Archiv für den Monat: Oktober 2019

Buenopolis e a vida social

Mit den Worten: „Jetzt wirst du das ursprünglichere Brasilien, eine andere Seite des Landes kennenlernen!“, fuhren wir vergangenen Freitag mit vollbepacktem Auto in Richtung Norden.

Da Ferienanfang war, standen wir zunächst in Stau. Davon habe ich aber wenig mitbekommen, denn dank des gemütlichen Roadtrip-Feelings habe ich den Großteil der Fahrt zwischen Kissen und Decken geschlafen. Nur an den Maut-Stellen der privatisierten Straßenabschnitte bin ich hin und wieder aufgewacht.

Nach sechs Stunden Fahrt sind wir gegen zwei Uhr morgens beim Haus der Eltern meines Gastvaters angekommen und sind alle hundemüde in die dicht an dicht stehenden Betten gefallen.

Eine erholsame Nacht war es aber leider nicht. Ab fünf Uhr waren die erste Feuerwerke zur Feier der Schutzpatronin Brasiliens „Nossa Senhora Aparecida“ zu hören und um sechs Uhr hieß es für uns auch schon aufstehen, um an der Taufe der Cousine meiner Gastschwester teilhaben zu können. Diese fand keine 200 Meter entfernt vom Haus in der blau-weißen Dorfkirche statt. (Ich sollte wohl anmerken, dass die Bezeichnung in brasilianischen Größenordnungen zu verstehen ist, immerhin hat Buenopolis grob 10.000 Einwohner).

Die Straße, in der sich sowohl das Haus der Eltern, als auch die Kirche befindet.

Obwohl ich selbst nicht sehr religiös bin, war diese Erfahrung äußerst interessant. Meiner Meinung nach war die Atmosphäre in der Kirche sehr schön. Der Live-Gesang, das gegenseitige Umarmen nach dem Gebet und nicht zuletzt die Freudentränen der Familien, deren Kinder getauft wurden, haben dazu beigetragen. Dass die katholische Kirche in vielen Teilen Brasiliens einen starken Einfluss hat, manifestiert sich in meinen Augen neben den vielen ministrierenden Kindern vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch. „Nossa“ oder „Nossa Senhora“ bedeutet  beispielsweise so viel wie „Wow!“, „Toll!“, „Enorm!“, „Wie schön!“, „Krass!“ oder „Oha!“ und lässt sich in fast jedem Gespräch wiederfinden.

Nach der Kirche sind wir zum Frühstück ein paar Straßen weiter in das Haus des Schwagers meines Gastvaters gefahren. Leckere Pao de queijo, frischer Saft und andere Leckereien waren schon vorbereitet. Im Hof des Hauses wurden wir von zwei kleinen Welpen empfangen, die freudig an uns hochsprangen. Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt. Dank der Gastfreundschaft war es auch überhaupt nicht unangenehm mit eigentlich fremden Personen in deren Haus zu frühstücken. Im Gegenteil, fühlte ich mich stets willkommen und fast als Teil der Familie.

Im Anschluss an das Frühstück sind wir auf das Anwesen, die „Fazenda“ des Schwagers gefahren. Dort habe ich einmal mehr daran denken müssen, wie glücklich ich mich schätzen kann, das hier erleben zu dürfen und wie dankbar ich für meine Situation bin.

Einfahrt der Fazenda – eine wahre Prachtallee aus tropischen Pflanzen!

Auf der Fazenda erwartete uns ein wahres Paradies, erbaut und gepflanzt allein von einer Person, dem Schwager Luis. Das Gelände ist riesig. Neben einem Wochenendhaus und einer überdachten Terrasse befindet sich in der Mitte ein großer Badesee, in dem früher sogar mal Piranhas gelebt haben, die aber ungefährlich gewesen sind. Unter gigantischen Mangobäumen befindet sich ein großes Gehege mit bunten Kanarienvögeln, Papageien und Schildkröten. Ein paar prachtvolle Pfauen stolzierten dazwischen umher.

Weiter unten auf dem Gelände leben Hühner, Truthähne und Gänse zwischen einer unbeschreiblichen Vielfalt an Farnen, Obstbäumen und Blüten. Stauend bin ich durch die Pflanzenpracht geschlendert, habe mir alles von meinem Gastvater erklären lassen und mich wortwörtlich durchgefuttert. Angefangen bei Acerola, über Jabuticaba, süße Maracuja, Mandarinen, Orangen, Ananas und Mango, bis zu Pitanga (Surinamkirsche), Amora (maulbeerähnliche Frucht) und schließlich Avocado und Bohnen war alles dabei, was man sich wünschen könnte.

Auch im Gemüsegarten lernte ich zahlreiche neue Sorten kennen, darunter Chuchu (Chayote) und Maxixe (Antillengurke), die ich bei einem reichhaltigen Mittagessen serviert bekam, während alle anderen Grillfleisch aßen. „Churrasco“ ist eben sehr beliebt bei den Brasilianern. Am nächsten Tag aßen alle aber im Gegensatz dazu vegetarisch. „Feijao“, also Bohnen, Reis, Ei und verschiedene Gemüsegerichte wurden von einem gigantischen Salat begleitet.

Am Nachmittag habe ich außerdem die Pflanzenzucht von Luis bewundert, die von Orchideen über Farne, bis zu Nutzpflanzen alles zu bieten hat. Des Weiteren habe ich für meinen Portugiesisch-Test gelernt, dabei die traumhafte Aussicht genossen und war schließlich zusammen mit meiner Gastschwester im See baden. Über uns glitten bunte Vögel dahin, hinter uns zeigte ein Pfau seine ganze Pracht und wir redeten über die Unterschiede zwischen dem brasilianischen und deutschen Schulsystem. Zwischendurch hat uns noch einer der Hunde Gesellschaft geleistet.

Für mich war es unbeschreiblich toll, dort zwischen all den Pflanzen und Tieren sein zu können. Ich glaube ich habe es bis jetzt nicht ganz realisiert, habe noch nicht alle Eindrücke verarbeiten können.

 

Zu Abend haben wir in einem sehr stillvoll eingerichteten Vintage-Restaurant gegessen. Laut meiner Gastfamilie sei dies aber auch das einzig gute Restaurant in Buenopolis. Das erinnert mich ein wenig an die Zentralbar in der Kleinstadt Nürtingen in meiner Heimat, in der man stets gute Chancen hat, Bekannte aus allen umliegenden Dörfern zu treffen.

