Archiv für den Monat: November 2019

Já dois meses…

Nun bin ich schon zwei Monate hier, ganz weit weg von zuhause, die Zeit ist wie im Fluge vergangen. Inzwischen habe ich so etwas wie einen Alltag entwickelt. Und trotzdem, es gibt keinen Tag, an dem nichts Neues passiert, an dem ich nicht völlig neue Erfahrungen mache, sodass ich das Land jedes Mal aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann und immer neue Aspekte, neue Mosaikstücke dazukommen, die sich langsam zusammenfügen.

Vorletzten Montag habe ich beispielsweise eine Ausstellung von Paul Klee im Centro Cultural Banco do Brasil  besucht, die allein schon durch die deutschen Bildtitel und Videos im Kontrast zu den Museen stand, die ich bisher angeschaut habe. Auch in dieser Ausstellung war der Eintritt frei und ich habe den ganzen Nachmittag in Texten vertieft und Bilder bewundernd dort verbracht. Vielleicht haben auch die deutschen Worte, die ein Gefühl von Heimat in der Ferne hervorgerufen haben, dazu beigetragen, dass ich so begeistert von der Ausstellung war. Vor allem aber die philosophischen Interpretationsansätze zu den Werken ganz verschiedener Stilrichtungen haben mich fasziniert. Eines, das einen Seiltänzer darstellt und diesen mit der Fragilität des Lebens assoziiert, hat mich in seinen Bann gezogen. Aber auch die Bilder, in denen Klee die Nazi-Diktatur zu verarbeiten versuchte, ebenso wie ein toll gestaltetes Video, welches die verschiedenen Mal-und Zeichentechniken erklärte, haben mir sehr gefallen. Nachdem ich noch die Zitate Klees auf wellenförmigen Skulpturen im prachtvollen Innenhof auf mich wirken gelassen hatte, verließ ich das Museum inspiriert und beflügelt.

Das A2-Training, das ich in der vorletzten Woche nicht nur als Prüfungsvorbereitung für die älteren Schüler, sondern auch als Übung für die mündlichen Klausuren der Klassen 8 und 9 angeboten habe, ist inzwischen zur Routine geworden. Mit den älteren Schülern habe ich in Zweiter-Teams die Prüfung simuliert und Ausdrücke geübt, die bei Prüfern beliebt sind. Die jüngeren Schüler sollten entweder Fragen zu ihrer Person beantworten beziehungsweise einem Mitschüler stellen oder etwas über ihr Leben erzählen. Einige Schüler hatten große Probleme damit, frei zu sprechen, denn mit nur zwei Wochenstunden haben Sprachen im brasilianischen Lehrplan leider keine Priorität. Ich habe mir deshalb die Zeit genommen, zu jeder möglichen Frage, die in der Prüfung oder Klassenarbeit vorkommen könnte, einfache Sätze zu formulieren und den Schülern auf diese Weise hilfreiche Phrasen an die Hand zu geben.

Mit einer Freundin war ich neulich im Kino. Wir haben den Film „Joker“ angeschaut, der grob zusammengefasst von einem psychisch Kranken und der Kritik an der Klassengesellschaft handelt. Während ich so im Kinosessel saß musste ich unweigerlich daran denken, wie ausgeprägt die gesellschaftlichen Unterschiede in Brasilien sind und, dass auch ich Teil derer bin, diese weiter verstärke wenn ich in der Shoppingmall im noblen Kino bin, während draußen so viele Menschen kein Dach über dem Kopf haben.

Mit meiner Portugiesisch-Lehrerin habe ich mich vorletzte Woche das erste Mal zum Englischunterricht getroffen. Bei Sonnenschein saßen wir gemütlich in einem Café am Praca da Liberdade und haben zunächst über uns und unser Leben geredet, bevor wir uns den Texten zur „ambiguity of belonging“ zuwandten. Es war eine lustige Erfahrung die Sprache zu wechseln und das Gespräch auf Englisch zu führen, verstärkte aber das tolle Gefühl von gelebter Mehrsprachigkeit, das ich hier schon öfter erleben durfte.

Das Thema der Identität und der Ambiguität ist vor allem im 21. Jahrhundert hochaktuell, betrifft jeden von uns. Deshalb war es besonders spannend vom Uni-Leben, oberflächlichen Freundschaften und Familienzusammenhalt in der brasilianischen Leistungsgesellschaft zu hören. Das Jahr in Belo Horizonte wird jedenfalls ein weiteres Puzzlestück meiner Identität bilden und mir neue „coping strategies“, neues Selbstvertrauen und Gelassenheit schenken. Zum Glück treffen wir uns auch in Zukunft wöchentlich zum Lernen, denn der Sprachkurs an der UFMG endete letzte Woche. Mit einem persönlichen Abschiedstext verabschiedete die Lehrerin die anderen Teilnehmer und mich. Auch wenn der Kurs meiner Meinung nach ein wenig zu leicht war, werde ich besonders die multikulturelle und lustige Gruppe vermissen.

Für meine Weihnachtsprojekte habe ich vor kurzem Plätzchen gebacken. Die Zutaten dafür zu bekommen gestaltete sich schwieriger als erwartet. So bin ich zwischen den Supermarktregalen umhergestreift und fand letztendlich Puderzucker, der ganz anders als der mir bekannte aussah und leider keine gemahlenen Haselnüsse. Laut meiner Gastmutter gibt es einen Laden, der allerlei Nüsse gemahlen verkauft. Beim nächsten Backen werde ich dort auf jeden Fall vorbeischauen, denn das Zerkleinern der Nüsse hat meinen Gastvater und mich ganz schön eingespannt. Beim Backen kam aber trotz aller Schwierigkeiten Weihnachtsstimmung auf und das Endergebnis war nicht schlechter als in Deutschland.

