen Sitznachbarin, fand ich mich bereits in Panama wieder und von dort war es nur noch ein Katzensprung nach San José.

Dort angekommen musste ich zunächst feststellen, dass sich das bestellte Flughafenshuttle in der Uhrzeit geirrt hatte. Das war aber nicht weiter schlimm, denn diverse Taxifahrer boten mir netterweise ihr Handy an, um dem Fahrer bescheid zu sagen, sodass ich mich einige Zeit später wohlbehalten im Hostel wiederfand und noch gut zehn Stunden bis zur Ankunft von Marle totzuschlagen hatte. Die Freude beim Wiedersehen war unheimlich groß, obgleich die Situation auch etwas Surreales an sich hatte. Denn sich nach so langer Zeit ausgerechnet am anderen Ende der Welt in einem x-beliebigen Hostel wieder zu vereinen, passiert wirklich nicht alle Tage.

Am nächsten Morgen wachten wir viel zu früh auf und waren dementsprechend müde, aber das gehört wohl dazu. Mit dem Taxi machten wir uns dann auf in Richtung Busbahnhof, von welchem wir nach Manuel Antonio abfuhren. Ich glaube wir beide waren mehr als dankbar, als wir endlich in der Unterkunft ankamen, denn die Fahrt war von Hitze und Erschöpfung geprägt. Der Blick, der sich uns von den gemütlichen Hängematten aus bot, machte die Anstrengungen allerdings mehr als wett. Besonders das erfrischende Meerwasser hob unsere Stimmung ungemein und verlieh uns neue Energie. Nachdem wir noch einige lustige Strandverkäufer abwimmeln mussten, machten wir uns ausgehungert auf die Suche nach Essbarem, denn wir hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen. Dementsprechend gut schmeckten uns die Nudeln, vor allem ich hatte sie nach drei Monaten Reis-Vorherrschaft wirklich vermisst. Nach dem Essen fielen wir erschöpft in die Betten, holten etwas Schlaf nach, um fit für den Nationalpark am nächsten Morgen zu sein.

Der Park bot uns eine Vielfalt an Flora und Fauna, ebenso wie traumhafte Strände. Beispielsweise begegneten wir einer Schlange, einem Alligator, Affen und verschiedenen Echsen, bevor wir uns im Meer abkühlten und uns mit unserem seit Kindertagen bestehenden Kürzel „LEMA“ auf einem Aussichtspunkt verewigten.

Des Weiteren wanderten wir während unserer Zeit in Manuel Antonio zu einer kleineren, abgelegenen Bucht und genossen einen sonnigen Strandtag inklusive erster Versuche meinerseits Gespräche auf Spanisch zu führen, was jedoch in einer kläglichen Mischung aus Portugiesisch und Spanisch in meinen Antworten endete. Beim Zurücklaufen im Bikini merkten wir einmal mehr, dass dieser Aufzug nicht unbedingt geeignet ist, um an Bauarbeitergruppen vorbeizulaufen, was dazu führte, dass wir in unsere Handtücher gewickelt und deshalb in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt langsam den Berg hinaufwatschelten. Am Abend gingen wir noch mit zwei anderen deutschen Backpackern aus dem Hostel einen leckeren Fruchtsmoothie trinken, bevor ich den Sternenhimmel von der Hängematte aus bewunderte und darauf wartete, dass die Mitbewohner aus dem Zimmer einschliefen, da ich sie nicht mit meinem Husten stören wollte, der mich unglücklicherweise die ganze Reise über begleitete.

Am nächsten Morgen ging die Reise weiter nach Monteverde. Während der Umsteigezeit in Puntarenas probierte wir zum ersten Mal ein typisches Gericht in einem der Sodas und kamen dabei mit zwei Österreicherinnen ins Gespräch, die wir im Verlauf unserer Tour noch öfter wiedersehen werden.

Der zweite Teil der Fahrt schien sich ins Endlose zu ziehen, während sich der Bus die abenteuerlichen Bergsträßchen hinaufquälte. Je höher wir kamen, desto stärker wurde der Eindruck, wir seien im Allgäu, denn Kühe weideten auf saftigen Hügeln und das Hostel erinnerte an eine Berghütte. Durch ständigen feinen Nieselregen, der auf den ersten Blick Schnee nicht unähnlich war und nicht zuletzt durch die erstaunlich niedrigen Temperaturen stellte sich ein Gefühl der Heimeligkeit ein, wie ich es in der Vorweihnachtszeit vermisst hatte. Dementsprechend dankbar war ich für diese gemütliche Atmosphäre zu Weihnachten. Den Temperaturen angemessen aßen wir eine Nudelsuppe, die wir in einem überraschend großen Supermarkt in Anbetracht der Größenverhältnisse des Orts fanden, wo wir angesichts des reichhaltigen Angebots ganz im Glück waren.

Die Wanderung durch den Nebelwald von Santa Elena am Folgetag war ein Erlebnis der besonderen Art. Die tropfenden überdimensionalen Blätter und mächtigen Baumstämme sorgten für eine Urzeitstimmung, wie ich sie bisher an keinem Ort der Erde erlebt habe. Nur selten begegneten wir anderen Menschen auf unserem Weg durch die schlammigen Waldtiefen, der uns einmalige Blicke auf große Affen und andere kleinere Tiere erlaubte.

Wiederrum eine ganz andere Welt stellte dann das Bummeln durch die kleinen Geschäfte des Orts mit Skihütten-Charme, sobald die Sonne herauskam, dar. Anschließend machten wir es uns in einem schönen Café gemütlich und genossen den Fakt, einfach Zeit zu haben und stundenlang reden zu können. Abends besuchten wir noch die einzige Bar der Umgebung, in der aber im Gegensatz zum folgenden Weihnachtsabend ernüchtern wenig los war.

Nach einem ausgiebigen Weihnachtsfrühstück mit Ei, Toast, viel Obst und Milchshakes sprachen wir mit Familie und Freunden zuhause, schaukelten in den Hängematten und aßen Nachos in einem nahegelegenen Restaurant, wobei wir intensive Gespräche über die Zukunft und das Verständnis von Werten in der modernen Welt führten. Richtig gemütlich wurde es am Abend, als alle im Hostel kochten und wir mit zwei Kanadiern Karten spielten. Einer der beiden, der Künstler ist, legte uns des Weiteren Tarot-Karten, bevor wir mit allen Hostelgästen und auch mit einigen Einheimischen den Weihnachtsabend ausgelassen tanzend verbrachten.

Am nächsten Morgen fuhren wir mit Boot und Kleinbus weiter nach La Fortuna. Noch etwas müde vom Vorabend würdigten wir die Sicht auf den Vulkan leider zu wenig, denn wie sich herausstellte, kommt es selten vor, dass dieser nicht zur Hälfte im Nebel verschwindet. Außerdem hatten wir das Glück zwei Faultiere am Straßenrand zu sehen, bevor wir mit einem Schweizer und einem Kanadier zu den famosen Hot springs gingen und dort über vier Stunden im angenehmen Thermalwasser dümpelten und von Einheimischen in lustige Gespräche verwickelt wurden.

Nach nur einer Nacht dort brachen wir am nächsten Morgen auf zu einer langen Reise nach Tortuguero. Wie lange diese tatsächlich werden würde wussten wir zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise noch nicht. Da wir widererwartend über San José fahren mussten, war es uns nicht mehr möglich das letzte Boot in den Nationalparkt zu erreichen, welches bereits um vier Uhr nachmittags gefahren wäre. Ein wenig planlos „strandeten“ wir somit in irgendeiner Kleinstadt ohne Hostels. Am Busbahnhof fragten wir deshalb etwas naiv nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Zu unserer großen Freude fand sich ein Hotel, das ohne unseren finanziellen „Backpacker-Ruin“ zu verursachen, den Luxus eines Einzelzimmers bot, den wir auch redlich genossen.

Im Morgengrauen ging es dann weiter nach Tortuguero. Während der Fahrt mit dem Boot sahen wir Krokodile, Faultiere und Echsen und wurden von einem Kuh-Transport überrascht. In dem sehr überschaubaren Dorf angekommen, gönnten wir uns zunächst einen vegetarischen Burrito und stöberten durch die Läden, bevor der Regen einsetzte und wir den Nachmittag Podcast hörend, lesend und Platanos futternd verbrachten.

Besonders lecker war am Folgetag das Frühstück bestehend aus Müsli mit saftiger Ananas und Melone. Trotz des Regens unternahmen wir einen Strandspaziergang im Bikini auf der Suche nach schlüpfenden Schildkröten, die wir allerdings leider nicht zu Gesicht bekamen. Zum Ausgleich machten wir Yoga am Strand und tranken später einen leckeren Kaffee in einem Buddha-Café mit Flussblick. Dort hatten wir Gelegenheit genug den Wert von Freundschaft im Allgemeinen und unserer im Besonderen zu reflektieren und über die ausufernde Mediennutzung heutiger Generationen zu sprechen. Bei guter Musik und dem beruhigenden Geräusch des Regens kochten wir abends eine leckere Gemüsepfanne und kamen nicht umhin zu realisieren, dass all die Dinge, die vor uns liegen, eine enorme Vorfreude in uns hervorrufen und wie dankbar wir für unsere weitreichenden Möglichkeiten sind.

Am nächsten tag fuhren wir weiter nach Cahuita. Während der Fahrt hörte ich einen Podcast über Hannah Arendt, der mich sehr inspiriert und mich ein weiteres Mal in meinen Studienplänen bestärkt hat. Da ein Sturm das Meer sehr aufgewühlt hatte, verweilten wir nicht allzu lange am Strand und genossen stattdessen Bananenmilch und Wraps im stilvoll eingerichteten Hostel. Je weiter die Reise fortgeschritten war, desto ruhiger und entspannter ließen wir es angehen. Wir verbrachten unsere Nachmittage lesend in einem sehr schönen Café, dessen leckeres Brot mein plötzlich einsetzendes und völlig unbegründetes Verlangen nach Brezeln am ehesten befriedigen konnte. Das gemütliche Nichtstun war sehr erholsam-, außer lecker zu kochen, Säfte zu trinken, stundenlang zu quatschen und zu lesen taten wir wenig.

Unser vorletzter Stopp -Puerto Viejo- mit seinen süßen Lädchen, veganen Bars und Surfshops bot Gelegenheit zum Schlendern und Stöbern, bevor wir den Silvesterabend mit den anderen Leuten aus der Unterkunft einstimmten und schließlich auf einer Strandparty wild tanzten, dem Feuerwerk zusahen und jede Menge lustige Bekanntschaften machten. Die folgenden Tage in Puerto Viejo verbrachten wir überwiegend am Strand des türkisblauen Karibikmeers, wo wir wahlweise Surfer beobachteten oder uns im Wasser treiben ließen. Außerdem lernten wir diverse Leute mit den verschiedensten Nationalitäten kennen und probierten Varianten der populären Empanadas und eine Pizza in Gestalt eines Eises.

Unseren letzten Halt legten wir in Uvita ein. Auf der Fahrt dorthin machten wir auf der einen Seite die Erfahrung von einem hinterlistigen Taxifahrer, auf der anderen Seite aber wurden wir inspiriert von der Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit in Form eines Mannes, der sich unserer annahm, als wir leicht desorientiert und aufgewühlt aus dem Taxi stiegen, dessen Fahrer wir so dringend loswerden wollten. In Uvita überkam uns dann erst recht ein Camping-Flair. Der Strand war nur bei Betreten vor sieben und nach vier Uhr kostenlos, sodass wir nach Joggingrunden oder Yoga-und Fitnesseinheiten am Morgen, den Tag lesend und Musik hörend verbrachten, bevor wird den spektakulären Sonnenuntergang in Pastelltönen auf dem walflossenförmigen Teil des Strandes genossen und zu Abend aufwendigere Gerichte kochten.

Der Abschied in San José nach einer letzten gemeinsamen Übernachtung fiel uns unglaublich schwer. Nachdem ich im Hinblick auf meine Gelassenheit kurz vor Abflug nochmal auf die Probe gestellt wurde, da ich zum falschen Flughafen gebracht wurde und daraufhin im Eiltempo durch die Stadt zum richtigen Abflugort gelangen musste, hatte ich endlich Zeit, die Gedanken und Gefühle sacken zu lassen. Mir ist wirklich klar geworden, wie glücklich ich mich schätzen kann, so eine Freundschaft haben zu dürfen und wie zuversichtlich ich nicht zuletzt dank toller Menschen in meinem Umfeld auf die Zukunft blicke.

Im Flugzeug hörte ich mir dann portugiesische Musik an und diskutierte mit meiner Sitznachbarin über Weltpolitik, sodass in Bezug auf Brasilien so etwas wie Heimatgefühle entstanden sind, vor allem als ich abends bei meiner Gastfamilie erschöpft ins Bett gefallen bin.

Liebe Grüße und bis bald 🙂

O tempo do Advento

Nach der sehr intensiven Zeit auf dem Zwischenseminar bot das doch recht stupide Korrigieren diverser Klausuren Gelegenheit genug, die Eindrücke und Gedanken des Seminars zu verarbeiten. Da ich den Großteil der Schüler eher auf freundschaftlicher Basis kenne, tat es mir für jeden Punkt, den ich ihnen abziehen musste, leid. Aber alles in allem haben sie gut abgeschnitten und haben sich die zweimonatigen Ferien mehr als verdient. Wer allerdings in einem oder mehreren Fächern nicht genug Punkte erreicht hat, muss noch bis Weihnachten zum Nachholunterricht kommen.

Apropos Weihnachten. Die Vorweihnachtszeit hier in Brasilien zu erleben ist wirklich eine besondere Erfahrung. Die Adventszeit, so wie ich sie aus Deutschland gewohnt bin, inklusive Adventskalender und Kranz existiert hier nicht. Ich musste in den meisten Fällen sogar das portugiesische Wort „Advento“ erklären. Eine nette Frau im Fitnessstudio hat neulich völlig zusammenhangslos zu mir gesagt, dass man Länder nicht verglichen kann und soll, dass jedes Land und dessen Traditionen auf ihre Art besonders und schön sind. Daran muss ich immer wieder denken, wenn ich den Weihnachtschor bei Sonnenschein oder die dekorierten Palmen sehe, die irgendwie surreal und fehl am Platz wirken; zumindest aus der deutschen „Weihnachtsbrille“ betrachtet.

Trotz allem wollte ich nicht auf einen Adventskranz verzichten und bin auf der Suche nach geeigneten Materialien durch die Nachbarschaft gestreift. Ein Palmwedel und ein riesiges Blatt haben meine Aufmerksamkeit geweckt. Den Passanten muss ich wohl ein lustiges Bild geboten haben, als ich mit Flipflops hüpfend und mit Hilfe meines Schlüssels ein Stück des Palmwedels abtrennte. Auch der Portier schaute mich fragend an, als ich vollbepackt zurückkam. Dank weiterer Backaktionen und zweier Adventskalender aus Deutschland kam aber trotz allem Weihnachtsstimmung bei mir auf. Ein großes Dankeschön an dieser Stelle für die kreativen Beiträge zum Video-Adventskalender von Familie, Freunden und Nachbarn. Ihr habt mich jeden Morgen zum Lachen gebracht 🙂

Eine Neuinterpretation des traditionellen Adventskranzes – auf brasilianische Art 🙂

Für eine Freundin, auf deren Geburtstag ich eingeladen war, habe ich des Weiteren einen Adventskalender aus Keksen und inspirierenden Sprüchen gebastelt, um diese schöne Tradition mit ihr zu teilen. Der Geburtstag war ohne Zweifel eine schöne Erfahrung. Auf der Dachterrasse, von der sich ein spektakulärer Blick auf die Stadt bot, machten wir es uns mit leckeren Snacks, Gitarre und Kartenspielen gemütlich. Ich hatte zunächst ein wenig Sorge, dass ich die Regeln der diversen Spiele nicht gleich verstehe, weil inzwischen so gut wie niemand mehr besondere Rücksicht nimmt oder mich anders behandelt, was die Sprache angeht. Letztlich waren die Sorgen völlig unbegründet und unter einem prachtvollen Sternenhimmel haben wir noch lange über Politik diskutiert und gesungen, was mich sehr an die Lagerfeuerabende in meinem Heimatdorf erinnerte.