Am nächsten Morgen habe ich nach einem leckeren Frühstück mit frischgepressten Acerolasaft und Biscoitos de queijo zunächst in der noch angenehmen Morgensonne weiter gelernt.

Süße Maracuja sind selbst in den großen Städten Brasiliens selten zu finden.

 

Traumhafter Ausblick beim Lernen

Nach dem Mittagessen, an dessen Vorbereitung sich alle mit Schnippel-Arbeit beteiligt haben, bin ich mit meinem Gastvater und dem Sohn des Schwagers auf dessen Farm gefahren. Zunächst tauschten wir unser Auto gegen den Jeep des Schwagers ein, denn der Weg zur Farm führt zum Großteil über ungeteerte Straßen. Die Fahrt dauerte gut eine Stunde. Wir durchquerten eine enorm trockene Landschaft auf eisenhaltigem Boden, der jetzt am Ende der Trockenzeit ziemlich staubte. Der Ausblick über die „serra“, die sich tausende Kilometer weit erstreckt, war allerdings einmalig und ich bin einmal mehr fasziniert von den Anpassungsmechanismen der Natur an solch unwirtliche Bedingungen.

Auf der Farm angekommen, bekam ich zunächst ein Hemd und einen Hut, bevor wir über das Gelände spazierten, das nicht zu enden schien. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass laut Fazendeiro diese Farm eher klein sei. Die Größenverhältnisse Brasiliens sind mit nichts zu vergleichen, was ich bisher aus Europa kannte. Wir stapften über ausgetrocknete Wiesen, prüften Dämme aus gestapelten Bäumen, die die Erde bei Eintreten der Regenzeit vor dem Wegschwämmen schützen sollen, beäugten die Setzlinge, die nur mittels einer Tröpfchenbewässerungsanlage am Leben gehalten werden und kletterten über Zäune. Unterwegs konnte ich eine Grille dreifacher Größe im Vergleich zu europäischen Grillen und bunt schillernde Papageien in Mangobäumen beobachten.

Während der Fazendeiro weiter seine Setzlinge in der prallen Sonne prüfte, die ihm wenig auszumachen schien, ruhten mein Gastvater und ich uns im Schatten der Bäume aus. Wir aßen Mangos mit den Händen direkt vom Baum und pflückten dattelartige Gewächse, um unseren Durst zu stillen. Im Anschluss daran streichelte ich die Pferde und schaute mir die Kühe indischer Herkunft an, die an dieses Klima gewöhnt sind und nach der Allenschen Klimaregel über sehr große Ohren verfügen, die sie irgendwie drollig aussehen lassen.

Dann durfte ich sogar auf einem der Pferde reiten. Mit meinem Hut und dem Westernsattel kam ich mir ein bisschen wie ein Cowgril in einem (schlechten) Westernfilm vor, während ich mit meinem Gastvater durch die Kuhherden trabte. Ich lernte, dass die Pferde hier besonders angenehm zu reiten sind, da man ähnlich wie bei Islandpferden ein volles Wasserglas halten könnte, ohne es zu verschütten. Das war in Anbetracht der früheren Handelswege in diesem Land der großen Distanzen wirklich nützlich. Wie wir so einhändig mit wehendem Haar durch die „serra“ ritten, musste ich zunehmend schmunzeln. Was für einzigartige Erfahrungen ich hier machen darf und wie toll das Gefühl war, so frei von allem Stress, verbunden mit der Natur, die Augenblicke zu genießen.

Blick aus dem Tal auf die bergige Landschaft (serra)

Danach spazierten wir nochmal über das Gelände, um die Zeit bis zur Rückfahrt zu überbrücken. Auf Portugiesisch erörterten wir die Probleme der Bauern in Brasilien und Deutschland und genossen den Ausblick auf die golden schimmernde Landschaft. Dass es sich lohnt, seine Umgebung aufmerksam zu studierten, offenbarte sich mir in Form eines Tukans keine zehn Meter neben mir und der Duschschwamm-Pflanze, die in Mangobäumen wächst.

Bevor wir wieder zurück gefahren sind, habe ich den spektakulären Sonnenuntergang in rosa-rot-Farben, ebenso wie den aufgehenden Vollmond über den Bergen bewundert, während ich weiter mit den Pferden kuschelte und Kälbchen den Hügel hinauftrotteten.

Diese Bilder sind vom Sonnenuntergang am Vortag im Tal, da ich auf der Farm keinen Fotoapparat dabei hatte.

Zu Abend aßen wir im selben Restaurant wie am Vortag. Diesmal habe ich aber „mandioca com manteiga“ probiert und mitten im Gespräch realisiert, dass ich so langsam wirklich in der Sprache ankomme, von Erlebnissen berichten und mich an Konversationen mit mehr als nur ein paar Worten beteiligen kann. Beim lautstarken Konzert der Grillen und Vögel am Abend kuschelten wir uns in die Betten und ich hatte Zeit, die Eindrücke und Bilder des Tages Revue passieren zu lassen.

Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Rückweg. Aber nicht bevor wir uns mit frischem Gemüse aus dem Garten ausgestattet und uns von der Familie in ihrem Laden „casa do fazendeiro“ verabschiedet hatten. In besagtem Laden sollten wir dann auch noch Bilder mit Hut und vor Pferdestatuen oder Lederschuhen machen, um die Reise abzurunden.

Kein Kommentar 🙂

Auf dem Rückweg legten wir allerdings noch einen Stopp in einem Restaurant ein, in dem gigantische Bullenköpfe an der Wand und ein Buffet über dem offenen Feuer die Wild-West-Seite von Minas Gerais präsentierten. Im Anschluss besichtigten wir noch eine Höhle, in der ich seit Wochen das erste Mal wieder so etwas wie Kälte empfunden habe. Die sieben Säle mit erhabenen Stalagmit-, und Stalaktit-Formationen haben alle Teilnehmer der Führung beeindruckt und die schimmernden Wände boten ein tolles Ende des Ausflugs.

Meine Gastschwester hatte mich nach dem Tag auf der Farm mit den Worten „A Leah gosta das aventuras!“begrüßt. Als ich „Sim, foi otimo!“ antwortete, musste ich daran dennken, dass nicht nur dieser Tag, sondern jeder einzelne Tag hier in Brasilien ein Abenteuer mit viele Einsichten, zu revidierenden Meinungen und tollen Erfahrungen ist.