Ebenfalls für die Projekte habe ich Weihnachtskarten in verschiedensten Ausführungen und kleine Geschenkboxen als Demonstrationsobjekte vorbereitet. Des Weiteren habe ich ein Winter-und Weihnachtsquiz beziehungsweise Activity-Spiel erstellt. Beim Basteln der Spielkarten, des Spielfeldes und des Würfels kam ich wie immer beim Selbermachen total zur Ruhe, die Arbeiten erinnerten mich sehr ans Geschenke basteln in der Vorweihnachtszeit. Obwohl ich erst am Freitag vor Beginn der Projekte erfuhr, dass ich diese nun machen sollte, empfand ich keinerlei Stress, sondern genoss nicht zuletzt dank der hier gewonnenen Gelassenheit die Vorbereitungen.

Spielfeld, Karten und Winter-und Weihnachtsvokabeln

In der folgenden Woche führte ich dann zwei der Projekte mit den Klassen 6 und 7 beziehungsweise 9 und 10 durch. Das Activity-Spiel war nicht nur für die Schüler eine willkommene Abwechslung, auch ich hatte viel Spaß und konnte weitere wertvolle Erfahrungen sammeln. Ich war den Großteil der Zeit alleine mit den Klassen, habe sie zunächst in Gruppen eingeteilt, das Spiel erklärt und dann mit ihnen über die lustigen Pantomime-Darstellungen, Zeichnungen und rudimentären Erklärungen der Winter-und Weihnachtsvokabeln gelacht. Das Team, das die meisten Worte der Vokabelliste richtig erkannt hat, bekam Plätzchen. Zu meiner Freude haben viele Schüler nach dem Rezept gefragt und sich in die Workshop-Listen fürs Plätzchenbacken und Weihnachtsgeschenke basteln in Dezember, also in ihrer Ferienzeit, eingetragen.

Aber auch das Basteln mit den jüngeren Schülern war wirklich toll. Zunächst erklärte ich auf Portugiesisch- da ihre Deutschkenntnisse dafür noch nicht ausreichen- was sie machen sollen, wies darauf hin Papier zu sparen und verteilte die Materialien, von denen ich selbst auch viele mitgebracht hatte. Bei Weihnachtsmusik im Hintergrund half ich beim Geschenkboxen- und Kartenbasteln, in deren Herstellung auch die Jungs ganz vertieft waren. Die Kleinen sind wirklich sehr süß, kamen nicht selten zu mir und umarmten mich, lobten mein Portugiesisch und sagten Dinge wie: „Du bist toll!“ oder: „Können das alle in Deutschland so gut?“. Die Kunstwerke der Schüler sind klasse geworden, ich denke die Familien können sich in diesem Jahr auf besondere Geschenke freuen. Auf das geplante wöchentliche Kreativprojekt im nächsten Jahr blicke ich schon mit Vorfreude.

Auch außerhalb des Deutschunterrichts habe ich an der Schule zu tun. Mehrere Lehrer anderer Fächer haben mich zu sich in den Unterricht eingeladen und mit einem Geographielehrer, der auch an der Uni arbeitet, traf ich mich bereits zweimal, um ihm bei einem Projekt über den Geographieunterricht in Deutschland und den Einfluss deutscher Geographen zu unterstützen. Bei diesen Gesprächen merkte ich, wie toll es ist, über komplexe Themen und Unterrichtsinhalte in einer neuen Sprache sprechen zu können. In den kommenden Wochen werden wir des Weiteren mit meiner Geographielehrerin aus Heidelberg per Videoanruf tiefer in die Materie einsteigen und Einheiten über Geographie in Deutschland für den Deutschunterricht hier planen. Im kommenden Jahr werde ich diesen Lehrer auch auf Ausflüge in periphere Gegenden im Sinne der Begegnung verschiedener Lebensrealitäten begleiten.

Im Fitnessstudio hier, das ich nur besuche, weil es dort ein Schwimmbad und tolle Kurse gibt, fallen mir nicht selten minimale kulturelle Feinheiten auf. Beispielsweise wenn ich mit rotem Kopf aus dem 30°C warmen Wasser des Sportbeckens herauskomme. Weiterhin arbeite ich an meinen Kopfstandfertigkeiten und Tanzschritten oder jogge die nicht zu enden scheinenden bergigen Straßen hinauf. Die Aussicht von oben gleicht die Anstrengungen aber mehr als aus.

Was mich sehr überrascht hat ist, dass, abgesehen von einem kleinen Feuerwerk, von der Freilassung des Ex-Präsidenten Lula aus dem Gefängnis im Alltag so gar nichts zu spüren ist. Das Thema Politik, das die Gesellschaft, sogar Familien in Lager spaltet, wird meiner Erfahrung nach leider selten erwähnt, lieber ignoriert. Viel präsenter sind stattdessen weitere Feste in der Nachbarschaft. Sonntags mehrere Stunden Samba-Musik in voller Lautstärke zu hören, ist für mich keine Seltenheit mehr.

Ansonsten war ich erneut mit einigen Jungs des CSA zu Mittag essen und weiterer Treffen sind bereits geplant. Bei leckerem Essen quatschen wir meist über Musik, Universitäten, Sprichwörter und kulturelle Unterschiede. Wenn einer der Jungs Texte von Materia oder anderen deutschen Sängern fehlerfrei vorsingt, haben wir alle etwas zu Staunen und Lachen. Da sie alle ein Studium in Deutschland anstreben hoffe ich, dass der Kontakt zwischen uns auch nach dem Jahr aufrecht erhalten werden kann.

Die vegane kulinarische Szene Belo Horizontes habe ich dank einer Alumna, die Biologie studiert und am CSA beim Unterricht hilft, kennengelernt. Nachdem wir noch zwei andere Mädels abgeholt hatten, bot sich uns bei der Fahrt ein spektakulärer Blick auf die Stadt bei Nacht und einen rotschimmernden Vollmond. Die wirklich enorm steilen Straßen der Stadt stellen für Fahranfänger eine richtige Herausforderung dar und wären meiner Meinung nach besser zum Schlitten-; als zum Autofahren geeignet. Bei netten Gesprächen über die Uni, meine Arbeit, Sprachen, Schulfreundschaften und Partys probierten wir uns durch die köstlichen veganen Pizzasorten, die uns wie am Fließband von einem sehr lustigen Kellner serviert wurden. Es war ein wahrer Kampf mit dem Essen aufhören zu dürfen und die süßen Pizzasorten abzulehnen.