In der folgenden Woche hatte ich in der Schule nur sehr wenig zu tun, da ohnehin selten Unterricht stattfand oder Prüfungen abgenommen wurden. Ich nutzte die freie Zeit, um viele Podcasts zu hören, Briefe in meinem Lieblingscafé zu schreiben und weitere Museen zu besuchen. Die Diversität der Ausstellungsinhalte im „Memorial Minas“ hat mich sehr fasziniert. Geschichten revoltierender Sklaven, eine Mediathek mit Filmen zu allerlei Themen von Literatur bis indigener Kultur, literarische Konzepte großer Schriftsteller des Bundesstaates und eine eindrückliche und zum Nachdenken anregende Fotogalerie Sebastiao Salgados wurden auf dem zweiten und dritten Stock von der Geschichte der Stadt, Höhlenmalerei, der Darstellung der sich aus europäischen, afrikanischen und indigenen Völkern zusammensetzenden Gesellschaft von Minas und zahlreichen weiteren Kunstwerken ergänzt. Insgesamt habe ich auf zwei Besuche verteilt über acht Stunden dort verbracht und habe längst nicht alles gesehen.

Ein anderes Mal war ich in einer neuen Ausstellung im „Espaco do Conhecimento UFMG“ zum Thema „Mundos Indígenas“. Die Geschichten und Botschaften der fünf ausstellenden Völker(Yanomami, Ye`kwana, Xakriabá, Maxakali und Pataxoop) waren sehr direkt und gingen hart ins Gericht mit der weißen, der kapitalistischen Lebensweise, die ihre, letztlich unser aller Lebensgrundlage zerstöre.

  • Heutzutage hat der Mensch das Gefühl verloren, die Natur als Verbündeten zu haben.  Wir kämpfen, um ihr zu trotzen. Wir kämpfen, um Wasser, um Wald zu haben.
  • Die Menschheit muss wieder lernen, sich um ihr Umfeld zu kümmern.
  • Diese Erde ist unsere Mutter, ist der Ort, an dem wir geboren sind. Die Erde darf nicht zerstört werden!  

Eine interessante Erfahrung war vor Kurzem auch die „formatura“ der Schüler des 9. Schuljahres, also die Abschlussfeier des „Ensino Fundamental“. Es wurde viel gesungen und musiziert. Des Weiteren haben zwei Schüler eine wirklich beeindruckende Rede gehalten. Entgegen meiner Erwartung erhielten die Schüler aber kein Abschlusszeugnis oder Ähnliches, stattdessen kam mir der Abend eher wie ein Gottesdienst vor, was aber natürlich auch damit zusammenhängt, dass das CSA eine katholische Schule ist.

Letztes Wochenende war ich ein letztes Mal mit meiner Gastfamilie in Buenópolis. Nach zwei Besuchen war ich mir sicher, schon alles Sehenswertes der Kleinstadt zu kennen. Doch ich wurde eines besseren belehrt, als ich noch ganz neue Ecken entdeckte. Neben dem ältesten Haus der Stadt, das ganz idyllisch zwischen Mangobäumen weit außerhalb des Stadtkerns liegt, lernte ich noch zwei schöne Hotels kennen uns musste mich unweigerlich mit der vorherrschenden Armut in den peripheren Gegenden der Umgebung auseinandersetzen. Ich kann und will nicht müde werden, meine Privilegien kritisch und reflektierend wahrzunehmen. Privilegien, die es mir erst erlauben zu reflektieren, die komplexen Rückkopplungen unserer globalisierten Welt wirklich spüren zu können.

Anders als bei den ersten beiden Besuchen verbrachten meine Gastschwester und ich viel Zeit mit deren achtjährigen Cousine. Wir spielten u.a. das Spiel des Lebens, wobei ich als Bank meine Sprachfertigkeiten bezüglich großer Zahlen unter Beweis stellen musste. Beim Versteckfangen fühlte mich in alte Zeiten im Sommer auf dem Dorf zurückversetzt. Auch im Restaurant vergnügten wir uns mit Tischkickern und den riesigen Kröten(„sapos“), die dank des Regens, der endlich eingesetzt hat, überall herumhüpfen und die ich fälschlicherweise als „sapatos“, also Schuhe bezeichnete, was für viel Gelächter sorgte.

Am nächsten Tag haben wir ein letztes Mal das Anwesen von Luís besucht. Es fühlte sich an wie ein richtiger Urlaubstag, denn wir verbrachten die Zeit hauptsächlich schwimmend und Karten spielend. Zwischendurch aßen wir saftige Früchte direkt vom Baum. Wenn ich ehrlich bin ist allerdings das ganze Jahr hier Erholung pur. Zwar sind die Eindrücke und Gefühle, die damit einhergehen, oft sehr intensiv, aber es tut so gut, scheinbar unendlich viel Zeit zu haben, solange irgendwo zu verweilen, wie es mir gefällt.

Abends haben wir noch einen Freund meines Gastvaters auf dessen Anwesen besucht, das über einen wunderschönen See verfügt und auf dem zwischen Pflanzen mit Früchten in Größe eines Fußballs Katzenbabys herumtollen. Besonders schmeichelnd fand ich, dass der Freund dachte ich sei lediglich eine Brasilianerin mit deutschen Wurzeln und nicht wirklich aus Deutschland. Bevor wir in einem neu eröffneten Fazenda-Restaurant den Abend bei Live-Musik ausklingen ließen, hatten wir noch viel Spaß mit dem Schwein von Luís, das nicht mehr loszuwerden war, sodass ich notgedrungen mit ihm die Dusche teilen musste. Beim Abendessen unterhielten wir uns angeregt und ließen die letzten drei Monate Revue passieren. Mir kommt es inzwischen wie eine halbe Ewigkeit vor, dass ich mich von meiner Familie in Frankfurt verabschiedet habe und ins Ungewisse aufgebrochen bin.

Am letzten Sonntag bin ich zu meiner neuen Gastfamilie umgezogen, die glücklicherweise nur zwei Querstraßen entfernt wohnt, sodass die Umgebung für mich die selbe bleibt. Direkt freudig empfangen wurde ich von ihrem kleinen wuscheligen Hund, der das Zusammenleben hier sehr lebendig macht.

Nachdem ich mich häuslich eingerichtet hatte saßen wir noch lange bei Pao de Queijo und Wein zusammen und hatten Gelegenheit uns gegenseitig kennenzulernen und über Politik zu diskutieren. Wie schon in der ersten Familie fühlte ich mich von Anfang an wohl und willkommen.

Mit meiner Gastschwester und auch mit ihren Freunden, die viel Zeit mit uns verbringen, hatte ich schon viel Spaß und tolle Gespräche. Wir haben zusammen Plätzchen gebacken, ihre Großeltern besucht, gemalt und ein Rock-Konzert mit brasilianischer Musik im Palácio das Artes besucht.  Außerdem hatte ich am Mittwoch einen Workshop in der Schule zu Thema Weihnachtsgeschenke. Es war sehr gemütlich, mit Musik und viel Gelächter den Nachmittag bastelnd zu verbringen.

Des Weiteren war ich abends zusammen mit ein paar Freunden in einer wirklich coolen Bar, in der alle Brettspiele, die man sich vorstellen kann, in einem sich über zwei Stockwerke erstreckenden Regal zu Verfügung stehen. Wir vergnügten uns mit ganz verschiedenen Spielen von Logik bis Wissensquiz, bei dem ich zu meiner Freude nicht verloren habe, obwohl alle Fragen auf Portugiesisch waren. Ebenfalls war ich mit ein paar Mädels am Folgetag in einigen Bars im „Mercado Novo“, einem sehr hippen und alternativen Ort in einer alten Lagerhalle. Zahlreiche nachhaltige Geschäfte, Vintage-Stores und coole Bars, in jeweils ganz verschiedenen Stilrichtungen sorgen für eine tolle Atmosphäre. Ich habe dank der Mädels dort leckere neue Getränke kennengelernt und wurde zu allen kommenden angesagten Events der Stadt eingeladen. Es war ein wunderbarer Abend mit Gesprächen über Politik und Moral bis zu persönlichen Geschichten. Ich freue mich auf jeden Fall schon sehr auf alle kommenden Ereignisse mit ihnen.

Mit Mateus, Pedro und Santi

Die Bilder vom Mercado Novo sind nicht von mir, sondern aus dem Internet. Aber da mich dieser Ort total begeistert hat, werde ich bestimmt noch oft dorthin gehen und eigene Bilder machen:)

Dank all dieser netten Leute fühle ich mich inzwischen wirklich wohl und angekommen in Brasilien. Gleichzeitig lerne ich aber durch die Distanz den Wert langjähriger Freundschaften besonders zu schätzen, sodass ich mich schon unglaublich auf das Wiedersehen mit Marle in Costa Rica und natürlich unsere Reise durch das Land freue, die mit Sicherheit abenteuerlich und unvergesslich wird.

Liebe Grüße und eine schöne Weihnachtszeit!

 

 

Já dois meses…

Nun bin ich schon zwei Monate hier, ganz weit weg von zuhause, die Zeit ist wie im Fluge vergangen. Inzwischen habe ich so etwas wie einen Alltag entwickelt. Und trotzdem, es gibt keinen Tag, an dem nichts Neues passiert, an dem ich nicht völlig neue Erfahrungen mache, sodass ich das Land jedes Mal aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann und immer neue Aspekte, neue Mosaikstücke dazukommen, die sich langsam zusammenfügen.

Vorletzten Montag habe ich beispielsweise eine Ausstellung von Paul Klee im Centro Cultural Banco do Brasil  besucht, die allein schon durch die deutschen Bildtitel und Videos im Kontrast zu den Museen stand, die ich bisher angeschaut habe. Auch in dieser Ausstellung war der Eintritt frei und ich habe den ganzen Nachmittag in Texten vertieft und Bilder bewundernd dort verbracht. Vielleicht haben auch die deutschen Worte, die ein Gefühl von Heimat in der Ferne hervorgerufen haben, dazu beigetragen, dass ich so begeistert von der Ausstellung war. Vor allem aber die philosophischen Interpretationsansätze zu den Werken ganz verschiedener Stilrichtungen haben mich fasziniert. Eines, das einen Seiltänzer darstellt und diesen mit der Fragilität des Lebens assoziiert, hat mich in seinen Bann gezogen. Aber auch die Bilder, in denen Klee die Nazi-Diktatur zu verarbeiten versuchte, ebenso wie ein toll gestaltetes Video, welches die verschiedenen Mal-und Zeichentechniken erklärte, haben mir sehr gefallen. Nachdem ich noch die Zitate Klees auf wellenförmigen Skulpturen im prachtvollen Innenhof auf mich wirken gelassen hatte, verließ ich das Museum inspiriert und beflügelt.

Das A2-Training, das ich in der vorletzten Woche nicht nur als Prüfungsvorbereitung für die älteren Schüler, sondern auch als Übung für die mündlichen Klausuren der Klassen 8 und 9 angeboten habe, ist inzwischen zur Routine geworden. Mit den älteren Schülern habe ich in Zweiter-Teams die Prüfung simuliert und Ausdrücke geübt, die bei Prüfern beliebt sind. Die jüngeren Schüler sollten entweder Fragen zu ihrer Person beantworten beziehungsweise einem Mitschüler stellen oder etwas über ihr Leben erzählen. Einige Schüler hatten große Probleme damit, frei zu sprechen, denn mit nur zwei Wochenstunden haben Sprachen im brasilianischen Lehrplan leider keine Priorität. Ich habe mir deshalb die Zeit genommen, zu jeder möglichen Frage, die in der Prüfung oder Klassenarbeit vorkommen könnte, einfache Sätze zu formulieren und den Schülern auf diese Weise hilfreiche Phrasen an die Hand zu geben.

Mit einer Freundin war ich neulich im Kino. Wir haben den Film „Joker“ angeschaut, der grob zusammengefasst von einem psychisch Kranken und der Kritik an der Klassengesellschaft handelt. Während ich so im Kinosessel saß musste ich unweigerlich daran denken, wie ausgeprägt die gesellschaftlichen Unterschiede in Brasilien sind und, dass auch ich Teil derer bin, diese weiter verstärke wenn ich in der Shoppingmall im noblen Kino bin, während draußen so viele Menschen kein Dach über dem Kopf haben.

Mit meiner Portugiesisch-Lehrerin habe ich mich vorletzte Woche das erste Mal zum Englischunterricht getroffen. Bei Sonnenschein saßen wir gemütlich in einem Café am Praca da Liberdade und haben zunächst über uns und unser Leben geredet, bevor wir uns den Texten zur „ambiguity of belonging“ zuwandten. Es war eine lustige Erfahrung die Sprache zu wechseln und das Gespräch auf Englisch zu führen, verstärkte aber das tolle Gefühl von gelebter Mehrsprachigkeit, das ich hier schon öfter erleben durfte.

Das Thema der Identität und der Ambiguität ist vor allem im 21. Jahrhundert hochaktuell, betrifft jeden von uns. Deshalb war es besonders spannend vom Uni-Leben, oberflächlichen Freundschaften und Familienzusammenhalt in der brasilianischen Leistungsgesellschaft zu hören. Das Jahr in Belo Horizonte wird jedenfalls ein weiteres Puzzlestück meiner Identität bilden und mir neue „coping strategies“, neues Selbstvertrauen und Gelassenheit schenken. Zum Glück treffen wir uns auch in Zukunft wöchentlich zum Lernen, denn der Sprachkurs an der UFMG endete letzte Woche. Mit einem persönlichen Abschiedstext verabschiedete die Lehrerin die anderen Teilnehmer und mich. Auch wenn der Kurs meiner Meinung nach ein wenig zu leicht war, werde ich besonders die multikulturelle und lustige Gruppe vermissen.

Für meine Weihnachtsprojekte habe ich vor kurzem Plätzchen gebacken. Die Zutaten dafür zu bekommen gestaltete sich schwieriger als erwartet. So bin ich zwischen den Supermarktregalen umhergestreift und fand letztendlich Puderzucker, der ganz anders als der mir bekannte aussah und leider keine gemahlenen Haselnüsse. Laut meiner Gastmutter gibt es einen Laden, der allerlei Nüsse gemahlen verkauft. Beim nächsten Backen werde ich dort auf jeden Fall vorbeischauen, denn das Zerkleinern der Nüsse hat meinen Gastvater und mich ganz schön eingespannt. Beim Backen kam aber trotz aller Schwierigkeiten Weihnachtsstimmung auf und das Endergebnis war nicht schlechter als in Deutschland.