In meiner Freizeit habe ich inzwischen auch sehr tolle Leute in meinem Alter kennengelernt. Neulich habe ich mich beispielsweise mit ehemaligen Schülern des CSA in einer veganen Bar getroffen. Entgegen meiner Erwartung kannte ich niemanden in der Gruppe. Da mich ein Diego zu dem Treffen eingeladen hatte, rechnete ich mit dem mir bereits bekannten PASCH-Alumnus, den ich in Sao Paulo kennengelernt hatte. Als ich diesem schrieb, wo er denn sei, musste ich feststellen, dass es wohl noch einen anderen Diego in der Gruppe geben muss. Dass ich niemanden kannte war aber überhaupt nicht schlimm. Wir teilten uns ein Bier (chope), redeten auf Portugiesisch und Deutsch, als ob wir uns schon lange kennen würden und probierten die vegane Version der brasilianischen Spezialität „coxinha“, einer tropfenförmigen Hähnchenkrokette. Wir sprachen über die Uni, Produkte zur Plastikvermeidung und die politische Situation im Land. Die „Fora Bolsonaro“-Sticker und der Secondhand-Shop in der Bar untermauerten unsere Ansichten. Auf dem Heimweg habe ich mir mit einem der Jungen ein Uber geteilt. Er erzählte mir von seinem Traum, in Deutschland zu studieren und ich berichtete im Gegenzug von meiner Arbeit als Freiwillige.

An diesem Abend habe ich für mich erneut feststellen können, wie einfach es ist, nette Leute kennenzulernen, wenn ich mich nur auf die neue Situation einlasse und nicht so viel nachdenke. Dass Sprache ein Türöffner sein kann habe ich einmal mehr beim gestrigen Mittagessen mit der Tochter einer Lehrerin des CSA festgestellt. Ihre Mutter hatte den Kontakt hergestellt und nach einem kurzen Gespräch auf Whatsapp verabredeten wir uns in der UFMG. Wir redeten über Interessen, die Probleme der Uni und unser Leben im Allgemeinen, genauso wie all die anderen Studenten um uns herum. Das war eine schöne Erfahrung für mich. Zuvor hatte ich mit zwei Teilnehmern des Portugiesisch-Kurses jeweils auf Spanisch und Portugiesisch beziehungsweise auf Englisch über ihre Herkunft und Geschichte gesprochen. So verschiedene Lebensrealitäten- der eine aus Venezuela geflüchtet, der andere aus Kalifornien, der Liebe wegen in Brasilien- und trotzdem so ähnliche Gespräche mit offenen, sehr netten Menschen, haben mir gut gefallen. Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und sich gegenseitig zuzuhören erscheint mir heute wichtiger denn je, wenn es im Weltgeschehen an Respekt und Toleranz mangelt. Wenn ich mit so verschiedene Menschen in Kontakt komme und die Mehrsprachigkeit lebe, realisiere ich zunehmend was es bedeutet, ein Bürger der Welt zu sein.

In ein paar Tagen treffe ich mich des Weiteren zum ersten Mak mit einer Schülergruppe aus besonders interessierten Deutschlernenden. Wir haben diese Treffen völlig unabhängig von der Schule organisiert. Da wir uns alle gut verstehen wollen wir auf diese Weise in alltäglichen Situationen der Freizeit Deutsch beziehungsweise Portugiesisch sprechen und einfach Spaß zusammen haben. Wir planen Film- oder Spieleabende, wir möchten zusammen kochen und backen oder Bars besuchen. Netterweise werden mir die Schüler auch ihre Stadt zeigen. Wir fangen mit dem Stadtviertel Pampulha an…

Liebe Grüße!

 

 

Greve geral, Ouro Preto e muito mais

„Identität definiert sich eher über Konflikte und Dilemmata als über Übereinstimmungen“. Dieses Zitat von Harari aus seinem Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert passt meiner Meinung nach sehr gut zu den Erlebnissen der letzten Tage.

Anlässlich der geplanten Privatisierung öffentlicher Bildungseinrichtungen, sowie der Kürzung von Geldern im Sozialbereich, hat am 3. und 4. Oktober ein „greve geral“, ein Gerneralstreik an der UFMG stattgefunden.

Aufruf zum Streik

Bevor ich mir ein Bild von den Ergeignissen rund um den Streik machen konnte, war es mir wichtig, mich mit den Argumenten der Gegenseite, der Bolsonaro-Befürworter auseinanderzusetzten. In einer vernetzten Welt, in der globale Probleme globale Antworten verlangen (nach Harari, S.156), erachte ich es als sinnvoll, sich mit den Sorgen, Meinungen und Zukunftsvorstellungen anderer politischer Lager zu befassen, selbst wenn die eigene Meinung zu bestimmten Sachverhalten klar umrissen ist. Gerade dann ist es nötig, den anderen Meinungen zunächst mit Toleranz und Respekt zu begegnen, um einen Diskurs überhaupt erst zu ermöglichen.

Für mich war es eine interessante Erfahrung, mir die Position der Befürworter der Privatisierungen anzuhören, vor allem auch da ich diese Haltung nicht automatisch mit den betreffenden Personen in Verbindung gebracht hätte. Aufschlussreich war besonders, dass sich meine Gesprächspartner grundsätzlich für das Vorhandensein kostenloser Bildung ausgesprochen haben. Der Grund für ihre Unterstützung der Privatisierungsvorschläge liege lediglich darin, dass ihrer Meinung nach die Steuergelder, ihre Steuergelder, falsch angelegt wären. Viele Fakultäten seien chaotisch und sie hätten Sorgen bezüglich der Sicherheit der eigenen Kinder, sollten diese Universitäten wie die UFMG besuchen.

Für mein Dafürhalten war deutlich eine sehr persönliche Komponente herauszuhören. Die Zukunftssorgen auch im Hinblick auf die Korruption, derer sie müde seien, veranlasse sie dazu, auf Reformen, Änderungen und Umbrüche im System zu hoffen. In meinen Augen sind sie klassische Protestwähler. Dieser Eindruck wurde durch die Antwort „Gute Frage…“, auf mein Nachhaken, wie Bolsonaro gedenke, die tiefgreifenden Probleme wie das der Korruption zu lösen, bestätigt, wenn nicht noch verstärkt.

Sicher gibt es unter den Befürwortern Bolsonaros auch ganz andere Kaliber, Hardliner, doch diese sind im Allgemeinen die Ausnahme, denn um so erfolgreich sein zu können, muss die Politik des Präsidenten auch in der breiten Masse der Bevölkerung fußen.