Nach meiner letzten Sprachkursstunde, die eine Prüfung beinhaltete, traf ich mich am Folgetag erneut an der UFMG mit dem Mädchen. Ich hatte ein stereotypisch schlechtes Gewissen als ich bemerkte, dass die Prüfung 20 Minuten später endete, als geplant. Am Treffpunkt angekommen merkte ich aber nicht zum ersten Mal, dass ich mir diesbezüglich wenig Gedanken zu machen brauche, eine weitere Lektion in Sachen Gelassenheit.

Die Mädels zeigten mir ihre Biologie-Fakultät, deren Anblick mich innerlich zum Schmunzeln brachte. Ein Hippiemarkt im Innenhof, Farbtöpfe für Wandgemälde von Tieren, Vegan-Sticker und allerlei Pflanzensorten zierten die Szene von kartenspielenden und rauchenden Studenten, die mich allesamt freundlich empfingen. Wir blieben aber nur kurz, da die Arbeit in der Schule wartete. Die Rückfahrt zum CSA in einer Fahrgemeinschaft war eine unglaublich bereichernde Erfahrung. Wie sich herausstellte lernten außer der Alumna noch zwei der anderen drei Mitfahrenden Deutsch. Als ich ihnen nach einigen Worten, die sie auf Deutsch austauschten mitteilte, dass ich aus Deutschland komme, war das Erstaunen groß. Danach hatten wir allerdings viel Spaß daran, über die Uni, die Freiwilligenarbeit, deutsches Bier und brasilianische Getränke sowie verschiedene Sprachen zu plaudern. Als wir ausstiegen meinte das Mädchen zu mir, dass sie diese Fahrgemeinschaften liebt weil man immer mit netten Leuten ins Gespräch komme. Ich für meinen Teil konnte ihr nur grinsend beipflichten. Für mich war es nicht zuletzt schön zu sehen, wie in so einem Mikrokosmos gesellschaftliches Zusammenleben in großem Stil möglich ist.

Vergangenes Wochenende bin ich mit meiner Gastfamilie erneut nach Buenópolis gefahren. Der zweite Besuch war nicht weniger beeindruckend und ereignisreich als beim ersten Mal. Nach unserer Ankunft besuchten wir zunächst das Anwesen von Luís. Begrüßt wurde ich dieses Mal vom Schwein Presidente, das mir schnüffelnd hinterherlief und schließlich eingesperrt werden musste, weil es zu anhänglich war.

Die frei herumlaufenden Gänse, Hühner, Schildkröten und anderen Tiere, ebenso wie die prachtvollen Pflanzen genoss ich wie beim letzten Besuch. Den Nachmittag verbrachten wir schwimmend und Mango futternd. Die Enkelin von Luís war auch da. Mit ihr spielte ich ein wenig, bevor wir durch die Straßen spazierten und schließlich im bereits bekannten Restaurant zu Abend aßen.

Am nächsten Morgen folgten meine Gasteltern und ich zunächst den Eisenbahnschienen und wurden von zwei wild lebenden Pferden auf unserem Weg begleitet.

Im Anschluss fuhren wir auf die Fazenda. Dank des Regens am Vortag war der Weg durch die Serra  glücklicherweise wenig staubig. Dort angekommen bewunderten wir erst die Kürbisplantagen und aßen erneut einige Mangos, bevor wir die Pferde sattelten und uns auf den Weg zum Wasserfall machten. Der Ritt dauerte gut zwei Stunden und führte uns durch die weitläufige Serra mit ihren riesigen Weiden voller grasender Kühe und Pferde, die Berge im Hintergrund. Während ich meinen Blick nur ungern von der Landschaft losreißen konnte quatschte ich mit der Freundin von Luís Carlos, dem Sohn von Luís, über ihr Modegeschäft und verschiedene Reisen. Je länger wir so im Westernstil dahinritten, desto fester saß ich wortwörtlich aber auch sprichwörtlich im Sattel. In der Sprache und der brasilianischen Kultur fühle ich mich immer sicherer und gewinne tagtäglich Selbstvertrauen.

In Curimataí angekommen fühlte ich mich wie in einer Wild West Szene. Laut meinem Gastvater sei das dort „o fim do mundo quente“. Über 400 Pferde und Reiter versammelten sich in dem kleinen Ort zum alljährlichen Pferdetreffen und während wir in einem rustikalen Restaurant ein für die Region typisches Mittagessen bestehend aus feijao, arroz, ovo, batata rústica und chuchu aßen, stolzierte die Pferdeparade draußen vorbei.

Im Anschluss liefen meine Gasteltern und ich zu dem nahegelegene Wasserfall. Wir badeten in dem erfrischend kalten Wasser und genossen das gleichwohl warme Wasser direkt auf den Steinen und den spektakulären Ausblick.

Nachdem wir geduscht hatten sind wir auf eine Art Dorffest zu Ehren der neuen Kapelle gegangen. Dabei wurden wir ziemlich eingeräuchert, denn nebenan wurden gerade die Reste des Zuckerrohrs der Cachaca-Herstellung verbrannt. Zu Abend aßen wir natürlich erneut in dem einen guten Restaurant der Stadt. Maniok und ein Gespräch über den Winter in Deutschland und den Unterschied zwischen Studenten in Deutschland, die im Gegensatz zu den brasilianischen nur in seltenen Fällen noch zu Hause wohnen, rundeten den Tag ab.

Am nächsten Morgen statteten wir uns noch mit ausreichend Mangos, Gemüse und Eiern aus, bevor wir uns auf den Rückweg machten, auf dem meine Gasteltern mir noch wertvolle Tipps und Ideen für weitere Reiseziele in der Nähe gaben.