Ebenfalls für die Projekte habe ich Weihnachtskarten in verschiedensten Ausführungen und kleine Geschenkboxen als Demonstrationsobjekte vorbereitet. Des Weiteren habe ich ein Winter-und Weihnachtsquiz beziehungsweise Activity-Spiel erstellt. Beim Basteln der Spielkarten, des Spielfeldes und des Würfels kam ich wie immer beim Selbermachen total zur Ruhe, die Arbeiten erinnerten mich sehr ans Geschenke basteln in der Vorweihnachtszeit. Obwohl ich erst am Freitag vor Beginn der Projekte erfuhr, dass ich diese nun machen sollte, empfand ich keinerlei Stress, sondern genoss nicht zuletzt dank der hier gewonnenen Gelassenheit die Vorbereitungen.

Spielfeld, Karten und Winter-und Weihnachtsvokabeln

In der folgenden Woche führte ich dann zwei der Projekte mit den Klassen 6 und 7 beziehungsweise 9 und 10 durch. Das Activity-Spiel war nicht nur für die Schüler eine willkommene Abwechslung, auch ich hatte viel Spaß und konnte weitere wertvolle Erfahrungen sammeln. Ich war den Großteil der Zeit alleine mit den Klassen, habe sie zunächst in Gruppen eingeteilt, das Spiel erklärt und dann mit ihnen über die lustigen Pantomime-Darstellungen, Zeichnungen und rudimentären Erklärungen der Winter-und Weihnachtsvokabeln gelacht. Das Team, das die meisten Worte der Vokabelliste richtig erkannt hat, bekam Plätzchen. Zu meiner Freude haben viele Schüler nach dem Rezept gefragt und sich in die Workshop-Listen fürs Plätzchenbacken und Weihnachtsgeschenke basteln in Dezember, also in ihrer Ferienzeit, eingetragen.

Aber auch das Basteln mit den jüngeren Schülern war wirklich toll. Zunächst erklärte ich auf Portugiesisch- da ihre Deutschkenntnisse dafür noch nicht ausreichen- was sie machen sollen, wies darauf hin Papier zu sparen und verteilte die Materialien, von denen ich selbst auch viele mitgebracht hatte. Bei Weihnachtsmusik im Hintergrund half ich beim Geschenkboxen- und Kartenbasteln, in deren Herstellung auch die Jungs ganz vertieft waren. Die Kleinen sind wirklich sehr süß, kamen nicht selten zu mir und umarmten mich, lobten mein Portugiesisch und sagten Dinge wie: „Du bist toll!“ oder: „Können das alle in Deutschland so gut?“. Die Kunstwerke der Schüler sind klasse geworden, ich denke die Familien können sich in diesem Jahr auf besondere Geschenke freuen. Auf das geplante wöchentliche Kreativprojekt im nächsten Jahr blicke ich schon mit Vorfreude.

Auch außerhalb des Deutschunterrichts habe ich an der Schule zu tun. Mehrere Lehrer anderer Fächer haben mich zu sich in den Unterricht eingeladen und mit einem Geographielehrer, der auch an der Uni arbeitet, traf ich mich bereits zweimal, um ihm bei einem Projekt über den Geographieunterricht in Deutschland und den Einfluss deutscher Geographen zu unterstützen. Bei diesen Gesprächen merkte ich, wie toll es ist, über komplexe Themen und Unterrichtsinhalte in einer neuen Sprache sprechen zu können. In den kommenden Wochen werden wir des Weiteren mit meiner Geographielehrerin aus Heidelberg per Videoanruf tiefer in die Materie einsteigen und Einheiten über Geographie in Deutschland für den Deutschunterricht hier planen. Im kommenden Jahr werde ich diesen Lehrer auch auf Ausflüge in periphere Gegenden im Sinne der Begegnung verschiedener Lebensrealitäten begleiten.

Im Fitnessstudio hier, das ich nur besuche, weil es dort ein Schwimmbad und tolle Kurse gibt, fallen mir nicht selten minimale kulturelle Feinheiten auf. Beispielsweise wenn ich mit rotem Kopf aus dem 30°C warmen Wasser des Sportbeckens herauskomme. Weiterhin arbeite ich an meinen Kopfstandfertigkeiten und Tanzschritten oder jogge die nicht zu enden scheinenden bergigen Straßen hinauf. Die Aussicht von oben gleicht die Anstrengungen aber mehr als aus.

Was mich sehr überrascht hat ist, dass, abgesehen von einem kleinen Feuerwerk, von der Freilassung des Ex-Präsidenten Lula aus dem Gefängnis im Alltag so gar nichts zu spüren ist. Das Thema Politik, das die Gesellschaft, sogar Familien in Lager spaltet, wird meiner Erfahrung nach leider selten erwähnt, lieber ignoriert. Viel präsenter sind stattdessen weitere Feste in der Nachbarschaft. Sonntags mehrere Stunden Samba-Musik in voller Lautstärke zu hören, ist für mich keine Seltenheit mehr.

Ansonsten war ich erneut mit einigen Jungs des CSA zu Mittag essen und weiterer Treffen sind bereits geplant. Bei leckerem Essen quatschen wir meist über Musik, Universitäten, Sprichwörter und kulturelle Unterschiede. Wenn einer der Jungs Texte von Materia oder anderen deutschen Sängern fehlerfrei vorsingt, haben wir alle etwas zu Staunen und Lachen. Da sie alle ein Studium in Deutschland anstreben hoffe ich, dass der Kontakt zwischen uns auch nach dem Jahr aufrecht erhalten werden kann.

Die vegane kulinarische Szene Belo Horizontes habe ich dank einer Alumna, die Biologie studiert und am CSA beim Unterricht hilft, kennengelernt. Nachdem wir noch zwei andere Mädels abgeholt hatten, bot sich uns bei der Fahrt ein spektakulärer Blick auf die Stadt bei Nacht und einen rotschimmernden Vollmond. Die wirklich enorm steilen Straßen der Stadt stellen für Fahranfänger eine richtige Herausforderung dar und wären meiner Meinung nach besser zum Schlitten-; als zum Autofahren geeignet. Bei netten Gesprächen über die Uni, meine Arbeit, Sprachen, Schulfreundschaften und Partys probierten wir uns durch die köstlichen veganen Pizzasorten, die uns wie am Fließband von einem sehr lustigen Kellner serviert wurden. Es war ein wahrer Kampf mit dem Essen aufhören zu dürfen und die süßen Pizzasorten abzulehnen.

Nach meiner letzten Sprachkursstunde, die eine Prüfung beinhaltete, traf ich mich am Folgetag erneut an der UFMG mit dem Mädchen. Ich hatte ein stereotypisch schlechtes Gewissen als ich bemerkte, dass die Prüfung 20 Minuten später endete, als geplant. Am Treffpunkt angekommen merkte ich aber nicht zum ersten Mal, dass ich mir diesbezüglich wenig Gedanken zu machen brauche, eine weitere Lektion in Sachen Gelassenheit.

Die Mädels zeigten mir ihre Biologie-Fakultät, deren Anblick mich innerlich zum Schmunzeln brachte. Ein Hippiemarkt im Innenhof, Farbtöpfe für Wandgemälde von Tieren, Vegan-Sticker und allerlei Pflanzensorten zierten die Szene von kartenspielenden und rauchenden Studenten, die mich allesamt freundlich empfingen. Wir blieben aber nur kurz, da die Arbeit in der Schule wartete. Die Rückfahrt zum CSA in einer Fahrgemeinschaft war eine unglaublich bereichernde Erfahrung. Wie sich herausstellte lernten außer der Alumna noch zwei der anderen drei Mitfahrenden Deutsch. Als ich ihnen nach einigen Worten, die sie auf Deutsch austauschten mitteilte, dass ich aus Deutschland komme, war das Erstaunen groß. Danach hatten wir allerdings viel Spaß daran, über die Uni, die Freiwilligenarbeit, deutsches Bier und brasilianische Getränke sowie verschiedene Sprachen zu plaudern. Als wir ausstiegen meinte das Mädchen zu mir, dass sie diese Fahrgemeinschaften liebt weil man immer mit netten Leuten ins Gespräch komme. Ich für meinen Teil konnte ihr nur grinsend beipflichten. Für mich war es nicht zuletzt schön zu sehen, wie in so einem Mikrokosmos gesellschaftliches Zusammenleben in großem Stil möglich ist.

Vergangenes Wochenende bin ich mit meiner Gastfamilie erneut nach Buenópolis gefahren. Der zweite Besuch war nicht weniger beeindruckend und ereignisreich als beim ersten Mal. Nach unserer Ankunft besuchten wir zunächst das Anwesen von Luís. Begrüßt wurde ich dieses Mal vom Schwein Presidente, das mir schnüffelnd hinterherlief und schließlich eingesperrt werden musste, weil es zu anhänglich war.

Die frei herumlaufenden Gänse, Hühner, Schildkröten und anderen Tiere, ebenso wie die prachtvollen Pflanzen genoss ich wie beim letzten Besuch. Den Nachmittag verbrachten wir schwimmend und Mango futternd. Die Enkelin von Luís war auch da. Mit ihr spielte ich ein wenig, bevor wir durch die Straßen spazierten und schließlich im bereits bekannten Restaurant zu Abend aßen.

Am nächsten Morgen folgten meine Gasteltern und ich zunächst den Eisenbahnschienen und wurden von zwei wild lebenden Pferden auf unserem Weg begleitet.

Im Anschluss fuhren wir auf die Fazenda. Dank des Regens am Vortag war der Weg durch die Serra  glücklicherweise wenig staubig. Dort angekommen bewunderten wir erst die Kürbisplantagen und aßen erneut einige Mangos, bevor wir die Pferde sattelten und uns auf den Weg zum Wasserfall machten. Der Ritt dauerte gut zwei Stunden und führte uns durch die weitläufige Serra mit ihren riesigen Weiden voller grasender Kühe und Pferde, die Berge im Hintergrund. Während ich meinen Blick nur ungern von der Landschaft losreißen konnte quatschte ich mit der Freundin von Luís Carlos, dem Sohn von Luís, über ihr Modegeschäft und verschiedene Reisen. Je länger wir so im Westernstil dahinritten, desto fester saß ich wortwörtlich aber auch sprichwörtlich im Sattel. In der Sprache und der brasilianischen Kultur fühle ich mich immer sicherer und gewinne tagtäglich Selbstvertrauen.

In Curimataí angekommen fühlte ich mich wie in einer Wild West Szene. Laut meinem Gastvater sei das dort „o fim do mundo quente“. Über 400 Pferde und Reiter versammelten sich in dem kleinen Ort zum alljährlichen Pferdetreffen und während wir in einem rustikalen Restaurant ein für die Region typisches Mittagessen bestehend aus feijao, arroz, ovo, batata rústica und chuchu aßen, stolzierte die Pferdeparade draußen vorbei.

Im Anschluss liefen meine Gasteltern und ich zu dem nahegelegene Wasserfall. Wir badeten in dem erfrischend kalten Wasser und genossen das gleichwohl warme Wasser direkt auf den Steinen und den spektakulären Ausblick.

Nachdem wir geduscht hatten sind wir auf eine Art Dorffest zu Ehren der neuen Kapelle gegangen. Dabei wurden wir ziemlich eingeräuchert, denn nebenan wurden gerade die Reste des Zuckerrohrs der Cachaca-Herstellung verbrannt. Zu Abend aßen wir natürlich erneut in dem einen guten Restaurant der Stadt. Maniok und ein Gespräch über den Winter in Deutschland und den Unterschied zwischen Studenten in Deutschland, die im Gegensatz zu den brasilianischen nur in seltenen Fällen noch zu Hause wohnen, rundeten den Tag ab.

Am nächsten Morgen statteten wir uns noch mit ausreichend Mangos, Gemüse und Eiern aus, bevor wir uns auf den Rückweg machten, auf dem meine Gasteltern mir noch wertvolle Tipps und Ideen für weitere Reiseziele in der Nähe gaben.

Zuhause hatte ich nur Zeit meine Sachen umzupacken und zu duschen, bevor ich mich auch schon auf den Weg nach Sao Paulo zum Zwischenseminar machte. Gegen halb elf abends fuhr ich mit dem Taxi zum Busbahnhof, wo ich nach einem kurzen Zeigen des Tickets in Form eines Kassenzettels zum Abfahrtssteig durfte. Dort realisierte ich, dass um diese Uhrzeit Busse im Viertelstunden-Takt nach Sao Paulo fahren. Nachdem ich meinen Bus gefunden und mein Gepäck verladen hatte stieg ich nach den Grußworten: „Pass gut auf dich auf!“ des Fahrers in den Bus ein. Die Sitze, die der portugiesischen Bezeichnung „poltrona“, also Sessel, absolut gerecht werden, haben für eine angenehme Fahrt gesorgt. Flixbus und co. sollten sich von diesem Comfort meiner Meinung nach eine Scheibe abschneiden. Der Bus legte zwei Stopps an eigens dafür gebauten Halteplätzen für unzählige Fernbusse ein. Dort gab es leckeres Essen, Snacks, Souvenirs und saubere Toiletten. Während der Fahrt hat sich die Vegetation des Weiteren sehr verändert. Der eisenhaltige Boden aus Minas hat einem feuchteren Klima und zum Teil alpenähnlichen Wiesen- und Waldlandschaften Platz gemacht.

Während der Fahrt von Belo Horizonte nach Sao Paulo

In Sao Paulo angekommen hatte ich wenig Zeit mich am großen Busbahnhof Tietê zurechtzufinden. Gerade noch rechtzeitig gelang es mir beim richtigen Anbieter ein Ticket zu kaufen und den Flughafenshuttle zu finden. Am Flughafen traf ich dann alle anderen Freiwilligen aus Brasilien, Uruguay und Bolivien. Nach weiteren 1 1/2 Stunden Fahrt, während der wir erste Erfahrungswerte austauschten, kamen wir in unserer Unterkunft „busca vida“ an, einem absoluten Naturparadies mit einem alternativen, scheinbar wild zusammengewürfelten aber unglaublich liebevoll ausgewählten Mobiliar. Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl in einem großen Kunstwerk zu wohnen und entdeckte ständig neue Details und gemütliche Ecken.

Die Besitzer, ein junges Pärchen mit ihrem Sohn Gamma und weiteren Familienmitgliedern, haben allesamt eine unglaublich liebevolle und energiegeladene Ausstrahlung. Wir waren ihre erste richtige Gruppe. Sie sprachen davon, wie wichtig es ihnen sei diesen Ort, in den sie sich so verliebt hätten, mit anderen Menschen zu teilen, die Naturverbundenheit und Ruhe zu verbreiten. Nachdem wir unsere Zimmer bezogen hatten, die vollständig aus Naturmaterialien gebaut sind und das Gefühl vermitteln in und mit der Natur zu leben, trafen wir uns zum Begrüßungskreis. Vom Vorbereitungsseminar kannten wir Freiwilligen aus Brasilien bereits die Methoden unseres Trainers. Die Energizer aus dem Theater der Unterdrückten, ebenso wie das minutenlange in-die-Augen-Schauen mit noch fremden Personen trugen aber wie schon beim letzten Mal zu einer schöner Begegnung zwischen Menschen auf Augenhöhe bei und ließ mich erneut realisieren, dass eben dieses sich Zeit nehmen und intentionslose Anschauen und Sehen eines Menschen im Alltagstrott verloren geht.