Nun aber zu meinen Eindrücken vom Streik an der UFMG. Nachdem die Lehrerin des Sprachkurses es mit Verweis auf Demonstrationen und eine andere Atmosphäre an der Uni freigestellt hatte, den Kurs zu besuchen, war ich überrascht als ich mich auf einem vollständig ausgestorbenen Campus wiederfand. Mein Sprachkurs konnte unterdessen nur aus dem Grund stattfinden, dass er von einem bereits privaten Unternehmen (cenex) durchgeführt wird.

In der Ferne waren Geräusche hörbar, die auf eine Demonstration oder Kundgebung hinwiesen, von diesen habe ich aber auf dem Campus nichts mitbekommen. Stattdessen waren die anderen Kursteilnehmer und ich nahezu die einzigen Menschen in der Universität. Zu sehen waren allerdings eine Vielzahl an Plakaten und großen Werbepostern überall auf dem Gelände, die von den Zielen und Forderungen der Streikenden berichteten.

Forderungen der Bewegung

Eingebettet in eine landesweite Protestaktion gegen die Privatisierungsbestrebungen, möchten die Streikenden die Kürzung der Gelder der UFMG von 215 Millionen Real auf 150,5 Millionen Real, welche im jährlichen Haushaltsplan (Lei Orcamentária Anual = LOA) verankert ist, rückgängig machen. Des Weiteren setzten sie sich für soziale Ziele wie beispielsweise den Fortbestand von Arbeiterrechten und eine solidarische Behandlung von Arbeitslosen ein. Die genaue Ausgestaltung der Forderungen, ebenso wie die exakten Meinungen der Gegenseite sind aber zu komplex, als dass ich hier darüber berichten könnte. Ich bin allerdings sehr gespannt, was in Zukunft im politischen Diskurs passieren wird. Gleichzeitig werden mir auch an dieser Stelle meine Privilegien bewusst, denn ich kann hier als außenstehende Beobachterin meine Eindrücke reflektieren, ohne dass ich um meinen Studienplatz fürchten muss…

Apropos lernen. Sowohl in der Küche, als auch im Fitnessstudio erfahre ich ständig Neues, lerne dazu. Neulich wollte ich eines meiner Lieblingsrezepte- Couscous-Bällchen gefüllt mit Brokkoli und Käse- für meine Gastfamilie kochen. Ich hätte nicht gedacht, dass das Endergebnis so stark von dem mir bekannten abweichen könnte. Zunächst musste ich feststellen, dass es wohl verschiedene Arten von Couscous gibt, sodass ich es nun mit einer gelblichen Masse, die für mein Dafürhalten eher nach Polenta aussieht, zu tun hatte. Ebenso lernte ich, dass man diesen Couscous auch ganz anders zubereitet. In einem eigens dafür angefertigten Topf wird die Masse in ein Stofftuch eingewickelt und gart mit Hilfe von Wasserdampf. Am Ende hatte ich einen gelblichen Couscous-Kuchen vor mir, aber der war mindestens genauso lecker wie die Bällchen.

Die Kurse im Fitnessstudio sind nicht nur wegen der neuen Bewegungen interessant, sondern auch deshalb, da es eine bereichernde Erfahrung ist, einem Kurs auf einer Sprache zu folgen, die man noch nicht vollständig beherrscht. In Zeiten der weltweiten Migration und des unterbewussten Unterscheidens in fremd und eigen, erachte ich es als sehr wichtig, selbst einmal die Erfahrung zu machen, der oder die vermeintlich Fremde zu sein, um die Schwierigkeiten, mit denen sich Migranten konfrontiert sehen, auch nur ansatzweise nachempfinden zu können.

Egal ob beim Yoga, Pilates oder Tanzen hat, nachdem ich mich einfach auf die Erfahrungen eingelassen habe, der Kopfstand oder das sehr Hintern-betonte Tanzen Seite an Seite (oder besser Popo an Pop :D) mit der Lehrerin gut geklappt und hat zudem wirklich Spaß gemacht.

In der Schule verbringe ich gerade den Großteil der Zeit damit, Schüler auf den mündlichen Teil ihrer A2-Prüfung vorzubereiten. Dafür üben wir Dialoge, Fragen und Ausdrücke zu verschiedenen Themen des Alltags. Die Schüler, die dich auf diese Weise näher kennengelernt habe, sind ausgesprochen nett und ich bin jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie motiviert und lebensfroh sie trotz all der harten Arbeit sind.

Einzeltraining im Klassenzimmer

Auf dem Pausenhof werde ich des Öfteren zu umherstehenden Grüppchen dazu gerufen, bekomme verschiedene Dinge zu probieren und soll mich an Zungenbrechern auf Portugiesisch versuchen. Inzwischen habe ich mich sehr gut eingelebt und der tägliche Handschlag mit dem Pförtner des CSA wird zum Alltag.

Weiterhin wurde ich gebeten, ein Interview zum Thema Plastikvermeidung für die Schülerzeitung zu geben. Zum Glück auf Englisch, denn über so komplexe Sachverhalte kann ich auf Portugiesisch leider noch nicht sprechen. Aber es hat mich sehr gefreut, dass das Interesse für den Klimaschutz auch hier zu wachsen scheint. Da ich in nächster Zeit mit einigen Schülern eigene Produkte herstellen werde, die gute Alternativen zu Plastik enthaltenden Produkten darstellen, war das Interview ein toller Einstieg in die Thematik.

Hier einige der Produkte, die ich verwende, um Plastik zu vermeiden

Rund um den Praca da Liberdade bin ich gerade dabei, gemütliche Cafés und andere interessante Orte zu erkunden. Bei Abendsonnenschein lässt es sich sehr gut in einem der Cafés mit stilvoller Einrichtung bei Cappuccino, Pao de queijo und einem guten Buch aushalten. Dabei komme ich aber auch häufig ins Grübeln darüber, wie gut es mir eigentlich geht, wie glücklich ich mich schätzen kann und dass das absolut nicht selbstverständlich ist. Denn letztlich ist es purer Zufall, wo man geboren wird. Umso wichtiger, dass Bewohner des globalen Nordens mit heutigen Privilegien verantwortungsvoll umgehen und darauf hinarbeiten, dass diese nach und nach weniger wahrnehmbar, weniger existent werden.

Neulich haben mich auch zwei kleine Äffchen im Baum daran erinnert, dass ich mich trotz meines Alltags hier, doch am anderen Ende der Welt befinde.