Zuhause hatte ich nur Zeit meine Sachen umzupacken und zu duschen, bevor ich mich auch schon auf den Weg nach Sao Paulo zum Zwischenseminar machte. Gegen halb elf abends fuhr ich mit dem Taxi zum Busbahnhof, wo ich nach einem kurzen Zeigen des Tickets in Form eines Kassenzettels zum Abfahrtssteig durfte. Dort realisierte ich, dass um diese Uhrzeit Busse im Viertelstunden-Takt nach Sao Paulo fahren. Nachdem ich meinen Bus gefunden und mein Gepäck verladen hatte stieg ich nach den Grußworten: „Pass gut auf dich auf!“ des Fahrers in den Bus ein. Die Sitze, die der portugiesischen Bezeichnung „poltrona“, also Sessel, absolut gerecht werden, haben für eine angenehme Fahrt gesorgt. Flixbus und co. sollten sich von diesem Comfort meiner Meinung nach eine Scheibe abschneiden. Der Bus legte zwei Stopps an eigens dafür gebauten Halteplätzen für unzählige Fernbusse ein. Dort gab es leckeres Essen, Snacks, Souvenirs und saubere Toiletten. Während der Fahrt hat sich die Vegetation des Weiteren sehr verändert. Der eisenhaltige Boden aus Minas hat einem feuchteren Klima und zum Teil alpenähnlichen Wiesen- und Waldlandschaften Platz gemacht.

Während der Fahrt von Belo Horizonte nach Sao Paulo

In Sao Paulo angekommen hatte ich wenig Zeit mich am großen Busbahnhof Tietê zurechtzufinden. Gerade noch rechtzeitig gelang es mir beim richtigen Anbieter ein Ticket zu kaufen und den Flughafenshuttle zu finden. Am Flughafen traf ich dann alle anderen Freiwilligen aus Brasilien, Uruguay und Bolivien. Nach weiteren 1 1/2 Stunden Fahrt, während der wir erste Erfahrungswerte austauschten, kamen wir in unserer Unterkunft „busca vida“ an, einem absoluten Naturparadies mit einem alternativen, scheinbar wild zusammengewürfelten aber unglaublich liebevoll ausgewählten Mobiliar. Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl in einem großen Kunstwerk zu wohnen und entdeckte ständig neue Details und gemütliche Ecken.

Die Besitzer, ein junges Pärchen mit ihrem Sohn Gamma und weiteren Familienmitgliedern, haben allesamt eine unglaublich liebevolle und energiegeladene Ausstrahlung. Wir waren ihre erste richtige Gruppe. Sie sprachen davon, wie wichtig es ihnen sei diesen Ort, in den sie sich so verliebt hätten, mit anderen Menschen zu teilen, die Naturverbundenheit und Ruhe zu verbreiten. Nachdem wir unsere Zimmer bezogen hatten, die vollständig aus Naturmaterialien gebaut sind und das Gefühl vermitteln in und mit der Natur zu leben, trafen wir uns zum Begrüßungskreis. Vom Vorbereitungsseminar kannten wir Freiwilligen aus Brasilien bereits die Methoden unseres Trainers. Die Energizer aus dem Theater der Unterdrückten, ebenso wie das minutenlange in-die-Augen-Schauen mit noch fremden Personen trugen aber wie schon beim letzten Mal zu einer schöner Begegnung zwischen Menschen auf Augenhöhe bei und ließ mich erneut realisieren, dass eben dieses sich Zeit nehmen und intentionslose Anschauen und Sehen eines Menschen im Alltagstrott verloren geht.

Das Essen dort war ein wahrer Luxus. Alle Gerichte waren vegan oder vegetarisch, mit Liebe zubereitet und wirklich lecker, sodass wir alle nicht umhin kamen uns ständig auf die nächste Mahlzeit zu freuen. Das Bananenbrot, vegane Aufstriche, verschiedene Kuchen, veganes Brot, traditionelle Gerichte wie Tapioca mit Guacamole und Kichererbsenmus, feijao oder leckere Gemüsequiche- und Bratlinge werden wir sehr vermissen.

Wie auch schon auf dem Vorbereitungsseminar schätze ich die harmonische Atmosphäre, die Zeit zum Reflektieren und den wirklich erstaunlichen Effekt der Abgeschiedenheit, der zu einem Mikrokosmos der Offenheit und Vertrautheit beitrug. Dieses Gefühl ermöglichte beispielsweise ein dreistündiges, sehr intensives Gespräch mit einem mir vorher unbekannten Mädchen, eingekuschelt in einer Hängematte. Auch das amigo/a-secreto/a-Spiel sorgte für ein liebevolles Miteinander mit kleinen Zetteln, netten Botschaften und Gesten. Gleichzeitig bildete das Mörder-Spiel, bei dem man der entsprechenden Person einen Gegenstand in die Hand geben muss wenn man alleine, beziehungsweise nur von bereits Toten umgeben ist, einen lustigen Kontrast.

Im wunderbar kreativ eingerichteten Theater hatten wir Raum für tolle Gespräche, kritische Diskussionen über Kulturweit und unsere Privilegien, ebenso wie die Möglichkeit zum Austausch mit Leuten, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden.

Die Natur um uns lud zum Joggen, Yoga zwischen Papageien und tropischen Pflanzen oder Schwimmen im See ein. Der Respekt und achtsame Umgang mit unserer Umgebung war auch im Hinblick auf giftige Spinnen, Schlangen im Bad oder auf dem Weg oder Skorpione im Feuerholz wichtig. Das anfänglich mulmige Gefühl legte sich allerdings schnell und wich einem stets bewussten Blick für unser Umfeld.

Am Mittwoch machten wir einen Ausflug anlässlich des „dia da consciência negra“ in die nahegelegene Kleinstadt Braganca Paulista. Dort erwartete uns ein lebendiger Festplatz, der neben Capoeira-Vorstellungen und leckerem Essen auch Zumba und musikalische Beiträge zu bieten hatte. Nachdem ich mit ein paar Mädels über den lokalen Wochenmarkt geschlendert bin und wir riesige Maracujas oder Zuckerrohrsaft probiert hatten, unterhielten wir uns mit Einheimischen. Erneut zum Nachdenken und kritischen Hinterfragen angeregt hat uns die Begrüßung und Ankündigung unseres Besuches im großen Stil auf diesem Fest, das doch eigentlich Raum zum Publikmachen der Probleme Schwarzer in der brasilianischen Gesellschaft bieten sollte. Einerseits sind Begegnungen und Allianzbildungen zwischen Schwarzen und Weißen im Hinblick auf eine Änderung des Staus quo unerlässlich, andererseits fühlten wir Freiwillige uns nicht wohl damit, im Mittelpunkt des Bewusstseinstages zu stehen.