Das Essen dort war ein wahrer Luxus. Alle Gerichte waren vegan oder vegetarisch, mit Liebe zubereitet und wirklich lecker, sodass wir alle nicht umhin kamen uns ständig auf die nächste Mahlzeit zu freuen. Das Bananenbrot, vegane Aufstriche, verschiedene Kuchen, veganes Brot, traditionelle Gerichte wie Tapioca mit Guacamole und Kichererbsenmus, feijao oder leckere Gemüsequiche- und Bratlinge werden wir sehr vermissen.

Wie auch schon auf dem Vorbereitungsseminar schätze ich die harmonische Atmosphäre, die Zeit zum Reflektieren und den wirklich erstaunlichen Effekt der Abgeschiedenheit, der zu einem Mikrokosmos der Offenheit und Vertrautheit beitrug. Dieses Gefühl ermöglichte beispielsweise ein dreistündiges, sehr intensives Gespräch mit einem mir vorher unbekannten Mädchen, eingekuschelt in einer Hängematte. Auch das amigo/a-secreto/a-Spiel sorgte für ein liebevolles Miteinander mit kleinen Zetteln, netten Botschaften und Gesten. Gleichzeitig bildete das Mörder-Spiel, bei dem man der entsprechenden Person einen Gegenstand in die Hand geben muss wenn man alleine, beziehungsweise nur von bereits Toten umgeben ist, einen lustigen Kontrast.

Im wunderbar kreativ eingerichteten Theater hatten wir Raum für tolle Gespräche, kritische Diskussionen über Kulturweit und unsere Privilegien, ebenso wie die Möglichkeit zum Austausch mit Leuten, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden.

Die Natur um uns lud zum Joggen, Yoga zwischen Papageien und tropischen Pflanzen oder Schwimmen im See ein. Der Respekt und achtsame Umgang mit unserer Umgebung war auch im Hinblick auf giftige Spinnen, Schlangen im Bad oder auf dem Weg oder Skorpione im Feuerholz wichtig. Das anfänglich mulmige Gefühl legte sich allerdings schnell und wich einem stets bewussten Blick für unser Umfeld.

Am Mittwoch machten wir einen Ausflug anlässlich des „dia da consciência negra“ in die nahegelegene Kleinstadt Braganca Paulista. Dort erwartete uns ein lebendiger Festplatz, der neben Capoeira-Vorstellungen und leckerem Essen auch Zumba und musikalische Beiträge zu bieten hatte. Nachdem ich mit ein paar Mädels über den lokalen Wochenmarkt geschlendert bin und wir riesige Maracujas oder Zuckerrohrsaft probiert hatten, unterhielten wir uns mit Einheimischen. Erneut zum Nachdenken und kritischen Hinterfragen angeregt hat uns die Begrüßung und Ankündigung unseres Besuches im großen Stil auf diesem Fest, das doch eigentlich Raum zum Publikmachen der Probleme Schwarzer in der brasilianischen Gesellschaft bieten sollte. Einerseits sind Begegnungen und Allianzbildungen zwischen Schwarzen und Weißen im Hinblick auf eine Änderung des Staus quo unerlässlich, andererseits fühlten wir Freiwillige uns nicht wohl damit, im Mittelpunkt des Bewusstseinstages zu stehen.

Der Vortrag über Rassismus in Brasilien, der beispielsweise aufzeigte, dass unter 4705 Universitätslehrern an der Universidade de Sao Paulo gerade mal vier schwarze Lehrer sind, gefolgt von einem Musik-und Tanzworkshop afro-brasilianischer Kultur waren ganz besondere Erfahrungen. Nach anfänglicher Schüchternheit gaben wir uns mit der Zeit immer mehr den neuen Klängen und Bewegungen hin und ich für meinen Teil hatte unglaublich viel Spaß beim Ausprobieren der Schritte, die unter anderem der Jagd mit Pfeil und Bogen nachempfunden waren.

Verschwitzt aber aufgelockert vom Tanzen wanderten wir im Anschluss in Flipflops einen Hügel hinauf. Die atemberaubende Aussicht über die Seenplatte und die Berge im Hintergrund lohnte sich aber absolut. Ein alter Käfer im Baum und ein spektakulärer Fels von dem wir im Chor Anti-Bolsonaro-Parolen riefen, werde ich so schnell nicht vergessen.

Am Lagerfeuer abends wichtelten wir und tauschten Zuneigung aus, die wir alle deutlich spürbar vermissen. Sich liebevoll zu knuddeln und in den Arm zu nehmen tat unglaublich gut und ist auch wieder auf diese Atmosphäre des sicheren und harmonischen Mikrokosmos zurückzuführen.

Am nächsten Tag hatten wir zunächst Zeit Projektideen auszutauschen und auszuarbeiten, bevor wir einem Referenten der Schwarzen-Bewegung Sao Paulos bei seinem Vortrag über die Entstehung und Geschichte des Rassismus in Brasilien lauschten. Die anschließende Diskussion über die derzeitige politische Situation, über Privilegien und Diskriminierung war ebenso aufschlussreich. Laut Referent sei es enorm wichtig, dass sich Menschen zunächst ihres Schwarzseins bewusst werden, dieses akzeptieren, um zusammenzuarbeiten und auch mit Weißen Allianzen zu bilden, die an der Macht sind. Der Grund für die unzulängliche gegenseitige Hilfe unter Schwarzen liege vor allem darin, dass sie sich untereinander nicht in die Augen sehen weil sie im Gegenüber ihr Spiegelbild sähen, dass sie aus Selbsthass nicht als Schwarz akzeptieren wollen. An dieser Stelle sind die Begegnung auf Augenhöhe und der gegenseitige Respekt von höchster Wichtigkeit.

Nach einem leckeren Abendessen wurden wir von einer Theatersequenz über indigene Leiden in der brasilianischen Gesellschaft überrascht. Die Schauspielerin stellte Fragmente aus ihren 30 Jahren Erfahrung im Gesundheitswesen dar. Die Fragmente thematisierten das Zerstören und Niederbrennen indigener Dörfer, das Wegnehmen ihrer Kinder, Kämpfe um Land, das von großen Firmen im Namen des Profits weggenommen wird, AIDS, Flucht und Tod auf dem Arbeitsweg. Im metaphorischen Fluss wusch sie das Blut des Genozids, der verseuchten Kleider, die nach wie vor Realität seien, aus. Ihre Verkleidung, ebenso wie ihr mitgebrachtes Wägelchen erinnerten an ein Leben auf der Straße, an Prostitution aber auch an die Kraft der Elemente. Die anschließende Musik einer einheimischen Band, ebenso wie die neuen Tanzschritte, die wir von ihnen lernten, sorgten dafür, dass das schwer im Magen liegende Thema vom Theaterstück auf lebendige Weise verarbeitet werden konnte. Wir gaben uns an diesem Abend voll der Musik hin und bestaunten die elefengleichen Bewegungen der Besitzerin des Seminarorts mit einem Hula-Hoop-Reifen.

Auf diesem Seminar realisierte ich wie dankbar ich für meine Situation sein sollte. Ich kann mich über keinerlei ernsthafte Probleme beklagen, was die Einsatzstelle, die Wohnsituation, die Sprache oder die politische Lage angeht. Wie gut ich die Sprach inzwischen beherrsche merkte ich zuletzt beim Übersetzten des Theaterstücks für die anderen. Während sich einige Freiwillige schwertun einheimische Gleichaltrige kennenzulernen oder wenn die Einsatzstelle ihnen entweder zu viel abverlangt oder sie sich wenig sinnvoll vorkommen, bin ich umso glücklicher über die Menschen in meinem Umfeld in Belo Horizonte.

Am letzten Tag pflanzten wir jeweils zu zweit Araukarien in Erinnerung an unserer Zeit am Seminarort. Die Trennung von den anderen Freiwilligen nach dieser intensiven Zeit war surreal und hart. Nachdem wir den Mädels aus Bolivien und Uruguay noch Acaí gezeigt hatten verabschiedete ich mich von den liebgewonnen Menschen, die meine Lage nachvollziehen können wie es keine Freunde oder Familienmitglieder in Deutschland vermögen. Das Zwischenseminar bot Raum für Erholung und Reflexion und sorgte dank der Atmosphäre von Vertrautheit für neue Inspiration und Motivation.

Liebe Grüße!

 

 

 

 

 

 

 

 

A vida cultural

„Parabéns! Glückwunsch, wenn dich ein Deutscher zu sich nach Hause einlädt!“, berichtete ein Schüler neulich während eines Gesprächs über kulturelle Unterschiede beim Mittagessen, über seine Erfahrungen in Deutschland. Er reagierte damit auf meine Verwunderung darüber, dass mich eine junge Frau aus dem Fitnessstudio, die ich gerade mal zehn Minuten kannte, in ihr Restaurant eingeladen hat. Sie hatte mich beim Tanzen angesprochen und nachdem wir in den kurzen Pausen zwischen den Liedern Gelegenheit hatten, uns ein wenig kennenzulernen, hat sie mich mit den Worten: „Depois, vamos marcar um dia !“ verabschiedet. Auf dem Nachhauseweg fuhr sie mit heruntergelassener Scheibe an mir vorbei und rief mir winkend „Oi, Leah!“ zu.

Diese Offenheit und Gastfreundschaft ist mir zu diesem Zeitpunkt nicht zum ersten Mal begegnet, gleichwohl dauerte es seine Zeit, bis ich mich an die Umarmungen, Einladungen und zwanglosen Gespräche gewöhnte.

Vor Kurzem kam ich auf der Rückfahrt von der Universität im Bus mit einer Frau ins Gespräch, als wir uns beide stöhnend über die Hitze und den Stau beklagten. Eine gute halbe Stunde später, als sie ausstieg, hatten wir ein tolles Gespräch über Bildungsungleichheit, Rassismus und Freiwilligenarbeit geführt.

Beim Stöbern in einem der vielen Läden mit nachhaltiger Mode sprach mich die Verkäuferin  auf meine Herkunft an. Wie sich herausstellte, arbeitet ihr Mann in einer deutschen Firma und würde gerne Deutsch lernen. Dies resultierte im gegenseitigen Austausch der Kontaktdaten und einer netten Unterhaltung.

Begegnungen wie diese, sei es in Cafés, Läden oder beim Sport, zaubern mir jedes Mal ein Lächeln aufs Gesicht und regen mich zum Nachdenken darüber an, dass diese Art des gegenseitigen Umgangs unglaublich wertvoll ist, dass diese Art der aufgeschlossenen und ehrlich interessierten Begegnung die Essenz des Zwischenmenschlichen Kontakts, gar gesellschaftlicher Werte im Allgemeinen ausmacht.

Sonnenuntergang – ein kurzes Vergnügen in Regionen mit Äquatornähe

Um nochmal auf die kulturellen Unterschiede zurückzukommen, möchte ich an dieser Stelle von einem interessanten Erlebnis am letzten Sonntagabend erzählen. Gegen 18 Uhr war wie aus dem Nichts enorm laute Musik zu hören, die wie sich herausstellte, von einer Überraschungsparty auf der Straße stammte. Aus dem Fenster konnten wir ein Auto mit Blinklichtern und Stereoanlage im Kofferraum, umgeben von einer Menschenmenge, die einem Mann mit Mikrofon lauschte, beobachten. Es ist nicht übertrieben wenn ich sage, dass man die Musik und die Rede noch drei Häuserblocks weiter gut hätte hören können. Meine Gasteltern meinten dazu nur kopfschüttelnd, dass viele Brasilianer wenig Rücksicht nähmen, wenn es um den eigene Spaß ginge und, dass diese Art der Geburtstagsüberraschung doch längst „fora da moda“ sei.

Ich konnte über diese Situation eigentlich nur lachen, vor allem wenn ich daran dachte, wie schnell in meinem Heimatdorf eine Beschwerde wegen Lärmschutz eingereicht geworden wäre. Nach einer halben Stunde waren wohl alle Anwohner erleichtert, endlich wieder ihre Ruhe zu haben, nicht zuletzt da die Musik alles andere als geschmackvoll war.

Mit einer Gruppe besonders interessierter Deutschschüler habe ich mich inzwischen mehrmals getroffen und würde sie nun eher als Freunde bezeichnen. Mit einem Mädchen war ich in einem Freizeitpark im Stadtviertel Pampulha, das neben viel Grün auch über einen großen See, umgeben von vielerlei Gebäuden mit kultureller Bedeutung verfügt.

Kirche, See und Fußballstadion im Stadtviertel Pampulha

Auch wenn die Boxautos, die Achterbahn oder Schiffschaukel eher für kleinere Kinder gedacht sind, besuchen viele ältere Jugendliche den Park und auch wir hatten unseren Spaß. Zwischendurch unterhielten wir uns über unsere Schulen, Klassenfahrten und Freunde und ich probierte das in Brasilien sehr bekannte Getränk „Guaraná“.

Vor ein paar Tagen war ich dann bei dieser Freundin zu Besuch. Während wir Tee tranken und Pao de queijo aßen, führten wir unser Gespräch über die Unterschiede der Schulsysteme, Bücher und kulturelle Gegebenheiten fort. Zu meiner großen Freude kann ich mich inzwischen mit meinen brasilianischen Freunden ganz normal auf Portugiesisch unterhalten. Zusammen haben wir auch einen Bananenkuchen gebacken, bei dessen Herstellung ich feststellen musste, dass brasilianische Rezepte für gewöhnlich keine Gramm- oder Milliliter-Angaben beinhalten, sondern stattdessen Mengenangaben in Tassen oder Löffeln angeben. Wir mussten deshalb ein wenig improvisieren, als wir das deutsche Rezept in Tassen-Einheiten umwandelten. Der Kuchen ist uns glücklicherweise trotzdem gelungen und beim gemeinsamen Pizzaessen mit der ganzen Familie kam ich erneut in den Genuss der Selbstverständlichkeit der Gastfreundschaft. Ein Verwandter der Familie ist Schwede. Da mir mein Ruf als Schweden-Liebhaberin vorauseilt, wurde ich sogleich für den Tag, an dem dieser zu Besuch kommt, eingeladen.

Auf dem Nachhauseweg – im Auto – lernte ich des Weiteren nicht zum ersten Mal die Sicherheitslage und die Freiheiten in Deutschland zu schätzen. Nach Einbruch der Dunkelheit, also gegen halb sieben, sollte ich laut Einheimischen, wenn es nicht unbedingt sein muss, nicht alleine durch die Straßen laufen, die tagsüber aber total sicher und unbedenklich sind.

Das Privileg auf der „richtigen Seite des Wechselkurses“ zu stehen bekomme ich vor allem in den Kilo-Restaurants zu spüren. Mit ein paar deutschlernenden Freunden und auch ein paar anderen Jungen des CSA war ich vorgestern zusammen essen. Wir hatten viel Spaß, probierten uns an Zungenbrechern in verschiedenen Sprachen, redeten über Politik und ich musste feststellen, dass einer der Jungs mehr deutsche Lieder kennt als ich. Trotz meines vollen Tellers kostete mich das Essen umgerechnet gerade einmal zwei Euro, was für mich natürlich toll ist. Wenn ich allerdings daran denke, dass mein Ansprechpartner am CSA mir erzählt hat, dass er aufgrund des schwachen Real nicht mit seiner Familie nach Deutschland fliegen kann und dass viele Produkte für alle Brasilianer spürbar teurer werden, dann wird mir die Ambivalenz meiner Situation und Position wieder einmal deutlich.