Auf der Fahrt nach Ouro Preto, einst größte Stadt Amerikas und ehemalige Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais, wurde dieses Gefühl, weit weg von Europa, von Zuhause zu sein, wiederholt.

Sobald wir die Ausläufer Belo Horizontes hinter uns gelassen hatten, veränderte sich das Landschaftsbild. Ambitionierte Radfahrer begleiteten uns auf der gesamten Strecke von rund 80 Kilometern. Auch sie fühlten sich wohl, abgesehen vom Sportsgeist, von dem Blick auf eine erhabene Hügel- und Bergwelt angetrieben. Mich haben vor allem diese Weite, das schier endlose Grün, die spektakulären Felsen und die Vielfalt der Flora beeindruckt. Je weiter wir uns von Belo Horizonte entfernten, desto mehr „fazendas“ mit Kühen, die wie im Allgäu auf saftigen Wiesen grasen, tauchten auf. Im Gegensatz zum Trubel der Stadt, hat die Landschaft mit all den „florestas“, Hügeln, Tälern und Wasserquellen unheimlich beruhigend gewirkt. Innerhalb der 80 Kilometern auf der sehr kurvigen Straße, hat sich auch das Klima verändert. In Belo Horizonte sind wir bei annähernd 30 Grad und Sonnenschein losgefahren, in Ouro Preto sind wir dagegen bei Regen, dampfenden Wäldern und 19 Grad angekommen.

Blick auf Belo Horizonte

Kontrastprogramm zum Blick auf BH

Ouro Preto selbst liegt in den Bergen. Kleine, wirklich steile Gassen mit wunderbar bunten Häusern im Barockstil prägen das Stadtbild. Außerdem verfügt die Stadt über eine Vielzahl an Kirchen, Museen und Schmuck-und Edelsteinläden, die unter anderem Papageien aus mühevoller Handarbeit verkaufen. Das ist bestimmt nicht jedermanns Geschmack, aber die Vielfalt an funkelnden Steinen aus den Mienen der Umgebung sind auf jeden Fall einen Blick wert.

Neben einem gemütlichen Künstlermarkt haben wir das „Museu da Inconfidência“ besucht. Die Ausstellungsstücke reichen von religiösen Reliquien, über indigene Urnen, Möbel aus verschiedenen Jahrhunderten und Erinnerungsstücken an die Sklaverei, bis zur Geschichte der Auflehnung gegen die portugiesischen Besatzer.

Flagge des Bundesstaates Minas Gerais

Als wir das Museum verließen, erwartete uns strahlender Sonnenschein; das Wetter in bergigen Gegenden ist bekanntlich wechselhaft. In einem idyllischen Restaurant habe ich erfolgreich einen Ananassaft ohne Strohhalm bestellt. Ich glaube das war der beste Saft meines Lebens! Es wird mir auf jeden Fall enorm schwerfallen, auf die leckeren frischen Früchte verzichten zu müssen, wenn ich wieder in Europa bin.

Vor ein paar Tagen habe ich mit meinen Gasteltern einen Film von National Geographic über die Tier- und Pflanzenwelt Brasiliens geschaut, als es geklingelt hat und wir zur Taufe der Cousine meiner Gastschwester eingeladen wurden. In Buenópolis kann ich mich also nicht nur auf die Vielfalt an prachtvollen Pflanzen und Tieren freuen, sondern auch auf ein brasilianisches Familienfest.

Des Weiteren möchte ich in den nächsten Tagen die „brechós“, also die Secondhand-Läden Belo Horizontes, durchstöbern und im Café com Letras Kulturbeiträgen lauschen.

Liebe Grüße und bis bald!

Tantas coisas…

Rückblickend weiß ich gar nicht richtig, wo ich anfangen soll zu erzählen. Es ist so viel passiert, ich habe so viel Neues erlebt und so viele einmalige Erfahrungen gemacht. TANTAS COISAS…

Bevor ich aber richtig anfange, möchte ich darauf hinweisen, dass dies meine persönlichen Eindrücke, meine subjektiven Erfahrungen sind, von denen ich berichte. Mir ist durchaus bewusst, dass ich weiterhin ein Leben führe, dass dem meinen in Europa ähnelt und dass gleichzeitig ganz andere Lebensrealitäten in diesem riesigen Land existieren. Die Privilegien, die mit meiner Herkunft und Hautfarbe zusammenhängen werden hier besonders spürbar für mich, denn sie sind unmittelbar mit der Unterdrückung und Benachteiligung mancher Menschen verbunden. Unser Wohlstand im globalen Norden basiert zu großen Teilen auf einem politisch-ökonomischen System, das nach wie vor vom Fortbestand rassistischer und postkolonialer Strukturen profitiert.

Ebenso möchte ich darauf verweisen, dass die durch meine Sozialisation geprägte „westliche Sichtweise“ mein Berichten beeinflusst, wenn vielleicht auch nur unterbewusst. Ich werde aber mein Bestes geben, eben diese kritisch zu hinterfragen und gemäß interkultureller Kompetenzen dem Neuen aufgeschlossen und vorurteilsfrei gegenüberzutreten, ohne zwischen dem Eigenen und dem vermeintlich Fremden, Andersartigen zu unterscheiden. Denn in einer globalisierten Welt bedarf es unvoreingenommenen Begegnungen auf Augenhöhe, um Probleme auf internationaler Ebene in gegenseitigem Respekt gemeinsam angehen zu können.

Nun aber zum eigentlichen Inhalt, beginnend mit der Ankunft in Sao Paulo.

Nach einem sehr schlafintensiven Flug, auf dem ich auch den Abschied von Freunden und Familie habe sacken lassen, ging es um 3 Uhr morgens los in eine riesige Stadt, die auch um diese Uhrzeit nicht zu schlafen schien. Zusammen mit den anderen Freiwilligen, die ich am Flughafen getroffen habe, schlenderte ich durch Pinheiros, das Viertel in dem auch das Goethe-Institut liegt. Im nächstbesten Café probierten wir sogleich die berühmten Pao de queijo, welche uns sogar von einem netten Mann auf Deutsch serviert wurden.

Das Viertel hat bei mir einen sehr positiven Eindruck hinterlassen. Es gab zahlreiche, toll eingerichtete vegane Restaurants, Unverpackt- und Bioläden, beeindruckende Straßenkunstwerke und nicht zuletzt nachhaltige Labels in kreativ-alternativen Verkaufshallen. Auch der Flohmarkt mit Second-Hand Ständen in weißen VW-Bussen, handgemachten Kunstgegenständen, allerlei Trödel und leckerem Essen durfte nicht fehlen.