Der Vortrag über Rassismus in Brasilien, der beispielsweise aufzeigte, dass unter 4705 Universitätslehrern an der Universidade de Sao Paulo gerade mal vier schwarze Lehrer sind, gefolgt von einem Musik-und Tanzworkshop afro-brasilianischer Kultur waren ganz besondere Erfahrungen. Nach anfänglicher Schüchternheit gaben wir uns mit der Zeit immer mehr den neuen Klängen und Bewegungen hin und ich für meinen Teil hatte unglaublich viel Spaß beim Ausprobieren der Schritte, die unter anderem der Jagd mit Pfeil und Bogen nachempfunden waren.

Verschwitzt aber aufgelockert vom Tanzen wanderten wir im Anschluss in Flipflops einen Hügel hinauf. Die atemberaubende Aussicht über die Seenplatte und die Berge im Hintergrund lohnte sich aber absolut. Ein alter Käfer im Baum und ein spektakulärer Fels von dem wir im Chor Anti-Bolsonaro-Parolen riefen, werde ich so schnell nicht vergessen.

Am Lagerfeuer abends wichtelten wir und tauschten Zuneigung aus, die wir alle deutlich spürbar vermissen. Sich liebevoll zu knuddeln und in den Arm zu nehmen tat unglaublich gut und ist auch wieder auf diese Atmosphäre des sicheren und harmonischen Mikrokosmos zurückzuführen.

Am nächsten Tag hatten wir zunächst Zeit Projektideen auszutauschen und auszuarbeiten, bevor wir einem Referenten der Schwarzen-Bewegung Sao Paulos bei seinem Vortrag über die Entstehung und Geschichte des Rassismus in Brasilien lauschten. Die anschließende Diskussion über die derzeitige politische Situation, über Privilegien und Diskriminierung war ebenso aufschlussreich. Laut Referent sei es enorm wichtig, dass sich Menschen zunächst ihres Schwarzseins bewusst werden, dieses akzeptieren, um zusammenzuarbeiten und auch mit Weißen Allianzen zu bilden, die an der Macht sind. Der Grund für die unzulängliche gegenseitige Hilfe unter Schwarzen liege vor allem darin, dass sie sich untereinander nicht in die Augen sehen weil sie im Gegenüber ihr Spiegelbild sähen, dass sie aus Selbsthass nicht als Schwarz akzeptieren wollen. An dieser Stelle sind die Begegnung auf Augenhöhe und der gegenseitige Respekt von höchster Wichtigkeit.

Nach einem leckeren Abendessen wurden wir von einer Theatersequenz über indigene Leiden in der brasilianischen Gesellschaft überrascht. Die Schauspielerin stellte Fragmente aus ihren 30 Jahren Erfahrung im Gesundheitswesen dar. Die Fragmente thematisierten das Zerstören und Niederbrennen indigener Dörfer, das Wegnehmen ihrer Kinder, Kämpfe um Land, das von großen Firmen im Namen des Profits weggenommen wird, AIDS, Flucht und Tod auf dem Arbeitsweg. Im metaphorischen Fluss wusch sie das Blut des Genozids, der verseuchten Kleider, die nach wie vor Realität seien, aus. Ihre Verkleidung, ebenso wie ihr mitgebrachtes Wägelchen erinnerten an ein Leben auf der Straße, an Prostitution aber auch an die Kraft der Elemente. Die anschließende Musik einer einheimischen Band, ebenso wie die neuen Tanzschritte, die wir von ihnen lernten, sorgten dafür, dass das schwer im Magen liegende Thema vom Theaterstück auf lebendige Weise verarbeitet werden konnte. Wir gaben uns an diesem Abend voll der Musik hin und bestaunten die elefengleichen Bewegungen der Besitzerin des Seminarorts mit einem Hula-Hoop-Reifen.

Auf diesem Seminar realisierte ich wie dankbar ich für meine Situation sein sollte. Ich kann mich über keinerlei ernsthafte Probleme beklagen, was die Einsatzstelle, die Wohnsituation, die Sprache oder die politische Lage angeht. Wie gut ich die Sprach inzwischen beherrsche merkte ich zuletzt beim Übersetzten des Theaterstücks für die anderen. Während sich einige Freiwillige schwertun einheimische Gleichaltrige kennenzulernen oder wenn die Einsatzstelle ihnen entweder zu viel abverlangt oder sie sich wenig sinnvoll vorkommen, bin ich umso glücklicher über die Menschen in meinem Umfeld in Belo Horizonte.

Am letzten Tag pflanzten wir jeweils zu zweit Araukarien in Erinnerung an unserer Zeit am Seminarort. Die Trennung von den anderen Freiwilligen nach dieser intensiven Zeit war surreal und hart. Nachdem wir den Mädels aus Bolivien und Uruguay noch Acaí gezeigt hatten verabschiedete ich mich von den liebgewonnen Menschen, die meine Lage nachvollziehen können wie es keine Freunde oder Familienmitglieder in Deutschland vermögen. Das Zwischenseminar bot Raum für Erholung und Reflexion und sorgte dank der Atmosphäre von Vertrautheit für neue Inspiration und Motivation.

Liebe Grüße!

 

 

 

 

 

 

 

 

A vida cultural

„Parabéns! Glückwunsch, wenn dich ein Deutscher zu sich nach Hause einlädt!“, berichtete ein Schüler neulich während eines Gesprächs über kulturelle Unterschiede beim Mittagessen, über seine Erfahrungen in Deutschland. Er reagierte damit auf meine Verwunderung darüber, dass mich eine junge Frau aus dem Fitnessstudio, die ich gerade mal zehn Minuten kannte, in ihr Restaurant eingeladen hat. Sie hatte mich beim Tanzen angesprochen und nachdem wir in den kurzen Pausen zwischen den Liedern Gelegenheit hatten, uns ein wenig kennenzulernen, hat sie mich mit den Worten: „Depois, vamos marcar um dia !“ verabschiedet. Auf dem Nachhauseweg fuhr sie mit heruntergelassener Scheibe an mir vorbei und rief mir winkend „Oi, Leah!“ zu.