Mit einer anderen Freundin war ich letzte Woche auf einem großen Flohmarkt, der wöchentlichen „feira hippie“, der in einer der vielen am Sonntag für Autos gesperrten Straßen stattfindet. Wir schlenderten durch die nicht zu enden scheinenden Gässchen aus Ständen, die Schuhe, Schmuck, Kleidung, Essen und Kunstgegenstände anbieten.

Bummeln bei schönstem Wetter

Zwischendurch lauschten wir der Straßenmusik mit traditionellen Instrumenten und bestaunten tanzende Menschengruppen, die ihren Sonntag gutgelaunt genossen. Im angrenzenden Parque Municipal hörten wir noch einem Samba-Konzert zu und redeten über unsere Zukunftsträume.

Auf dem Weg zurück, bestückt mit einer Kette mit bunten Perlen, die für mich das lockere und unbeschwert scheinende Lebensgefühl Brasiliens symbolisiert, dachte ich schmunzelnd an die vielen Samba tanzenden Menschen in den Straßen zurück. Dieses Lebensgefühl spiegelt sich in meinen Augen auch in der Fähigkeit wider, trotz schwieriger Lebensrealitäten das Bunte ins Leben hereinzulassen. Der Weg zur Uni führt mich beispielsweise an ärmeren Vierteln mit schwerwiegenden sozio-politischen Problemen vorbei. Bäume, verziert mit Girlanden aus Plastikdeckeln oder Graffiti-Kunstwerke an den Wänden von Müllsammelstellen, die an den Umweltschutz appellieren, sind keine Seltenheit im Stadtbild.

Besonders gefallen haben mir die zahlreichen Parks Belo Horizontes. Neben dem Praca da Liberdade und dem Parque Municipal, die abgesehen von Spielgelegenheiten nicht selten kostenlose Kulturveranstaltungen zu bieten haben, hat es mir vor allem der Parque das Mangabeiras angetan.

Der an die Berge angrenzender Park bietet auf der einen Seite einen tollen Blick auf die Stadt, auf der anderen Seite erstreckt sich eine tolle Bergkulisse. Der Park ist vom Zentrum nur wenige Minuten entfernt, dank des Grüns, des Wassers, der Tiere, der Picknick-, Spiel- und Sportgelegenheiten kam ich mir aber ganz weit weg von der Stadt vor.

Als meine Gastmutter und ich den Park besucht haben, wurden wir von einem Sturm überrascht, sodass wir zwischen Böen aus rotem Sand zum Auto zurück sprinten mussten. Der Regen, der nun endlich eingesetzt hat und jeden Tag pünktlich um 16 Uhr beginnt, sorgt zum Glück dafür, dass das Stadtbild zunehmend grüner und der rote Sand durch Gras ersetzt wird.

Besonders interessant war auch der Besuch des Museums „Minas e Metal“. Die meisten Museen sind kostenlos, sodass diese stets gut besucht sind. Der Bundesstaat Minas Gerais ist bekannt für sein Reichtum an Bodenschätzen. Diese alle vereint in ihrer wortwörtlich funkelnden Pracht zu sehen, war wirklich beeindruckend. Die Ausstellung ist meiner Meinung nach außerdem sehr liebevoll gestaltet. Es gibt viel zum Anfassen und Ausprobieren und ein abwechslungsreicher Medieneinsatz sorgt für das Ansprechen aller Altersklassen.

Auch das Kultur-Kino, das vorrangig einheimische Dokumentarfilme oder Werke unbekannterer Regisseure und Produzenten zeigt, hat mir sehr gefallen. Ansonsten habe ich mein Herz an Acaí verloren. Mit „granola“ und Banane als Topping schmeckt die Smoothie-Creme einfach lecker 🙂

Aber auch viele andere einheimische Gerichte haben es mir angetan. In meinem Bullet Journal habe ich deshalb schon einige Seiten den brasilianischen Gerichten gewidmet. Trotzdem vermisse ich in der kommenden Vorweihnachtszeit ein wenig die Plätzchen-Kultur. Die gemütliche Weihnachtsstimmung in der Wärme hier will sich noch nicht so richtig einstellen. Aber ich bin gespannt darauf, wie hier Weihnachten gefeiert wird. Außerdem werde ich trotz der Hitze mit den Schülern backen und Weihnachtskarten basteln. Für mich ist das Wichtigste in der Weihnachtszeit das Zusammensein mit Menschen, die mir wichtig sind. Inzwischen habe ich hier auch einige solcher Menschen kennengelernt und ich freue mich schon besonders auf das Wiedersehen mit einer meiner besten Freundinnen aus Deutschland in Costa Rica, wo wir zusammen das Fest verbringen und natürlich das Land erkunden werden.

Eine Toleranzprobe der besonderen Art war für mich das Mitgliedertreffen des „Movimento dos Focolares“, zudem mich meine Gastmutter eingeladen hatte. Im Voraus habe ich mir die Zeitschrift der Bewegung durchgelesen. Viele spannende Artikel aus der ganzen Welt über Klimaschutzmaßnahmen und soziale Projekte hatten mein Interesse geweckt und ich war außerdem einfach neugierig darauf, so ein Treffen einmal mitzuerleben. Die Menschen dort waren unglaublich nett, haben viel mit mir gesprochen und sogar vorgeschlagen, dass ich ihre Kinder, die in meinem Alter seien, kennenlerne. Ich sollte mich dann auf Portugiesisch vor allen im Versammlungsraum vorstellen und wurde daraufhin von mehreren süßen alten Frauen umarmt. Danach hat ein junges Mädchen von einem sozialen Projekt erzählt, das Jugendliche auf der ganzen Welt involviert. Es wurde gesungen und die monatlichen Ziele vom Schutz der Menschenrechte und der Empathie hervorgehoben. Ich hatte während der gesamten Versammlung sehr ambivalente Gefühle. Einerseits haben mir die Projekte und Aktionen der Gruppe wirklich gefallen. Andererseits konnte ich mich mit der tiefreligiösen Motivation für ihr Handeln nicht identifizieren.

In Kleingruppen erörterten wir die Frage, wie die Mitglieder das „palavra da vida“ des Monats hinsichtlich der Weihnachtsbotschaft mittels Dekoration in die Praxis umsetzten können. Eine Frau berichtete dabei von einem Ereignis im Bus, als sie einem Studenten, der kein Geld mehr auf seiner Bus-Karte mehr hatte, half. Eine andere Frau erzählte von ihrer Freiwilligenarbeit mit Behinderten. Beide sprachen davon, dass der Heilige Geist ihnen in diesen Momenten nahe war und sie zum guten Handeln motivierte. Bei diesen Worten habe ich mich ein wenig unwohl gefühlt, habe mir aber auch in Erinnerung gerufen, dass Toleranz genau hier greift. Denn die Gruppe nutz ihren Glauben für Dinge, die einen Mehrwert für die Gesellschaft haben, genauso wie unzählige kirchliche Vereine und Organisationen einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben leisten. Lediglich die Motivation für das Handeln unterscheidet mich als säkular orientierten Menschen von den Mitgliedern. Viele christliche Werte finden sich ja auch im weltlichen Moralkodex wieder, trotzdem werde ich nicht nochmal zu den Treffen mitgehen, denn das Gefühl irgendwie fehl am Platz zu sein, ließ mich nicht los.

Weiterhin möchte ich von einem tollen Ereignis am CSA berichten. Vorletzten Freitag fand das vom Goethe-Institut entwickelte Spiel mit dem Namen „Autobahn“ statt.

Am Donnerstag bekam das Helferteam aus älteren Deutsch-Schülern, Lehrern und mir das Spiel erklärt und wir bauten die verschiedene Stationen, die nach deutschen Städten benannt sind, auf. Ziel des Spiels ist neben Spaß vor allem der Kontakt mit der deutschen Sprache und Kultur. Abgesehen von den vierzehn Städte-Stationen gibt es die Polizei-Station, die die Reisepässe an die Spieler verteilt und die Punkte zusammenzählt, beziehungsweise die „abgefahrenen“ Distanzen ermittelt, um am Ende ein Gewinner-Team küren zu können.

Am Freitag haben wir das Spiel dann zwei Mal mit den Fünftklässlern, die jeweils am Morgen oder am Nachmittag Unterricht haben durchgeführt. Zunächst wurden auch ihnen die Spielregeln erklärt, bevor ich ihnen die Pässe und ein Schlüsselbund mit Hilfsmitteln ausgeteilte und ihnen ihre Anfangsstation mitgeteilt wurde.

An den verschiedene Stationen warteten interaktive Aufgaben auf die Schüler, die Teamgeist erfordern. In Stuttgart mussten die Gruppen beispielsweise mit verbundenen Augen ein ferngesteuertes Auto durch einen Parcours bewegen, in Hamburg mit Hilfe unzähliger Fanartikel ein Bild deutscher Fußballfans inszenieren und in Bremen sollten sie mit einem Walki Talki nach Deutschland telefonieren.

Ich für meinen Teil saß in der Polizei-Station und nahm die „Telefonate“ entgegen. Das hat für viele Lacher bei meinen Schülern und mir gesorgt. Eine der Fragen an mich war: „Wie heißt du?“. Die Schüler sollten die Fragen eigentlich auf Deutsch stellen, fragten aber meist trotzdem auf Portugiesisch und erwarteten wohl auch eine Antwort auf Portugiesisch. Ich antwortete allerdings auf Deutsch: „Ich heiße Sara.“, was bei ihnen für Verwirrung sorgte, sodass ich nicht selten zehnmal hintereinander den Satz wiederholen musste. Meine Freunde aus der Polizei-Station begrüßen mich jetzt immer mit den Worten „Na, wie geht’s Sara?“. Wenn die Schüler die fünf Stationen „abgefahren“ hatten, mussten sie den Pass gegen einen neuen austauschen und stets darauf achten, dass sie gemäß der Deutschlandkarte die größtmögliche Distanz zwischen den Städten wählen.

Die Schüler hatten große Freude am Spiel und bei der Siegerehrung, die auch das Öffnen eines Tresors beinhaltete, waren alle ganz gebannt. Das Spiel bietet meiner Meinung nach eine tolle Abwechslung zum normalen Schulalltag und ein – vielleicht zu – positives Deutschlandbild.

Dank eines Ausflugs mit einer Lehrerin zur Polícia Federal bin ich nun offiziell in Brasilien registriert und erhalte eine Art Personalausweis für Ausländer. Während wir auf meinen Termin warteten unterhielten wir uns über die Unterschiede zwischen dem Abitur und dem brasilianischen ENEM. Wie sich für mich herausstellte, kann ich mehr als froh sein in Deutschland meinen Abschluss gemacht zu haben, denn das brasilianische Pendant zum Abi besteht aus 180 Multiple-Choice-Fragen aus allen Fächern und lediglich einer Schreib-Aufgabe. Bei dieser Art der Prüfung hätte ich ganz bestimmt schlechter als in Deutschland abgeschnitten, für andere Schüler ist dieses Modell aber sicherlich gut. Ich freue mich jedenfalls, das Abitur in der Tasche zu haben, bald Philosophie und Politikwissenschaften zu studieren und in der Zwischenzeit Brasilien entspannt genießen zu können.

Liebe Grüße!

 

Buenopolis e a vida social

Mit den Worten: „Jetzt wirst du das ursprünglichere Brasilien, eine andere Seite des Landes kennenlernen!“, fuhren wir vergangenen Freitag mit vollbepacktem Auto in Richtung Norden.

Da Ferienanfang war, standen wir zunächst in Stau. Davon habe ich aber wenig mitbekommen, denn dank des gemütlichen Roadtrip-Feelings habe ich den Großteil der Fahrt zwischen Kissen und Decken geschlafen. Nur an den Maut-Stellen der privatisierten Straßenabschnitte bin ich hin und wieder aufgewacht.

Nach sechs Stunden Fahrt sind wir gegen zwei Uhr morgens beim Haus der Eltern meines Gastvaters angekommen und sind alle hundemüde in die dicht an dicht stehenden Betten gefallen.

Eine erholsame Nacht war es aber leider nicht. Ab fünf Uhr waren die erste Feuerwerke zur Feier der Schutzpatronin Brasiliens „Nossa Senhora Aparecida“ zu hören und um sechs Uhr hieß es für uns auch schon aufstehen, um an der Taufe der Cousine meiner Gastschwester teilhaben zu können. Diese fand keine 200 Meter entfernt vom Haus in der blau-weißen Dorfkirche statt. (Ich sollte wohl anmerken, dass die Bezeichnung in brasilianischen Größenordnungen zu verstehen ist, immerhin hat Buenopolis grob 10.000 Einwohner).

Die Straße, in der sich sowohl das Haus der Eltern, als auch die Kirche befindet.

Obwohl ich selbst nicht sehr religiös bin, war diese Erfahrung äußerst interessant. Meiner Meinung nach war die Atmosphäre in der Kirche sehr schön. Der Live-Gesang, das gegenseitige Umarmen nach dem Gebet und nicht zuletzt die Freudentränen der Familien, deren Kinder getauft wurden, haben dazu beigetragen. Dass die katholische Kirche in vielen Teilen Brasiliens einen starken Einfluss hat, manifestiert sich in meinen Augen neben den vielen ministrierenden Kindern vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch. „Nossa“ oder „Nossa Senhora“ bedeutet  beispielsweise so viel wie „Wow!“, „Toll!“, „Enorm!“, „Wie schön!“, „Krass!“ oder „Oha!“ und lässt sich in fast jedem Gespräch wiederfinden.

Nach der Kirche sind wir zum Frühstück ein paar Straßen weiter in das Haus des Schwagers meines Gastvaters gefahren. Leckere Pao de queijo, frischer Saft und andere Leckereien waren schon vorbereitet. Im Hof des Hauses wurden wir von zwei kleinen Welpen empfangen, die freudig an uns hochsprangen. Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt. Dank der Gastfreundschaft war es auch überhaupt nicht unangenehm mit eigentlich fremden Personen in deren Haus zu frühstücken. Im Gegenteil, fühlte ich mich stets willkommen und fast als Teil der Familie.

Im Anschluss an das Frühstück sind wir auf das Anwesen, die „Fazenda“ des Schwagers gefahren. Dort habe ich einmal mehr daran denken müssen, wie glücklich ich mich schätzen kann, das hier erleben zu dürfen und wie dankbar ich für meine Situation bin.

Einfahrt der Fazenda – eine wahre Prachtallee aus tropischen Pflanzen!

Auf der Fazenda erwartete uns ein wahres Paradies, erbaut und gepflanzt allein von einer Person, dem Schwager Luis. Das Gelände ist riesig. Neben einem Wochenendhaus und einer überdachten Terrasse befindet sich in der Mitte ein großer Badesee, in dem früher sogar mal Piranhas gelebt haben, die aber ungefährlich gewesen sind. Unter gigantischen Mangobäumen befindet sich ein großes Gehege mit bunten Kanarienvögeln, Papageien und Schildkröten. Ein paar prachtvolle Pfauen stolzierten dazwischen umher.

Weiter unten auf dem Gelände leben Hühner, Truthähne und Gänse zwischen einer unbeschreiblichen Vielfalt an Farnen, Obstbäumen und Blüten. Stauend bin ich durch die Pflanzenpracht geschlendert, habe mir alles von meinem Gastvater erklären lassen und mich wortwörtlich durchgefuttert. Angefangen bei Acerola, über Jabuticaba, süße Maracuja, Mandarinen, Orangen, Ananas und Mango, bis zu Pitanga (Surinamkirsche), Amora (maulbeerähnliche Frucht) und schließlich Avocado und Bohnen war alles dabei, was man sich wünschen könnte.