Blick aus dem Hotelzimmer in Sao Paulo

Mit Lea auf bunt bemalten Treppen

Straßenkunstwerke wie dieses, sind in Sao Paulo nicht selten

Das Seminar am Goethe-Institut war wirklich gewinnbringend. Im Gegensatz zu den eher allgemeineren Themen, die wir auf dem Vorbereitungsseminar am Werbellinsee behandelt haben, bekamen wir in Sao Paulo sehr konkrete Tipps für die Gestaltung von Aktivitäten an die Hand. Nachdem das PASCH-Team uns mit dem Strukturen und Aufgaben des Institutes und des Netzwerkes bekannt gemacht hat, haben wir verschiedene Lernapps, Quizze und Methoden kennengelernt und Workshops zu Phonetik und Interkulturalität besucht. Nicht zuletzt hatten wir Freiwilligen die Möglichkeit mit Ehemaligen per Videochat zu sprechen.

Traditionell brasilianische Gerichte wie Feijoada oder panierten Maniok durften wir am Abend in einem gemütlichen Restaurant probieren und wurden danach bei Live-Musik zum Forró tanzen aufgefordert.

Nach einem ausgiebigen Frühstück mit unglaublich leckerem frischen Obst ging die Reise auch schon weiter, das Taxi zum Flughafen stand schon bereit. Beim Check-in habe ich auch direkt damit angefangen konsequent Portugiesisch zu sprechen, einfach, um schnell in die Sprache hineinzufinden.

Erst während des Fluges kam ich dazu, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten und zu realisieren, dass ich nun wirklich ein  Jahr in Belo Horizonte verbringen werde.

Da ich mir normalerweise über alle Dinge sehr viele Gedanken mache, habe ich mir für dieses Jahr vorgenommen, weniger nachzudenken, alles ohne zu urteilen auf mich zukommen zu lassen und mit offenen Augen, die eigene Position reflektierend in Brasilien anzukommen.

Anflug

Am Flughafen wurde ich von meiner Gastschwester und ihrem Deutschlehrer – meiner  Ansprechperson abgeholt.

Da der Flughafen vollständig außerhalb der Stadt in einem aufgrund mangelnden Regens steppenartigen Gebiet liegt, war ich beim Anblick der grünen Stadt begeistert. Rosafarbene, leuchtend gelbe und weiße Bäume, ebenso wie verschiedene Palmensorten zieren den Straßenrand.

Dieser Baum hat mich besonders fasziniert!

Farbenpracht am Straßenrand

Bei meiner Gastfamilie fühle ich mich überaus wohl. Mein Gastvater spricht sogar ein wenig Deutsch, sodass die Ankunft und das Einleben leichter fielen.                                                       Nachdem ich mich in meinem neuen Zimmer häuslich eingerichtet hatte, sind wir lecker essen gegangen und waren in einem Supermarkt einkaufen, der bereits auf Plastiktüten an der Kasse verzichtet und stattdessen Pappkartons oder Mehrwegtaschen anbietet.

An meinem ersten richtigen Tag in Belo Horizonte bin ich nach einem leckeren Frühstück mit frisch gepresstem Saft, Avocado in Größe eines kleinen Kopfes und Vollkornbrot zusammen mit meiner Gastmutter zur Universität gefahren, um mich für meinen Portugiesisch-Kurs anzumelden.

Um mich einschreiben zu können, benötigte ich eine Art Steuernummer, genannt CPF. Diese zu bekommen war gar nicht so einfach, hat aber letztendlich gut geklappt. Dank der CPF konnten wir auch eine SIM-Karte für mich kaufen und als wir schließlich wieder zu Hause ankamen, waren wir erleichtert und erschöpft zugleich. Erschöpft war ich auch deshalb, weil ich den ganzen Tag nur Portugiesisch gesprochen habe. Dank meiner Spanischkenntnisse habe ich fast alles verstanden, das Sprechen war anfangs aber noch etwas bruchstückhaft.

Am Dienstag ging es dann für mich zum ersten Mal in die Schule. Dort wurde ich überaus herzlich willkommen geheißen, von diversen Lehrerkollegen ausgefragt und umarmt. In den folgenden zwei Wochen habe ich in jeder Klasse, die Deutsch lernt, eine Unterrichtstunde mit verschiedenen „Kennenlernaktivitäten“, die ich mir selber ausgedacht und auch vorbereitet hatte, durchgeführt.

Ich war selbst überrascht, wie viel Freude ich daran habe, vor einer Klasse zu stehen. Noch vor ein paar Jahren habe ich nur ungern vor vielen Menschen gesprochen, heute gehe ich regelrecht auf in dieser Aufgabe. Die harmonische Atmosphäre des Colégio Santo Antônio und im selben Maße die sehr netten Schüler, haben wohl dazu beigetragen.

Colégio Santo Antônio in der Rua Pernambuco

Von den Schülern der Klassen 6 und 7 habe ich zum Beispiel Willkommensbriefe geschenkt bekommen, die zum Teil sehr berührend waren. Gemein haben all diese Briefe aber, dass sie mich in umfassender Weise begrüßen und in ihrer Mitte aufnehmen wollen, sodass ich mich möglichst wohlfühle.

Aber auch die älteren Schüler sind sehr offen, haben ihre Hilfe angeboten und sprechen mich ebenso wie die kleinen immer auf dem Gang an, sodass ich mir manchmal wie ein Popstar vorkomme, wenn ganze Kinderscharen winkend und rufend auf mich zukommen.

Mit einer Klasse besonders taltentierter Deutschschüler aus dem vorletzten Jahr habe ich fast wie mit meinen deutschen Freunden über Politik, Klima-Aktivismus und Hobbys sprechen können. Ich war schwer beeindruckt von ihrem Sprachniveau, die zahlreichen Stipendien für Sprachkurse und Probestudiengänge in Deutschland sind mehr als gerechtfertigt.

Wenn meine Aktivitäten nicht die gesamte Unterrichtszeit eingenommen haben, durfte ich dem Lehrer/der Lehrerin beim regulären Unterricht assistieren, beispielsweise indem ich Hausaufgaben im Plenum korrigierte. Oder aber mir wurden zu allerlei Themen von Sprachen über Freund und Familie, bis zu Musikpräferenzen Löcher in den Bauch gefragt.