Diese Offenheit und Gastfreundschaft ist mir zu diesem Zeitpunkt nicht zum ersten Mal begegnet, gleichwohl dauerte es seine Zeit, bis ich mich an die Umarmungen, Einladungen und zwanglosen Gespräche gewöhnte.

Vor Kurzem kam ich auf der Rückfahrt von der Universität im Bus mit einer Frau ins Gespräch, als wir uns beide stöhnend über die Hitze und den Stau beklagten. Eine gute halbe Stunde später, als sie ausstieg, hatten wir ein tolles Gespräch über Bildungsungleichheit, Rassismus und Freiwilligenarbeit geführt.

Beim Stöbern in einem der vielen Läden mit nachhaltiger Mode sprach mich die Verkäuferin  auf meine Herkunft an. Wie sich herausstellte, arbeitet ihr Mann in einer deutschen Firma und würde gerne Deutsch lernen. Dies resultierte im gegenseitigen Austausch der Kontaktdaten und einer netten Unterhaltung.

Begegnungen wie diese, sei es in Cafés, Läden oder beim Sport, zaubern mir jedes Mal ein Lächeln aufs Gesicht und regen mich zum Nachdenken darüber an, dass diese Art des gegenseitigen Umgangs unglaublich wertvoll ist, dass diese Art der aufgeschlossenen und ehrlich interessierten Begegnung die Essenz des Zwischenmenschlichen Kontakts, gar gesellschaftlicher Werte im Allgemeinen ausmacht.

Sonnenuntergang – ein kurzes Vergnügen in Regionen mit Äquatornähe

Um nochmal auf die kulturellen Unterschiede zurückzukommen, möchte ich an dieser Stelle von einem interessanten Erlebnis am letzten Sonntagabend erzählen. Gegen 18 Uhr war wie aus dem Nichts enorm laute Musik zu hören, die wie sich herausstellte, von einer Überraschungsparty auf der Straße stammte. Aus dem Fenster konnten wir ein Auto mit Blinklichtern und Stereoanlage im Kofferraum, umgeben von einer Menschenmenge, die einem Mann mit Mikrofon lauschte, beobachten. Es ist nicht übertrieben wenn ich sage, dass man die Musik und die Rede noch drei Häuserblocks weiter gut hätte hören können. Meine Gasteltern meinten dazu nur kopfschüttelnd, dass viele Brasilianer wenig Rücksicht nähmen, wenn es um den eigene Spaß ginge und, dass diese Art der Geburtstagsüberraschung doch längst „fora da moda“ sei.

Ich konnte über diese Situation eigentlich nur lachen, vor allem wenn ich daran dachte, wie schnell in meinem Heimatdorf eine Beschwerde wegen Lärmschutz eingereicht geworden wäre. Nach einer halben Stunde waren wohl alle Anwohner erleichtert, endlich wieder ihre Ruhe zu haben, nicht zuletzt da die Musik alles andere als geschmackvoll war.

Mit einer Gruppe besonders interessierter Deutschschüler habe ich mich inzwischen mehrmals getroffen und würde sie nun eher als Freunde bezeichnen. Mit einem Mädchen war ich in einem Freizeitpark im Stadtviertel Pampulha, das neben viel Grün auch über einen großen See, umgeben von vielerlei Gebäuden mit kultureller Bedeutung verfügt.

Kirche, See und Fußballstadion im Stadtviertel Pampulha

Auch wenn die Boxautos, die Achterbahn oder Schiffschaukel eher für kleinere Kinder gedacht sind, besuchen viele ältere Jugendliche den Park und auch wir hatten unseren Spaß. Zwischendurch unterhielten wir uns über unsere Schulen, Klassenfahrten und Freunde und ich probierte das in Brasilien sehr bekannte Getränk „Guaraná“.

Vor ein paar Tagen war ich dann bei dieser Freundin zu Besuch. Während wir Tee tranken und Pao de queijo aßen, führten wir unser Gespräch über die Unterschiede der Schulsysteme, Bücher und kulturelle Gegebenheiten fort. Zu meiner großen Freude kann ich mich inzwischen mit meinen brasilianischen Freunden ganz normal auf Portugiesisch unterhalten. Zusammen haben wir auch einen Bananenkuchen gebacken, bei dessen Herstellung ich feststellen musste, dass brasilianische Rezepte für gewöhnlich keine Gramm- oder Milliliter-Angaben beinhalten, sondern stattdessen Mengenangaben in Tassen oder Löffeln angeben. Wir mussten deshalb ein wenig improvisieren, als wir das deutsche Rezept in Tassen-Einheiten umwandelten. Der Kuchen ist uns glücklicherweise trotzdem gelungen und beim gemeinsamen Pizzaessen mit der ganzen Familie kam ich erneut in den Genuss der Selbstverständlichkeit der Gastfreundschaft. Ein Verwandter der Familie ist Schwede. Da mir mein Ruf als Schweden-Liebhaberin vorauseilt, wurde ich sogleich für den Tag, an dem dieser zu Besuch kommt, eingeladen.

Auf dem Nachhauseweg – im Auto – lernte ich des Weiteren nicht zum ersten Mal die Sicherheitslage und die Freiheiten in Deutschland zu schätzen. Nach Einbruch der Dunkelheit, also gegen halb sieben, sollte ich laut Einheimischen, wenn es nicht unbedingt sein muss, nicht alleine durch die Straßen laufen, die tagsüber aber total sicher und unbedenklich sind.