Auch im Gemüsegarten lernte ich zahlreiche neue Sorten kennen, darunter Chuchu (Chayote) und Maxixe (Antillengurke), die ich bei einem reichhaltigen Mittagessen serviert bekam, während alle anderen Grillfleisch aßen. „Churrasco“ ist eben sehr beliebt bei den Brasilianern. Am nächsten Tag aßen alle aber im Gegensatz dazu vegetarisch. „Feijao“, also Bohnen, Reis, Ei und verschiedene Gemüsegerichte wurden von einem gigantischen Salat begleitet.

Am Nachmittag habe ich außerdem die Pflanzenzucht von Luis bewundert, die von Orchideen über Farne, bis zu Nutzpflanzen alles zu bieten hat. Des Weiteren habe ich für meinen Portugiesisch-Test gelernt, dabei die traumhafte Aussicht genossen und war schließlich zusammen mit meiner Gastschwester im See baden. Über uns glitten bunte Vögel dahin, hinter uns zeigte ein Pfau seine ganze Pracht und wir redeten über die Unterschiede zwischen dem brasilianischen und deutschen Schulsystem. Zwischendurch hat uns noch einer der Hunde Gesellschaft geleistet.

Für mich war es unbeschreiblich toll, dort zwischen all den Pflanzen und Tieren sein zu können. Ich glaube ich habe es bis jetzt nicht ganz realisiert, habe noch nicht alle Eindrücke verarbeiten können.

 

Zu Abend haben wir in einem sehr stillvoll eingerichteten Vintage-Restaurant gegessen. Laut meiner Gastfamilie sei dies aber auch das einzig gute Restaurant in Buenopolis. Das erinnert mich ein wenig an die Zentralbar in der Kleinstadt Nürtingen in meiner Heimat, in der man stets gute Chancen hat, Bekannte aus allen umliegenden Dörfern zu treffen.

Am nächsten Morgen habe ich nach einem leckeren Frühstück mit frischgepressten Acerolasaft und Biscoitos de queijo zunächst in der noch angenehmen Morgensonne weiter gelernt.

Süße Maracuja sind selbst in den großen Städten Brasiliens selten zu finden.

 

Traumhafter Ausblick beim Lernen

Nach dem Mittagessen, an dessen Vorbereitung sich alle mit Schnippel-Arbeit beteiligt haben, bin ich mit meinem Gastvater und dem Sohn des Schwagers auf dessen Farm gefahren. Zunächst tauschten wir unser Auto gegen den Jeep des Schwagers ein, denn der Weg zur Farm führt zum Großteil über ungeteerte Straßen. Die Fahrt dauerte gut eine Stunde. Wir durchquerten eine enorm trockene Landschaft auf eisenhaltigem Boden, der jetzt am Ende der Trockenzeit ziemlich staubte. Der Ausblick über die „serra“, die sich tausende Kilometer weit erstreckt, war allerdings einmalig und ich bin einmal mehr fasziniert von den Anpassungsmechanismen der Natur an solch unwirtliche Bedingungen.

Auf der Farm angekommen, bekam ich zunächst ein Hemd und einen Hut, bevor wir über das Gelände spazierten, das nicht zu enden schien. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass laut Fazendeiro diese Farm eher klein sei. Die Größenverhältnisse Brasiliens sind mit nichts zu vergleichen, was ich bisher aus Europa kannte. Wir stapften über ausgetrocknete Wiesen, prüften Dämme aus gestapelten Bäumen, die die Erde bei Eintreten der Regenzeit vor dem Wegschwämmen schützen sollen, beäugten die Setzlinge, die nur mittels einer Tröpfchenbewässerungsanlage am Leben gehalten werden und kletterten über Zäune. Unterwegs konnte ich eine Grille dreifacher Größe im Vergleich zu europäischen Grillen und bunt schillernde Papageien in Mangobäumen beobachten.

Während der Fazendeiro weiter seine Setzlinge in der prallen Sonne prüfte, die ihm wenig auszumachen schien, ruhten mein Gastvater und ich uns im Schatten der Bäume aus. Wir aßen Mangos mit den Händen direkt vom Baum und pflückten dattelartige Gewächse, um unseren Durst zu stillen. Im Anschluss daran streichelte ich die Pferde und schaute mir die Kühe indischer Herkunft an, die an dieses Klima gewöhnt sind und nach der Allenschen Klimaregel über sehr große Ohren verfügen, die sie irgendwie drollig aussehen lassen.

Dann durfte ich sogar auf einem der Pferde reiten. Mit meinem Hut und dem Westernsattel kam ich mir ein bisschen wie ein Cowgril in einem (schlechten) Westernfilm vor, während ich mit meinem Gastvater durch die Kuhherden trabte. Ich lernte, dass die Pferde hier besonders angenehm zu reiten sind, da man ähnlich wie bei Islandpferden ein volles Wasserglas halten könnte, ohne es zu verschütten. Das war in Anbetracht der früheren Handelswege in diesem Land der großen Distanzen wirklich nützlich. Wie wir so einhändig mit wehendem Haar durch die „serra“ ritten, musste ich zunehmend schmunzeln. Was für einzigartige Erfahrungen ich hier machen darf und wie toll das Gefühl war, so frei von allem Stress, verbunden mit der Natur, die Augenblicke zu genießen.

Blick aus dem Tal auf die bergige Landschaft (serra)

Danach spazierten wir nochmal über das Gelände, um die Zeit bis zur Rückfahrt zu überbrücken. Auf Portugiesisch erörterten wir die Probleme der Bauern in Brasilien und Deutschland und genossen den Ausblick auf die golden schimmernde Landschaft. Dass es sich lohnt, seine Umgebung aufmerksam zu studierten, offenbarte sich mir in Form eines Tukans keine zehn Meter neben mir und der Duschschwamm-Pflanze, die in Mangobäumen wächst.

Bevor wir wieder zurück gefahren sind, habe ich den spektakulären Sonnenuntergang in rosa-rot-Farben, ebenso wie den aufgehenden Vollmond über den Bergen bewundert, während ich weiter mit den Pferden kuschelte und Kälbchen den Hügel hinauftrotteten.

Diese Bilder sind vom Sonnenuntergang am Vortag im Tal, da ich auf der Farm keinen Fotoapparat dabei hatte.

Zu Abend aßen wir im selben Restaurant wie am Vortag. Diesmal habe ich aber „mandioca com manteiga“ probiert und mitten im Gespräch realisiert, dass ich so langsam wirklich in der Sprache ankomme, von Erlebnissen berichten und mich an Konversationen mit mehr als nur ein paar Worten beteiligen kann. Beim lautstarken Konzert der Grillen und Vögel am Abend kuschelten wir uns in die Betten und ich hatte Zeit, die Eindrücke und Bilder des Tages Revue passieren zu lassen.

Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Rückweg. Aber nicht bevor wir uns mit frischem Gemüse aus dem Garten ausgestattet und uns von der Familie in ihrem Laden „casa do fazendeiro“ verabschiedet hatten. In besagtem Laden sollten wir dann auch noch Bilder mit Hut und vor Pferdestatuen oder Lederschuhen machen, um die Reise abzurunden.

Kein Kommentar 🙂

Auf dem Rückweg legten wir allerdings noch einen Stopp in einem Restaurant ein, in dem gigantische Bullenköpfe an der Wand und ein Buffet über dem offenen Feuer die Wild-West-Seite von Minas Gerais präsentierten. Im Anschluss besichtigten wir noch eine Höhle, in der ich seit Wochen das erste Mal wieder so etwas wie Kälte empfunden habe. Die sieben Säle mit erhabenen Stalagmit-, und Stalaktit-Formationen haben alle Teilnehmer der Führung beeindruckt und die schimmernden Wände boten ein tolles Ende des Ausflugs.

Meine Gastschwester hatte mich nach dem Tag auf der Farm mit den Worten „A Leah gosta das aventuras!“begrüßt. Als ich „Sim, foi otimo!“ antwortete, musste ich daran dennken, dass nicht nur dieser Tag, sondern jeder einzelne Tag hier in Brasilien ein Abenteuer mit viele Einsichten, zu revidierenden Meinungen und tollen Erfahrungen ist.

In meiner Freizeit habe ich inzwischen auch sehr tolle Leute in meinem Alter kennengelernt. Neulich habe ich mich beispielsweise mit ehemaligen Schülern des CSA in einer veganen Bar getroffen. Entgegen meiner Erwartung kannte ich niemanden in der Gruppe. Da mich ein Diego zu dem Treffen eingeladen hatte, rechnete ich mit dem mir bereits bekannten PASCH-Alumnus, den ich in Sao Paulo kennengelernt hatte. Als ich diesem schrieb, wo er denn sei, musste ich feststellen, dass es wohl noch einen anderen Diego in der Gruppe geben muss. Dass ich niemanden kannte war aber überhaupt nicht schlimm. Wir teilten uns ein Bier (chope), redeten auf Portugiesisch und Deutsch, als ob wir uns schon lange kennen würden und probierten die vegane Version der brasilianischen Spezialität „coxinha“, einer tropfenförmigen Hähnchenkrokette. Wir sprachen über die Uni, Produkte zur Plastikvermeidung und die politische Situation im Land. Die „Fora Bolsonaro“-Sticker und der Secondhand-Shop in der Bar untermauerten unsere Ansichten. Auf dem Heimweg habe ich mir mit einem der Jungen ein Uber geteilt. Er erzählte mir von seinem Traum, in Deutschland zu studieren und ich berichtete im Gegenzug von meiner Arbeit als Freiwillige.

An diesem Abend habe ich für mich erneut feststellen können, wie einfach es ist, nette Leute kennenzulernen, wenn ich mich nur auf die neue Situation einlasse und nicht so viel nachdenke. Dass Sprache ein Türöffner sein kann habe ich einmal mehr beim gestrigen Mittagessen mit der Tochter einer Lehrerin des CSA festgestellt. Ihre Mutter hatte den Kontakt hergestellt und nach einem kurzen Gespräch auf Whatsapp verabredeten wir uns in der UFMG. Wir redeten über Interessen, die Probleme der Uni und unser Leben im Allgemeinen, genauso wie all die anderen Studenten um uns herum. Das war eine schöne Erfahrung für mich. Zuvor hatte ich mit zwei Teilnehmern des Portugiesisch-Kurses jeweils auf Spanisch und Portugiesisch beziehungsweise auf Englisch über ihre Herkunft und Geschichte gesprochen. So verschiedene Lebensrealitäten- der eine aus Venezuela geflüchtet, der andere aus Kalifornien, der Liebe wegen in Brasilien- und trotzdem so ähnliche Gespräche mit offenen, sehr netten Menschen, haben mir gut gefallen. Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und sich gegenseitig zuzuhören erscheint mir heute wichtiger denn je, wenn es im Weltgeschehen an Respekt und Toleranz mangelt. Wenn ich mit so verschiedene Menschen in Kontakt komme und die Mehrsprachigkeit lebe, realisiere ich zunehmend was es bedeutet, ein Bürger der Welt zu sein.

In ein paar Tagen treffe ich mich des Weiteren zum ersten Mak mit einer Schülergruppe aus besonders interessierten Deutschlernenden. Wir haben diese Treffen völlig unabhängig von der Schule organisiert. Da wir uns alle gut verstehen wollen wir auf diese Weise in alltäglichen Situationen der Freizeit Deutsch beziehungsweise Portugiesisch sprechen und einfach Spaß zusammen haben. Wir planen Film- oder Spieleabende, wir möchten zusammen kochen und backen oder Bars besuchen. Netterweise werden mir die Schüler auch ihre Stadt zeigen. Wir fangen mit dem Stadtviertel Pampulha an…

Liebe Grüße!

 

 

Greve geral, Ouro Preto e muito mais

„Identität definiert sich eher über Konflikte und Dilemmata als über Übereinstimmungen“. Dieses Zitat von Harari aus seinem Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert passt meiner Meinung nach sehr gut zu den Erlebnissen der letzten Tage.

Anlässlich der geplanten Privatisierung öffentlicher Bildungseinrichtungen, sowie der Kürzung von Geldern im Sozialbereich, hat am 3. und 4. Oktober ein „greve geral“, ein Gerneralstreik an der UFMG stattgefunden.

Aufruf zum Streik

Bevor ich mir ein Bild von den Ergeignissen rund um den Streik machen konnte, war es mir wichtig, mich mit den Argumenten der Gegenseite, der Bolsonaro-Befürworter auseinanderzusetzten. In einer vernetzten Welt, in der globale Probleme globale Antworten verlangen (nach Harari, S.156), erachte ich es als sinnvoll, sich mit den Sorgen, Meinungen und Zukunftsvorstellungen anderer politischer Lager zu befassen, selbst wenn die eigene Meinung zu bestimmten Sachverhalten klar umrissen ist. Gerade dann ist es nötig, den anderen Meinungen zunächst mit Toleranz und Respekt zu begegnen, um einen Diskurs überhaupt erst zu ermöglichen.

Für mich war es eine interessante Erfahrung, mir die Position der Befürworter der Privatisierungen anzuhören, vor allem auch da ich diese Haltung nicht automatisch mit den betreffenden Personen in Verbindung gebracht hätte. Aufschlussreich war besonders, dass sich meine Gesprächspartner grundsätzlich für das Vorhandensein kostenloser Bildung ausgesprochen haben. Der Grund für ihre Unterstützung der Privatisierungsvorschläge liege lediglich darin, dass ihrer Meinung nach die Steuergelder, ihre Steuergelder, falsch angelegt wären. Viele Fakultäten seien chaotisch und sie hätten Sorgen bezüglich der Sicherheit der eigenen Kinder, sollten diese Universitäten wie die UFMG besuchen.

Für mein Dafürhalten war deutlich eine sehr persönliche Komponente herauszuhören. Die Zukunftssorgen auch im Hinblick auf die Korruption, derer sie müde seien, veranlasse sie dazu, auf Reformen, Änderungen und Umbrüche im System zu hoffen. In meinen Augen sind sie klassische Protestwähler. Dieser Eindruck wurde durch die Antwort „Gute Frage…“, auf mein Nachhaken, wie Bolsonaro gedenke, die tiefgreifenden Probleme wie das der Korruption zu lösen, bestätigt, wenn nicht noch verstärkt.

Sicher gibt es unter den Befürwortern Bolsonaros auch ganz andere Kaliber, Hardliner, doch diese sind im Allgemeinen die Ausnahme, denn um so erfolgreich sein zu können, muss die Politik des Präsidenten auch in der breiten Masse der Bevölkerung fußen.

Nun aber zu meinen Eindrücken vom Streik an der UFMG. Nachdem die Lehrerin des Sprachkurses es mit Verweis auf Demonstrationen und eine andere Atmosphäre an der Uni freigestellt hatte, den Kurs zu besuchen, war ich überrascht als ich mich auf einem vollständig ausgestorbenen Campus wiederfand. Mein Sprachkurs konnte unterdessen nur aus dem Grund stattfinden, dass er von einem bereits privaten Unternehmen (cenex) durchgeführt wird.

In der Ferne waren Geräusche hörbar, die auf eine Demonstration oder Kundgebung hinwiesen, von diesen habe ich aber auf dem Campus nichts mitbekommen. Stattdessen waren die anderen Kursteilnehmer und ich nahezu die einzigen Menschen in der Universität. Zu sehen waren allerdings eine Vielzahl an Plakaten und großen Werbepostern überall auf dem Gelände, die von den Zielen und Forderungen der Streikenden berichteten.