Vor ein paar Tagen durfte ich sogar in der Grundschule des CSA beim Schnupperunterricht in den fünften Klassen helfen. Die Kinder hatten zu diesem Zeitpunkt zumeist zum ersten Mal Kontakt mit der deutschen Sprache. Es war wirklich interessant zu beobachten, wie die Kinder ihre ersten Sätze lernten und beim Kahoot-Quiz über Deutschland völlig in ihrem Element waren, vor Freude über jede richtige Antwort lautstark aufschrien.

In Zukunft werde ich verstärkt Schüler auf die FIT-Prüfung des Goethe-Institutes vorbereiten, AGs und Projekte zu den Themen backen/kochen, herstellen von plastikfreien Produkten, Kultur, und Deutsch lernen anhand von Zitaten, Artikeln, Podcasts, Büchern und Kurzfilmen, die kreativ gestaltet werden. Des Weiteren werden ich mit den PASCH-Alumni Projekte umsetzen, vielleicht sogar eine Art Stammtisch einrichten.

Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern habe ich als offen und freundschaftliche empfunden. Besonders die jüngeren Schüler umarmen ihre Lehrer nicht selten oder fragen nach deren Privatleben.

Zum Schulsystem Brasiliens und zum Unterricht am CSA lässt sich sagen, dass sie im Allgemeinen härter und anstrengender sind, als ich es aus meiner Schulzeit gewohnt bin. Privatschulen wie das CSA setzen alles daran, die Kinder so früh wie möglich auf die Aufnahmeprüfungen der staatlichen Universitäten vorzubereiten. Das Paradoxe am Schulsystem in Brasilien ist, dass die staatlichen Schulen zwar meist schlechter sind als die privaten, die privaten Universitäten dagegen einen wesentlich schlechteren Ruf als die staatlichen genießen. Von unserem brasilianischen Trainer auf dem Vorbereitungsseminar, der selbst in den Favelas Sao Paulos aufgewachsen ist, haben wir erfahren, dass es die Menschen, die kein Geld für eine Privatschulen aufbringen können, schwerer haben, an einer staatlichen Uni aufgenommen zu werden. Sie müssen sich möglicherweise verschulden, um an einer privaten Uni studieren zu können.

Dieser sich selbst verstärkende Mechanismus des Klassismus hat mich erneut dazu veranlasst, meine Position und Privilegien kritisch in Augenschein zu nehmen, denn Chancengleichheit im Bildungssektor als Schlüssel zu einer egalitäreren Gesellschaft herrscht auch noch lange nicht in Deutschland. Darüber hinaus trägt unserer westliche Lebensweise in hohem Maße dazu bei, dass sie in Ländern des globalen Südens ebenso wenig umgesetzt werden kann.

In Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfungen der Universitäten arbeiten die Schüler hart. Der Unterricht findet in Schichten bis 19:00 statt und Prüfungen werden entweder freitagabends oder samstagmorgens geschrieben. Und dann nicht nur eine, sondern gleich vier oder fünf, die gleichzeitig ausgeteilt werden und dann in eigen gewählter Reihenfolge bearbeitet werden können.

Über die Unterrichtsweise im Allgemeinen kann ich mir nicht anmaßen, eine Aussage zu treffen, denn ich kenne ausschließlich den Deutschunterricht am CSA. Diesen habe ich als sehr lebendig empfunden. In Gruppen von maximal 20 Schülern kommt jeder zu Wort. Weiterhin kommen modernste Medien von Smartboard über Ipads bis zu Lernapps, neben dem klassischen Lehrbuch zum Einsatz.

Der Sprachkurs an der UFMG (Universidade Federal de Minas Gerais) gefällt mir ebenfalls sehr gut. Mit dem Bus fahre ich je nach Verkehr 40-50 Minuten dorthin. Meiner Erfahrung nach funktioniert das System des öffentlichen Nahverkehrs hier sehr gut. Mit Hilfe einer App kann man nicht nur ganz bequem die Fahrtzeiten prüfen, sondern auch die Buscard aufladen, die dann beim Einsteigen an einem Drehkreuz vorgezeigt wird. Auf einem Bildschirm wird der Restbetrag auf der Karte angezeigt.

An dieser Stelle möchte ich mir die Frage stellen, wieso es hätte anders sein sollen. Als westlich Sozialisierte neigen die Europäer und Nordamerikaner gerne dazu, den globalen Süden als weniger fortschrittlich, weniger zivilisiert oder chaotisch einzustufen. Dies ist ein deutliches Indiz für postkoloniale Kontinuitäten, für eingebrannte falsche Denkmuster. Also nochmal, woher nehme ich mir als Europäerin das Recht anzunehmend, dass der öffentliche Nahverkehr in Brasilien weniger organisiert ist als in Deutschland? Schließlich ist die DB in den letzten Jahren alles andere als pünktlich und organisiert gewesen. Des Weiteren können wohl die wenigsten Europäer von sich behaupten, dass sie über fundiertes Wissen über die Situation Brasiliens oder andere Länder des globalen Südens verfügen. Die Medienberichte über den globalen Süden sind in der westlichen Welt oft einseitig, zeigen nur das, was dem westlichen Blick auf die Welt entspricht oder ihn bestätigt.

Weiterhin ist Uber neben den Bussen ein weitverbreitetes und kostengünstiges Fortbewegungsmittel.

Bus nahe des Praca da Liberdade

Die Universität kommt mir vor wie eine Welt für sich. Der Bus braucht bestimmt zehn Minuten, um alle Fakultäten einmal anzufahren.

Viele Studenten tragen hier auch T-Shirts, die erkennen lassen, was sie studieren. Zudem ist der gesamte Campus sehr grün. Überall wachsen Palmen oder Pflanzen in allen erdenklichen Farben. Mir gefällt es sehr, die Uniluft zu schnuppern, bevor ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland selber anfangen werde zu studieren.

Der Kurs an sich ist hilfreich, aber ein wenig einfach. Toll ist allerdings, dass ich mit anderen Menschen, die sich in einer ähnlichen Lage wie ich befinden, in Kontakt komme. Des Weiteren ist die Lehrerin sehr engagiert. Weit mehr lerne ich aber  im Alltag. Vom ersten Tag an habe ich dank meiner Spanischkenntnisse sehr viel verstehen können. Insofern sehe ich den Kurs, bei dem ich seit ein paar Stunden als Übersetzerin und Assistentin der Lehrerin fungiere, als Möglichkeit zur Festigung der Grundkenntnisse.