Das Privileg auf der „richtigen Seite des Wechselkurses“ zu stehen bekomme ich vor allem in den Kilo-Restaurants zu spüren. Mit ein paar deutschlernenden Freunden und auch ein paar anderen Jungen des CSA war ich vorgestern zusammen essen. Wir hatten viel Spaß, probierten uns an Zungenbrechern in verschiedenen Sprachen, redeten über Politik und ich musste feststellen, dass einer der Jungs mehr deutsche Lieder kennt als ich. Trotz meines vollen Tellers kostete mich das Essen umgerechnet gerade einmal zwei Euro, was für mich natürlich toll ist. Wenn ich allerdings daran denke, dass mein Ansprechpartner am CSA mir erzählt hat, dass er aufgrund des schwachen Real nicht mit seiner Familie nach Deutschland fliegen kann und dass viele Produkte für alle Brasilianer spürbar teurer werden, dann wird mir die Ambivalenz meiner Situation und Position wieder einmal deutlich.

Mit einer anderen Freundin war ich letzte Woche auf einem großen Flohmarkt, der wöchentlichen „feira hippie“, der in einer der vielen am Sonntag für Autos gesperrten Straßen stattfindet. Wir schlenderten durch die nicht zu enden scheinenden Gässchen aus Ständen, die Schuhe, Schmuck, Kleidung, Essen und Kunstgegenstände anbieten.

Bummeln bei schönstem Wetter

Zwischendurch lauschten wir der Straßenmusik mit traditionellen Instrumenten und bestaunten tanzende Menschengruppen, die ihren Sonntag gutgelaunt genossen. Im angrenzenden Parque Municipal hörten wir noch einem Samba-Konzert zu und redeten über unsere Zukunftsträume.

Auf dem Weg zurück, bestückt mit einer Kette mit bunten Perlen, die für mich das lockere und unbeschwert scheinende Lebensgefühl Brasiliens symbolisiert, dachte ich schmunzelnd an die vielen Samba tanzenden Menschen in den Straßen zurück. Dieses Lebensgefühl spiegelt sich in meinen Augen auch in der Fähigkeit wider, trotz schwieriger Lebensrealitäten das Bunte ins Leben hereinzulassen. Der Weg zur Uni führt mich beispielsweise an ärmeren Vierteln mit schwerwiegenden sozio-politischen Problemen vorbei. Bäume, verziert mit Girlanden aus Plastikdeckeln oder Graffiti-Kunstwerke an den Wänden von Müllsammelstellen, die an den Umweltschutz appellieren, sind keine Seltenheit im Stadtbild.

Besonders gefallen haben mir die zahlreichen Parks Belo Horizontes. Neben dem Praca da Liberdade und dem Parque Municipal, die abgesehen von Spielgelegenheiten nicht selten kostenlose Kulturveranstaltungen zu bieten haben, hat es mir vor allem der Parque das Mangabeiras angetan.

Der an die Berge angrenzender Park bietet auf der einen Seite einen tollen Blick auf die Stadt, auf der anderen Seite erstreckt sich eine tolle Bergkulisse. Der Park ist vom Zentrum nur wenige Minuten entfernt, dank des Grüns, des Wassers, der Tiere, der Picknick-, Spiel- und Sportgelegenheiten kam ich mir aber ganz weit weg von der Stadt vor.

Als meine Gastmutter und ich den Park besucht haben, wurden wir von einem Sturm überrascht, sodass wir zwischen Böen aus rotem Sand zum Auto zurück sprinten mussten. Der Regen, der nun endlich eingesetzt hat und jeden Tag pünktlich um 16 Uhr beginnt, sorgt zum Glück dafür, dass das Stadtbild zunehmend grüner und der rote Sand durch Gras ersetzt wird.

Besonders interessant war auch der Besuch des Museums „Minas e Metal“. Die meisten Museen sind kostenlos, sodass diese stets gut besucht sind. Der Bundesstaat Minas Gerais ist bekannt für sein Reichtum an Bodenschätzen. Diese alle vereint in ihrer wortwörtlich funkelnden Pracht zu sehen, war wirklich beeindruckend. Die Ausstellung ist meiner Meinung nach außerdem sehr liebevoll gestaltet. Es gibt viel zum Anfassen und Ausprobieren und ein abwechslungsreicher Medieneinsatz sorgt für das Ansprechen aller Altersklassen.

Auch das Kultur-Kino, das vorrangig einheimische Dokumentarfilme oder Werke unbekannterer Regisseure und Produzenten zeigt, hat mir sehr gefallen. Ansonsten habe ich mein Herz an Acaí verloren. Mit „granola“ und Banane als Topping schmeckt die Smoothie-Creme einfach lecker 🙂

Aber auch viele andere einheimische Gerichte haben es mir angetan. In meinem Bullet Journal habe ich deshalb schon einige Seiten den brasilianischen Gerichten gewidmet. Trotzdem vermisse ich in der kommenden Vorweihnachtszeit ein wenig die Plätzchen-Kultur. Die gemütliche Weihnachtsstimmung in der Wärme hier will sich noch nicht so richtig einstellen. Aber ich bin gespannt darauf, wie hier Weihnachten gefeiert wird. Außerdem werde ich trotz der Hitze mit den Schülern backen und Weihnachtskarten basteln. Für mich ist das Wichtigste in der Weihnachtszeit das Zusammensein mit Menschen, die mir wichtig sind. Inzwischen habe ich hier auch einige solcher Menschen kennengelernt und ich freue mich schon besonders auf das Wiedersehen mit einer meiner besten Freundinnen aus Deutschland in Costa Rica, wo wir zusammen das Fest verbringen und natürlich das Land erkunden werden.