Forderungen der Bewegung

Eingebettet in eine landesweite Protestaktion gegen die Privatisierungsbestrebungen, möchten die Streikenden die Kürzung der Gelder der UFMG von 215 Millionen Real auf 150,5 Millionen Real, welche im jährlichen Haushaltsplan (Lei Orcamentária Anual = LOA) verankert ist, rückgängig machen. Des Weiteren setzten sie sich für soziale Ziele wie beispielsweise den Fortbestand von Arbeiterrechten und eine solidarische Behandlung von Arbeitslosen ein. Die genaue Ausgestaltung der Forderungen, ebenso wie die exakten Meinungen der Gegenseite sind aber zu komplex, als dass ich hier darüber berichten könnte. Ich bin allerdings sehr gespannt, was in Zukunft im politischen Diskurs passieren wird. Gleichzeitig werden mir auch an dieser Stelle meine Privilegien bewusst, denn ich kann hier als außenstehende Beobachterin meine Eindrücke reflektieren, ohne dass ich um meinen Studienplatz fürchten muss…

Apropos lernen. Sowohl in der Küche, als auch im Fitnessstudio erfahre ich ständig Neues, lerne dazu. Neulich wollte ich eines meiner Lieblingsrezepte- Couscous-Bällchen gefüllt mit Brokkoli und Käse- für meine Gastfamilie kochen. Ich hätte nicht gedacht, dass das Endergebnis so stark von dem mir bekannten abweichen könnte. Zunächst musste ich feststellen, dass es wohl verschiedene Arten von Couscous gibt, sodass ich es nun mit einer gelblichen Masse, die für mein Dafürhalten eher nach Polenta aussieht, zu tun hatte. Ebenso lernte ich, dass man diesen Couscous auch ganz anders zubereitet. In einem eigens dafür angefertigten Topf wird die Masse in ein Stofftuch eingewickelt und gart mit Hilfe von Wasserdampf. Am Ende hatte ich einen gelblichen Couscous-Kuchen vor mir, aber der war mindestens genauso lecker wie die Bällchen.

Die Kurse im Fitnessstudio sind nicht nur wegen der neuen Bewegungen interessant, sondern auch deshalb, da es eine bereichernde Erfahrung ist, einem Kurs auf einer Sprache zu folgen, die man noch nicht vollständig beherrscht. In Zeiten der weltweiten Migration und des unterbewussten Unterscheidens in fremd und eigen, erachte ich es als sehr wichtig, selbst einmal die Erfahrung zu machen, der oder die vermeintlich Fremde zu sein, um die Schwierigkeiten, mit denen sich Migranten konfrontiert sehen, auch nur ansatzweise nachempfinden zu können.

Egal ob beim Yoga, Pilates oder Tanzen hat, nachdem ich mich einfach auf die Erfahrungen eingelassen habe, der Kopfstand oder das sehr Hintern-betonte Tanzen Seite an Seite (oder besser Popo an Pop :D) mit der Lehrerin gut geklappt und hat zudem wirklich Spaß gemacht.

In der Schule verbringe ich gerade den Großteil der Zeit damit, Schüler auf den mündlichen Teil ihrer A2-Prüfung vorzubereiten. Dafür üben wir Dialoge, Fragen und Ausdrücke zu verschiedenen Themen des Alltags. Die Schüler, die dich auf diese Weise näher kennengelernt habe, sind ausgesprochen nett und ich bin jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie motiviert und lebensfroh sie trotz all der harten Arbeit sind.

Einzeltraining im Klassenzimmer

Auf dem Pausenhof werde ich des Öfteren zu umherstehenden Grüppchen dazu gerufen, bekomme verschiedene Dinge zu probieren und soll mich an Zungenbrechern auf Portugiesisch versuchen. Inzwischen habe ich mich sehr gut eingelebt und der tägliche Handschlag mit dem Pförtner des CSA wird zum Alltag.

Weiterhin wurde ich gebeten, ein Interview zum Thema Plastikvermeidung für die Schülerzeitung zu geben. Zum Glück auf Englisch, denn über so komplexe Sachverhalte kann ich auf Portugiesisch leider noch nicht sprechen. Aber es hat mich sehr gefreut, dass das Interesse für den Klimaschutz auch hier zu wachsen scheint. Da ich in nächster Zeit mit einigen Schülern eigene Produkte herstellen werde, die gute Alternativen zu Plastik enthaltenden Produkten darstellen, war das Interview ein toller Einstieg in die Thematik.

Hier einige der Produkte, die ich verwende, um Plastik zu vermeiden

Rund um den Praca da Liberdade bin ich gerade dabei, gemütliche Cafés und andere interessante Orte zu erkunden. Bei Abendsonnenschein lässt es sich sehr gut in einem der Cafés mit stilvoller Einrichtung bei Cappuccino, Pao de queijo und einem guten Buch aushalten. Dabei komme ich aber auch häufig ins Grübeln darüber, wie gut es mir eigentlich geht, wie glücklich ich mich schätzen kann und dass das absolut nicht selbstverständlich ist. Denn letztlich ist es purer Zufall, wo man geboren wird. Umso wichtiger, dass Bewohner des globalen Nordens mit heutigen Privilegien verantwortungsvoll umgehen und darauf hinarbeiten, dass diese nach und nach weniger wahrnehmbar, weniger existent werden.

Neulich haben mich auch zwei kleine Äffchen im Baum daran erinnert, dass ich mich trotz meines Alltags hier, doch am anderen Ende der Welt befinde.

Auf der Fahrt nach Ouro Preto, einst größte Stadt Amerikas und ehemalige Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais, wurde dieses Gefühl, weit weg von Europa, von Zuhause zu sein, wiederholt.

Sobald wir die Ausläufer Belo Horizontes hinter uns gelassen hatten, veränderte sich das Landschaftsbild. Ambitionierte Radfahrer begleiteten uns auf der gesamten Strecke von rund 80 Kilometern. Auch sie fühlten sich wohl, abgesehen vom Sportsgeist, von dem Blick auf eine erhabene Hügel- und Bergwelt angetrieben. Mich haben vor allem diese Weite, das schier endlose Grün, die spektakulären Felsen und die Vielfalt der Flora beeindruckt. Je weiter wir uns von Belo Horizonte entfernten, desto mehr „fazendas“ mit Kühen, die wie im Allgäu auf saftigen Wiesen grasen, tauchten auf. Im Gegensatz zum Trubel der Stadt, hat die Landschaft mit all den „florestas“, Hügeln, Tälern und Wasserquellen unheimlich beruhigend gewirkt. Innerhalb der 80 Kilometern auf der sehr kurvigen Straße, hat sich auch das Klima verändert. In Belo Horizonte sind wir bei annähernd 30 Grad und Sonnenschein losgefahren, in Ouro Preto sind wir dagegen bei Regen, dampfenden Wäldern und 19 Grad angekommen.

Blick auf Belo Horizonte

Kontrastprogramm zum Blick auf BH

Ouro Preto selbst liegt in den Bergen. Kleine, wirklich steile Gassen mit wunderbar bunten Häusern im Barockstil prägen das Stadtbild. Außerdem verfügt die Stadt über eine Vielzahl an Kirchen, Museen und Schmuck-und Edelsteinläden, die unter anderem Papageien aus mühevoller Handarbeit verkaufen. Das ist bestimmt nicht jedermanns Geschmack, aber die Vielfalt an funkelnden Steinen aus den Mienen der Umgebung sind auf jeden Fall einen Blick wert.

Neben einem gemütlichen Künstlermarkt haben wir das „Museu da Inconfidência“ besucht. Die Ausstellungsstücke reichen von religiösen Reliquien, über indigene Urnen, Möbel aus verschiedenen Jahrhunderten und Erinnerungsstücken an die Sklaverei, bis zur Geschichte der Auflehnung gegen die portugiesischen Besatzer.

Flagge des Bundesstaates Minas Gerais

Als wir das Museum verließen, erwartete uns strahlender Sonnenschein; das Wetter in bergigen Gegenden ist bekanntlich wechselhaft. In einem idyllischen Restaurant habe ich erfolgreich einen Ananassaft ohne Strohhalm bestellt. Ich glaube das war der beste Saft meines Lebens! Es wird mir auf jeden Fall enorm schwerfallen, auf die leckeren frischen Früchte verzichten zu müssen, wenn ich wieder in Europa bin.

Vor ein paar Tagen habe ich mit meinen Gasteltern einen Film von National Geographic über die Tier- und Pflanzenwelt Brasiliens geschaut, als es geklingelt hat und wir zur Taufe der Cousine meiner Gastschwester eingeladen wurden. In Buenópolis kann ich mich also nicht nur auf die Vielfalt an prachtvollen Pflanzen und Tieren freuen, sondern auch auf ein brasilianisches Familienfest.

Des Weiteren möchte ich in den nächsten Tagen die „brechós“, also die Secondhand-Läden Belo Horizontes, durchstöbern und im Café com Letras Kulturbeiträgen lauschen.

Liebe Grüße und bis bald!

Tantas coisas…

Rückblickend weiß ich gar nicht richtig, wo ich anfangen soll zu erzählen. Es ist so viel passiert, ich habe so viel Neues erlebt und so viele einmalige Erfahrungen gemacht. TANTAS COISAS…

Bevor ich aber richtig anfange, möchte ich darauf hinweisen, dass dies meine persönlichen Eindrücke, meine subjektiven Erfahrungen sind, von denen ich berichte. Mir ist durchaus bewusst, dass ich weiterhin ein Leben führe, dass dem meinen in Europa ähnelt und dass gleichzeitig ganz andere Lebensrealitäten in diesem riesigen Land existieren. Die Privilegien, die mit meiner Herkunft und Hautfarbe zusammenhängen werden hier besonders spürbar für mich, denn sie sind unmittelbar mit der Unterdrückung und Benachteiligung mancher Menschen verbunden. Unser Wohlstand im globalen Norden basiert zu großen Teilen auf einem politisch-ökonomischen System, das nach wie vor vom Fortbestand rassistischer und postkolonialer Strukturen profitiert.

Ebenso möchte ich darauf verweisen, dass die durch meine Sozialisation geprägte „westliche Sichtweise“ mein Berichten beeinflusst, wenn vielleicht auch nur unterbewusst. Ich werde aber mein Bestes geben, eben diese kritisch zu hinterfragen und gemäß interkultureller Kompetenzen dem Neuen aufgeschlossen und vorurteilsfrei gegenüberzutreten, ohne zwischen dem Eigenen und dem vermeintlich Fremden, Andersartigen zu unterscheiden. Denn in einer globalisierten Welt bedarf es unvoreingenommenen Begegnungen auf Augenhöhe, um Probleme auf internationaler Ebene in gegenseitigem Respekt gemeinsam angehen zu können.

Nun aber zum eigentlichen Inhalt, beginnend mit der Ankunft in Sao Paulo.

Nach einem sehr schlafintensiven Flug, auf dem ich auch den Abschied von Freunden und Familie habe sacken lassen, ging es um 3 Uhr morgens los in eine riesige Stadt, die auch um diese Uhrzeit nicht zu schlafen schien. Zusammen mit den anderen Freiwilligen, die ich am Flughafen getroffen habe, schlenderte ich durch Pinheiros, das Viertel in dem auch das Goethe-Institut liegt. Im nächstbesten Café probierten wir sogleich die berühmten Pao de queijo, welche uns sogar von einem netten Mann auf Deutsch serviert wurden.

Das Viertel hat bei mir einen sehr positiven Eindruck hinterlassen. Es gab zahlreiche, toll eingerichtete vegane Restaurants, Unverpackt- und Bioläden, beeindruckende Straßenkunstwerke und nicht zuletzt nachhaltige Labels in kreativ-alternativen Verkaufshallen. Auch der Flohmarkt mit Second-Hand Ständen in weißen VW-Bussen, handgemachten Kunstgegenständen, allerlei Trödel und leckerem Essen durfte nicht fehlen.

Blick aus dem Hotelzimmer in Sao Paulo

Mit Lea auf bunt bemalten Treppen

Straßenkunstwerke wie dieses, sind in Sao Paulo nicht selten

Das Seminar am Goethe-Institut war wirklich gewinnbringend. Im Gegensatz zu den eher allgemeineren Themen, die wir auf dem Vorbereitungsseminar am Werbellinsee behandelt haben, bekamen wir in Sao Paulo sehr konkrete Tipps für die Gestaltung von Aktivitäten an die Hand. Nachdem das PASCH-Team uns mit dem Strukturen und Aufgaben des Institutes und des Netzwerkes bekannt gemacht hat, haben wir verschiedene Lernapps, Quizze und Methoden kennengelernt und Workshops zu Phonetik und Interkulturalität besucht. Nicht zuletzt hatten wir Freiwilligen die Möglichkeit mit Ehemaligen per Videochat zu sprechen.

Traditionell brasilianische Gerichte wie Feijoada oder panierten Maniok durften wir am Abend in einem gemütlichen Restaurant probieren und wurden danach bei Live-Musik zum Forró tanzen aufgefordert.

Nach einem ausgiebigen Frühstück mit unglaublich leckerem frischen Obst ging die Reise auch schon weiter, das Taxi zum Flughafen stand schon bereit. Beim Check-in habe ich auch direkt damit angefangen konsequent Portugiesisch zu sprechen, einfach, um schnell in die Sprache hineinzufinden.

Erst während des Fluges kam ich dazu, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten und zu realisieren, dass ich nun wirklich ein  Jahr in Belo Horizonte verbringen werde.

Da ich mir normalerweise über alle Dinge sehr viele Gedanken mache, habe ich mir für dieses Jahr vorgenommen, weniger nachzudenken, alles ohne zu urteilen auf mich zukommen zu lassen und mit offenen Augen, die eigene Position reflektierend in Brasilien anzukommen.

Anflug

Am Flughafen wurde ich von meiner Gastschwester und ihrem Deutschlehrer – meiner  Ansprechperson abgeholt.

Da der Flughafen vollständig außerhalb der Stadt in einem aufgrund mangelnden Regens steppenartigen Gebiet liegt, war ich beim Anblick der grünen Stadt begeistert. Rosafarbene, leuchtend gelbe und weiße Bäume, ebenso wie verschiedene Palmensorten zieren den Straßenrand.

Dieser Baum hat mich besonders fasziniert!

Farbenpracht am Straßenrand

Bei meiner Gastfamilie fühle ich mich überaus wohl. Mein Gastvater spricht sogar ein wenig Deutsch, sodass die Ankunft und das Einleben leichter fielen.                                                       Nachdem ich mich in meinem neuen Zimmer häuslich eingerichtet hatte, sind wir lecker essen gegangen und waren in einem Supermarkt einkaufen, der bereits auf Plastiktüten an der Kasse verzichtet und stattdessen Pappkartons oder Mehrwegtaschen anbietet.

An meinem ersten richtigen Tag in Belo Horizonte bin ich nach einem leckeren Frühstück mit frisch gepresstem Saft, Avocado in Größe eines kleinen Kopfes und Vollkornbrot zusammen mit meiner Gastmutter zur Universität gefahren, um mich für meinen Portugiesisch-Kurs anzumelden.

Um mich einschreiben zu können, benötigte ich eine Art Steuernummer, genannt CPF. Diese zu bekommen war gar nicht so einfach, hat aber letztendlich gut geklappt. Dank der CPF konnten wir auch eine SIM-Karte für mich kaufen und als wir schließlich wieder zu Hause ankamen, waren wir erleichtert und erschöpft zugleich. Erschöpft war ich auch deshalb, weil ich den ganzen Tag nur Portugiesisch gesprochen habe. Dank meiner Spanischkenntnisse habe ich fast alles verstanden, das Sprechen war anfangs aber noch etwas bruchstückhaft.