Innenhof der Faculdade de Letras an der UFMG

Dass die Sprache der Schlüssel zu fast allem ist haben wir Freiwilligen nicht nur oft von Ehemaligen gehört, sondern das habe ich auch selbst sofort so empfunden. Deshalb war es mir wichtig, dass ich von Beginn an Portugiesisch spreche. Mit Lehrern und Gastfamilie habe ich anfangs eher einseitige Gespräche geführt, doch ich kann sagen, dass ich mich schnell in die Sprache hineingehört habe und positive Rückmeldungen dafür bekomme. Sei es mit den Kollegen, Schülern, der Familie oder bei der Anmeldung im Fitnessstudio, es klappt wirklich gut und es ist sehr motivierend, am eigenen Leib zu erfahren, wie schnell man Fortschritte in einer Sprache machen kann, wenn man nur in dem Land lebt, deren Amtssprache diese ist.

Im Hinblick auf die Vielfalt an kulturellen Angeboten wird mir in Belo Horizonte bestimmt nicht langweilig. Kinos, Museen, Märkte, Konzerte, Aufführungen und verschiedene Parks sorgen für ein ausgewogenes Kulturleben.

Bis jetzt habe ich ein Museum über „arte popular“, den Mercado Central, ein Konzert der Philharmonie, den Praca da Liberdade und den Parque das Mangabeiras besucht. All diese Orte und Plätze haben mich auf ihre Weise begeistert.

Im Museum haben mich die mir bisher unbekannten Formen und Farben der Kunstwerke in ihren Bann gezogen. Von Höhlenmalereien über indigene Netzkörbe und Holzschnitzereien, bis zu religiösen Szenen, nachgebildet in detailreicher Handarbeit aus Ton, bunten Keramikblumen, Stickereien und Graffitikunstwerken war alles vertreten und bot einen vielseitigen Blick auf die Diversität der brasilianischen Kulturszene.

Bunte Tütchen, die auf Festen verwendet werden

                                                                                    Der Mercado Central erinnert mich mit seiner erhabenen Architektur, den wohlorganisierten Ständen und der Vielfalt an leckeren Lebensmitteln an die Markthalle in Stuttgart. Angefangen bei allerlei Gewürzen, über Käse, Fleisch und Nüsse, bis hin zu einer unbeschreiblichen Auswahl an Obstsorten, werden hier alle Geschmäcker fündig. Viele Frucht- und Nusssorten habe ich in Europa bisher nicht gesehen und war dementsprechend neugierig sie zu probieren. Selbstverständlich gibt es auch Pao de queijo, neben Haushaltsgegenständen und Tieren auf dem Markt zu erwerben.

Der Parque das Mangabeiras bietet einen fantastischen Ausblick auf die Stadt auf der einen, und die Berge auf der anderen Seite.

Blick auf die Stadt und die Berge, die Belo Horizonte umrahmen

Auch der Praca da Liberdade läd zum Bleiben ein. Eine Palmenallee bildet das Zentrum des Platzes, der mit vielen Pflanzen und Sitzgelegenheiten bestückt ist. Umgeben ist der Platz von altehrwürdigen Gebäuden in Pastellfarben, ebenso wie von moderner Architektur.

Auch an dieser Stelle möchte ich innehalten und mir an die eigene Nase fassen, meine Gedankenmuster kritisch hinterfragen.

Wieso war ich auch hier überrascht und nicht wenig beeindruckt vom fortschrittlich-westlichen Stadtbild? Ich habe mich regelrecht ertappt gefühlt, als ich vor dem architektonisch sehr interessanten Konzerthaus stand und so etwas schlicht nicht erwartet hatte. Es ist deshalb unheimlich wichtig für mich, dass ich in Zukunft die Kunst-und Kulturszene, ebenso wie alle anderen Erfahrungen hier einfach auf mich zukommen lasse und genieße.

Gleichzeitig möchte ich hier auch die Frage nach der mangelnden Präsenz indigener Werte und Kulturszenen im modernen Stadtbild und dem erneuten Zusammenhang mit der westlichen Lebensweise in den Raum stellen.

Palmenallee am Praca da Liberdade

Straßenkunst an einem Bauzaun

Konzertsaal der Philharmonie

Zusammenfassend kann ich sagen, dass sich mein Alltag in Brasilien wenig von dem in Deutschland unterscheidet, abgesehen von meinem Rollenwechsel von der Schülerin zur Freiwilligen natürlich. Dank meiner Gastmutter habe ich schon viele neue vegetarische Gerichte kennengelernt und habe ihr im Gegenzug deutsche Speisen gezeigt.

Von all dem Trubel um Bolsonaro und die Waldbrände bekomme ich im Alltag wenig mit. Allerdings spüre ich trotzdem die Spaltung der Gesellschaft in zwei politische Lager, wenn auch nur unterschwellig.

Die Luft war in den ersten Wochen seht trocken und ab und an waren Aschefetzen sichtbar. Von Einheimischen habe ich aber erfahren, dass die Waldbrände um diese Jahreszeit normal seien, das Ausmaß aufgrund des fortschreitenden Klimawandels sei aber nichtsdestotrotz beunruhigend.

In meiner Freizeit lerne ich viel Portugiesisch, um mich noch besser verständigen zu können. Ich jogge gerne am Praca da Liberdade, besuche Kurse im Sportstudio, stöbere in kleinen nachhaltigen Läden oder schwimme zusammen mit meiner Gastmutter im Schwimmbad ihres Freizeitclubs, da öffentliche Bäder in Belo Horizonte leider nicht wirklich existieren.

Der Ausblick aus meinem Zimmerfenster

Ich freue mich unglaublich, hier sein zu können und bin dankbar für all die Menschen und die Erfahrungen, die ich machen darf. Allein in den letzten zwei Wochen habe ich eine Entwicklung in meiner Persönlichkeit in Richtung noch mehr Selbstständigkeit, Offenheit, Gelassenheit und mehr Selbstbewusstsein wahrgenommen.

In den kommenden Wochen werde ich an der UFMG die Proteste bezüglich der angestrebten Privatisierungen der Universitäten beobachten können, meine ersten Projekte umsetzen und auch Ausflüge in andere Gegenden machen können. Also, bleibt gespannt.

Liebe Grüße an alle, die das lesen. Ich vermisse euch trotz der tollen Erlebnisse hier sehr!

P.S. : Ich entschuldige mich dafür, dass das Tilde-Zeichen(~) und das c mit Cedille nicht zu sehen sind. Diese richtig zu verwenden, war mir aufgrund meines älteren Laptops nicht möglich.