Eine Toleranzprobe der besonderen Art war für mich das Mitgliedertreffen des „Movimento dos Focolares“, zudem mich meine Gastmutter eingeladen hatte. Im Voraus habe ich mir die Zeitschrift der Bewegung durchgelesen. Viele spannende Artikel aus der ganzen Welt über Klimaschutzmaßnahmen und soziale Projekte hatten mein Interesse geweckt und ich war außerdem einfach neugierig darauf, so ein Treffen einmal mitzuerleben. Die Menschen dort waren unglaublich nett, haben viel mit mir gesprochen und sogar vorgeschlagen, dass ich ihre Kinder, die in meinem Alter seien, kennenlerne. Ich sollte mich dann auf Portugiesisch vor allen im Versammlungsraum vorstellen und wurde daraufhin von mehreren süßen alten Frauen umarmt. Danach hat ein junges Mädchen von einem sozialen Projekt erzählt, das Jugendliche auf der ganzen Welt involviert. Es wurde gesungen und die monatlichen Ziele vom Schutz der Menschenrechte und der Empathie hervorgehoben. Ich hatte während der gesamten Versammlung sehr ambivalente Gefühle. Einerseits haben mir die Projekte und Aktionen der Gruppe wirklich gefallen. Andererseits konnte ich mich mit der tiefreligiösen Motivation für ihr Handeln nicht identifizieren.

In Kleingruppen erörterten wir die Frage, wie die Mitglieder das „palavra da vida“ des Monats hinsichtlich der Weihnachtsbotschaft mittels Dekoration in die Praxis umsetzten können. Eine Frau berichtete dabei von einem Ereignis im Bus, als sie einem Studenten, der kein Geld mehr auf seiner Bus-Karte mehr hatte, half. Eine andere Frau erzählte von ihrer Freiwilligenarbeit mit Behinderten. Beide sprachen davon, dass der Heilige Geist ihnen in diesen Momenten nahe war und sie zum guten Handeln motivierte. Bei diesen Worten habe ich mich ein wenig unwohl gefühlt, habe mir aber auch in Erinnerung gerufen, dass Toleranz genau hier greift. Denn die Gruppe nutz ihren Glauben für Dinge, die einen Mehrwert für die Gesellschaft haben, genauso wie unzählige kirchliche Vereine und Organisationen einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben leisten. Lediglich die Motivation für das Handeln unterscheidet mich als säkular orientierten Menschen von den Mitgliedern. Viele christliche Werte finden sich ja auch im weltlichen Moralkodex wieder, trotzdem werde ich nicht nochmal zu den Treffen mitgehen, denn das Gefühl irgendwie fehl am Platz zu sein, ließ mich nicht los.

Weiterhin möchte ich von einem tollen Ereignis am CSA berichten. Vorletzten Freitag fand das vom Goethe-Institut entwickelte Spiel mit dem Namen „Autobahn“ statt.

Am Donnerstag bekam das Helferteam aus älteren Deutsch-Schülern, Lehrern und mir das Spiel erklärt und wir bauten die verschiedene Stationen, die nach deutschen Städten benannt sind, auf. Ziel des Spiels ist neben Spaß vor allem der Kontakt mit der deutschen Sprache und Kultur. Abgesehen von den vierzehn Städte-Stationen gibt es die Polizei-Station, die die Reisepässe an die Spieler verteilt und die Punkte zusammenzählt, beziehungsweise die „abgefahrenen“ Distanzen ermittelt, um am Ende ein Gewinner-Team küren zu können.

Am Freitag haben wir das Spiel dann zwei Mal mit den Fünftklässlern, die jeweils am Morgen oder am Nachmittag Unterricht haben durchgeführt. Zunächst wurden auch ihnen die Spielregeln erklärt, bevor ich ihnen die Pässe und ein Schlüsselbund mit Hilfsmitteln ausgeteilte und ihnen ihre Anfangsstation mitgeteilt wurde.

An den verschiedene Stationen warteten interaktive Aufgaben auf die Schüler, die Teamgeist erfordern. In Stuttgart mussten die Gruppen beispielsweise mit verbundenen Augen ein ferngesteuertes Auto durch einen Parcours bewegen, in Hamburg mit Hilfe unzähliger Fanartikel ein Bild deutscher Fußballfans inszenieren und in Bremen sollten sie mit einem Walki Talki nach Deutschland telefonieren.

Ich für meinen Teil saß in der Polizei-Station und nahm die „Telefonate“ entgegen. Das hat für viele Lacher bei meinen Schülern und mir gesorgt. Eine der Fragen an mich war: „Wie heißt du?“. Die Schüler sollten die Fragen eigentlich auf Deutsch stellen, fragten aber meist trotzdem auf Portugiesisch und erwarteten wohl auch eine Antwort auf Portugiesisch. Ich antwortete allerdings auf Deutsch: „Ich heiße Sara.“, was bei ihnen für Verwirrung sorgte, sodass ich nicht selten zehnmal hintereinander den Satz wiederholen musste. Meine Freunde aus der Polizei-Station begrüßen mich jetzt immer mit den Worten „Na, wie geht’s Sara?“. Wenn die Schüler die fünf Stationen „abgefahren“ hatten, mussten sie den Pass gegen einen neuen austauschen und stets darauf achten, dass sie gemäß der Deutschlandkarte die größtmögliche Distanz zwischen den Städten wählen.

Die Schüler hatten große Freude am Spiel und bei der Siegerehrung, die auch das Öffnen eines Tresors beinhaltete, waren alle ganz gebannt. Das Spiel bietet meiner Meinung nach eine tolle Abwechslung zum normalen Schulalltag und ein – vielleicht zu – positives Deutschlandbild.

Dank eines Ausflugs mit einer Lehrerin zur Polícia Federal bin ich nun offiziell in Brasilien registriert und erhalte eine Art Personalausweis für Ausländer. Während wir auf meinen Termin warteten unterhielten wir uns über die Unterschiede zwischen dem Abitur und dem brasilianischen ENEM. Wie sich für mich herausstellte, kann ich mehr als froh sein in Deutschland meinen Abschluss gemacht zu haben, denn das brasilianische Pendant zum Abi besteht aus 180 Multiple-Choice-Fragen aus allen Fächern und lediglich einer Schreib-Aufgabe. Bei dieser Art der Prüfung hätte ich ganz bestimmt schlechter als in Deutschland abgeschnitten, für andere Schüler ist dieses Modell aber sicherlich gut. Ich freue mich jedenfalls, das Abitur in der Tasche zu haben, bald Philosophie und Politikwissenschaften zu studieren und in der Zwischenzeit Brasilien entspannt genießen zu können.

Liebe Grüße!