Am Dienstag ging es dann für mich zum ersten Mal in die Schule. Dort wurde ich überaus herzlich willkommen geheißen, von diversen Lehrerkollegen ausgefragt und umarmt. In den folgenden zwei Wochen habe ich in jeder Klasse, die Deutsch lernt, eine Unterrichtstunde mit verschiedenen „Kennenlernaktivitäten“, die ich mir selber ausgedacht und auch vorbereitet hatte, durchgeführt.

Ich war selbst überrascht, wie viel Freude ich daran habe, vor einer Klasse zu stehen. Noch vor ein paar Jahren habe ich nur ungern vor vielen Menschen gesprochen, heute gehe ich regelrecht auf in dieser Aufgabe. Die harmonische Atmosphäre des Colégio Santo Antônio und im selben Maße die sehr netten Schüler, haben wohl dazu beigetragen.

Colégio Santo Antônio in der Rua Pernambuco

Von den Schülern der Klassen 6 und 7 habe ich zum Beispiel Willkommensbriefe geschenkt bekommen, die zum Teil sehr berührend waren. Gemein haben all diese Briefe aber, dass sie mich in umfassender Weise begrüßen und in ihrer Mitte aufnehmen wollen, sodass ich mich möglichst wohlfühle.

Aber auch die älteren Schüler sind sehr offen, haben ihre Hilfe angeboten und sprechen mich ebenso wie die kleinen immer auf dem Gang an, sodass ich mir manchmal wie ein Popstar vorkomme, wenn ganze Kinderscharen winkend und rufend auf mich zukommen.

Mit einer Klasse besonders taltentierter Deutschschüler aus dem vorletzten Jahr habe ich fast wie mit meinen deutschen Freunden über Politik, Klima-Aktivismus und Hobbys sprechen können. Ich war schwer beeindruckt von ihrem Sprachniveau, die zahlreichen Stipendien für Sprachkurse und Probestudiengänge in Deutschland sind mehr als gerechtfertigt.

Wenn meine Aktivitäten nicht die gesamte Unterrichtszeit eingenommen haben, durfte ich dem Lehrer/der Lehrerin beim regulären Unterricht assistieren, beispielsweise indem ich Hausaufgaben im Plenum korrigierte. Oder aber mir wurden zu allerlei Themen von Sprachen über Freund und Familie, bis zu Musikpräferenzen Löcher in den Bauch gefragt.

Vor ein paar Tagen durfte ich sogar in der Grundschule des CSA beim Schnupperunterricht in den fünften Klassen helfen. Die Kinder hatten zu diesem Zeitpunkt zumeist zum ersten Mal Kontakt mit der deutschen Sprache. Es war wirklich interessant zu beobachten, wie die Kinder ihre ersten Sätze lernten und beim Kahoot-Quiz über Deutschland völlig in ihrem Element waren, vor Freude über jede richtige Antwort lautstark aufschrien.

In Zukunft werde ich verstärkt Schüler auf die FIT-Prüfung des Goethe-Institutes vorbereiten, AGs und Projekte zu den Themen backen/kochen, herstellen von plastikfreien Produkten, Kultur, und Deutsch lernen anhand von Zitaten, Artikeln, Podcasts, Büchern und Kurzfilmen, die kreativ gestaltet werden. Des Weiteren werden ich mit den PASCH-Alumni Projekte umsetzen, vielleicht sogar eine Art Stammtisch einrichten.

Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern habe ich als offen und freundschaftliche empfunden. Besonders die jüngeren Schüler umarmen ihre Lehrer nicht selten oder fragen nach deren Privatleben.

Zum Schulsystem Brasiliens und zum Unterricht am CSA lässt sich sagen, dass sie im Allgemeinen härter und anstrengender sind, als ich es aus meiner Schulzeit gewohnt bin. Privatschulen wie das CSA setzen alles daran, die Kinder so früh wie möglich auf die Aufnahmeprüfungen der staatlichen Universitäten vorzubereiten. Das Paradoxe am Schulsystem in Brasilien ist, dass die staatlichen Schulen zwar meist schlechter sind als die privaten, die privaten Universitäten dagegen einen wesentlich schlechteren Ruf als die staatlichen genießen. Von unserem brasilianischen Trainer auf dem Vorbereitungsseminar, der selbst in den Favelas Sao Paulos aufgewachsen ist, haben wir erfahren, dass es die Menschen, die kein Geld für eine Privatschulen aufbringen können, schwerer haben, an einer staatlichen Uni aufgenommen zu werden. Sie müssen sich möglicherweise verschulden, um an einer privaten Uni studieren zu können.

Dieser sich selbst verstärkende Mechanismus des Klassismus hat mich erneut dazu veranlasst, meine Position und Privilegien kritisch in Augenschein zu nehmen, denn Chancengleichheit im Bildungssektor als Schlüssel zu einer egalitäreren Gesellschaft herrscht auch noch lange nicht in Deutschland. Darüber hinaus trägt unserer westliche Lebensweise in hohem Maße dazu bei, dass sie in Ländern des globalen Südens ebenso wenig umgesetzt werden kann.

In Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfungen der Universitäten arbeiten die Schüler hart. Der Unterricht findet in Schichten bis 19:00 statt und Prüfungen werden entweder freitagabends oder samstagmorgens geschrieben. Und dann nicht nur eine, sondern gleich vier oder fünf, die gleichzeitig ausgeteilt werden und dann in eigen gewählter Reihenfolge bearbeitet werden können.

Über die Unterrichtsweise im Allgemeinen kann ich mir nicht anmaßen, eine Aussage zu treffen, denn ich kenne ausschließlich den Deutschunterricht am CSA. Diesen habe ich als sehr lebendig empfunden. In Gruppen von maximal 20 Schülern kommt jeder zu Wort. Weiterhin kommen modernste Medien von Smartboard über Ipads bis zu Lernapps, neben dem klassischen Lehrbuch zum Einsatz.

Der Sprachkurs an der UFMG (Universidade Federal de Minas Gerais) gefällt mir ebenfalls sehr gut. Mit dem Bus fahre ich je nach Verkehr 40-50 Minuten dorthin. Meiner Erfahrung nach funktioniert das System des öffentlichen Nahverkehrs hier sehr gut. Mit Hilfe einer App kann man nicht nur ganz bequem die Fahrtzeiten prüfen, sondern auch die Buscard aufladen, die dann beim Einsteigen an einem Drehkreuz vorgezeigt wird. Auf einem Bildschirm wird der Restbetrag auf der Karte angezeigt.

An dieser Stelle möchte ich mir die Frage stellen, wieso es hätte anders sein sollen. Als westlich Sozialisierte neigen die Europäer und Nordamerikaner gerne dazu, den globalen Süden als weniger fortschrittlich, weniger zivilisiert oder chaotisch einzustufen. Dies ist ein deutliches Indiz für postkoloniale Kontinuitäten, für eingebrannte falsche Denkmuster. Also nochmal, woher nehme ich mir als Europäerin das Recht anzunehmend, dass der öffentliche Nahverkehr in Brasilien weniger organisiert ist als in Deutschland? Schließlich ist die DB in den letzten Jahren alles andere als pünktlich und organisiert gewesen. Des Weiteren können wohl die wenigsten Europäer von sich behaupten, dass sie über fundiertes Wissen über die Situation Brasiliens oder andere Länder des globalen Südens verfügen. Die Medienberichte über den globalen Süden sind in der westlichen Welt oft einseitig, zeigen nur das, was dem westlichen Blick auf die Welt entspricht oder ihn bestätigt.

Weiterhin ist Uber neben den Bussen ein weitverbreitetes und kostengünstiges Fortbewegungsmittel.

Bus nahe des Praca da Liberdade

Die Universität kommt mir vor wie eine Welt für sich. Der Bus braucht bestimmt zehn Minuten, um alle Fakultäten einmal anzufahren.

Viele Studenten tragen hier auch T-Shirts, die erkennen lassen, was sie studieren. Zudem ist der gesamte Campus sehr grün. Überall wachsen Palmen oder Pflanzen in allen erdenklichen Farben. Mir gefällt es sehr, die Uniluft zu schnuppern, bevor ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland selber anfangen werde zu studieren.

Der Kurs an sich ist hilfreich, aber ein wenig einfach. Toll ist allerdings, dass ich mit anderen Menschen, die sich in einer ähnlichen Lage wie ich befinden, in Kontakt komme. Des Weiteren ist die Lehrerin sehr engagiert. Weit mehr lerne ich aber  im Alltag. Vom ersten Tag an habe ich dank meiner Spanischkenntnisse sehr viel verstehen können. Insofern sehe ich den Kurs, bei dem ich seit ein paar Stunden als Übersetzerin und Assistentin der Lehrerin fungiere, als Möglichkeit zur Festigung der Grundkenntnisse.

Innenhof der Faculdade de Letras an der UFMG

Dass die Sprache der Schlüssel zu fast allem ist haben wir Freiwilligen nicht nur oft von Ehemaligen gehört, sondern das habe ich auch selbst sofort so empfunden. Deshalb war es mir wichtig, dass ich von Beginn an Portugiesisch spreche. Mit Lehrern und Gastfamilie habe ich anfangs eher einseitige Gespräche geführt, doch ich kann sagen, dass ich mich schnell in die Sprache hineingehört habe und positive Rückmeldungen dafür bekomme. Sei es mit den Kollegen, Schülern, der Familie oder bei der Anmeldung im Fitnessstudio, es klappt wirklich gut und es ist sehr motivierend, am eigenen Leib zu erfahren, wie schnell man Fortschritte in einer Sprache machen kann, wenn man nur in dem Land lebt, deren Amtssprache diese ist.

Im Hinblick auf die Vielfalt an kulturellen Angeboten wird mir in Belo Horizonte bestimmt nicht langweilig. Kinos, Museen, Märkte, Konzerte, Aufführungen und verschiedene Parks sorgen für ein ausgewogenes Kulturleben.

Bis jetzt habe ich ein Museum über „arte popular“, den Mercado Central, ein Konzert der Philharmonie, den Praca da Liberdade und den Parque das Mangabeiras besucht. All diese Orte und Plätze haben mich auf ihre Weise begeistert.

Im Museum haben mich die mir bisher unbekannten Formen und Farben der Kunstwerke in ihren Bann gezogen. Von Höhlenmalereien über indigene Netzkörbe und Holzschnitzereien, bis zu religiösen Szenen, nachgebildet in detailreicher Handarbeit aus Ton, bunten Keramikblumen, Stickereien und Graffitikunstwerken war alles vertreten und bot einen vielseitigen Blick auf die Diversität der brasilianischen Kulturszene.

Bunte Tütchen, die auf Festen verwendet werden

                                                                                    Der Mercado Central erinnert mich mit seiner erhabenen Architektur, den wohlorganisierten Ständen und der Vielfalt an leckeren Lebensmitteln an die Markthalle in Stuttgart. Angefangen bei allerlei Gewürzen, über Käse, Fleisch und Nüsse, bis hin zu einer unbeschreiblichen Auswahl an Obstsorten, werden hier alle Geschmäcker fündig. Viele Frucht- und Nusssorten habe ich in Europa bisher nicht gesehen und war dementsprechend neugierig sie zu probieren. Selbstverständlich gibt es auch Pao de queijo, neben Haushaltsgegenständen und Tieren auf dem Markt zu erwerben.

Der Parque das Mangabeiras bietet einen fantastischen Ausblick auf die Stadt auf der einen, und die Berge auf der anderen Seite.

Blick auf die Stadt und die Berge, die Belo Horizonte umrahmen

Auch der Praca da Liberdade läd zum Bleiben ein. Eine Palmenallee bildet das Zentrum des Platzes, der mit vielen Pflanzen und Sitzgelegenheiten bestückt ist. Umgeben ist der Platz von altehrwürdigen Gebäuden in Pastellfarben, ebenso wie von moderner Architektur.

Auch an dieser Stelle möchte ich innehalten und mir an die eigene Nase fassen, meine Gedankenmuster kritisch hinterfragen.

Wieso war ich auch hier überrascht und nicht wenig beeindruckt vom fortschrittlich-westlichen Stadtbild? Ich habe mich regelrecht ertappt gefühlt, als ich vor dem architektonisch sehr interessanten Konzerthaus stand und so etwas schlicht nicht erwartet hatte. Es ist deshalb unheimlich wichtig für mich, dass ich in Zukunft die Kunst-und Kulturszene, ebenso wie alle anderen Erfahrungen hier einfach auf mich zukommen lasse und genieße.

Gleichzeitig möchte ich hier auch die Frage nach der mangelnden Präsenz indigener Werte und Kulturszenen im modernen Stadtbild und dem erneuten Zusammenhang mit der westlichen Lebensweise in den Raum stellen.

Palmenallee am Praca da Liberdade

Straßenkunst an einem Bauzaun

Konzertsaal der Philharmonie

Zusammenfassend kann ich sagen, dass sich mein Alltag in Brasilien wenig von dem in Deutschland unterscheidet, abgesehen von meinem Rollenwechsel von der Schülerin zur Freiwilligen natürlich. Dank meiner Gastmutter habe ich schon viele neue vegetarische Gerichte kennengelernt und habe ihr im Gegenzug deutsche Speisen gezeigt.

Von all dem Trubel um Bolsonaro und die Waldbrände bekomme ich im Alltag wenig mit. Allerdings spüre ich trotzdem die Spaltung der Gesellschaft in zwei politische Lager, wenn auch nur unterschwellig.

Die Luft war in den ersten Wochen seht trocken und ab und an waren Aschefetzen sichtbar. Von Einheimischen habe ich aber erfahren, dass die Waldbrände um diese Jahreszeit normal seien, das Ausmaß aufgrund des fortschreitenden Klimawandels sei aber nichtsdestotrotz beunruhigend.

In meiner Freizeit lerne ich viel Portugiesisch, um mich noch besser verständigen zu können. Ich jogge gerne am Praca da Liberdade, besuche Kurse im Sportstudio, stöbere in kleinen nachhaltigen Läden oder schwimme zusammen mit meiner Gastmutter im Schwimmbad ihres Freizeitclubs, da öffentliche Bäder in Belo Horizonte leider nicht wirklich existieren.

Der Ausblick aus meinem Zimmerfenster

Ich freue mich unglaublich, hier sein zu können und bin dankbar für all die Menschen und die Erfahrungen, die ich machen darf. Allein in den letzten zwei Wochen habe ich eine Entwicklung in meiner Persönlichkeit in Richtung noch mehr Selbstständigkeit, Offenheit, Gelassenheit und mehr Selbstbewusstsein wahrgenommen.

In den kommenden Wochen werde ich an der UFMG die Proteste bezüglich der angestrebten Privatisierungen der Universitäten beobachten können, meine ersten Projekte umsetzen und auch Ausflüge in andere Gegenden machen können. Also, bleibt gespannt.

Liebe Grüße an alle, die das lesen. Ich vermisse euch trotz der tollen Erlebnisse hier sehr!

P.S. : Ich entschuldige mich dafür, dass das Tilde-Zeichen(~) und das c mit Cedille nicht zu sehen sind. Diese richtig zu verwenden, war mir aufgrund meines älteren Laptops nicht möglich.