Archiv der Kategorie: Menschen

Portait eines Menschen

Lehrerkonzert

In den letzten Monaten habe ich zum Glück die Möglichkeit gehabt, Musik zu machen. Nachmittags und Abends habe ich das Schulklavier nutzen dürfen und eine Lehrerin, die ihrerseits sehr gut Klavier spielt, hat mir sogar ihr Cello ausgeliehen. Regelmäßig haben wir zusammen Musik gemacht und teilweise im Gottesdienst gespielt; schließlich sind wir auf die Idee gekommen, ein Konzert zu geben. Im Lehrerkollegium haben sich mehrere bereit erklärt, daran mitzuwirken, sodass wir schließlich ein buntes Programm zusammengestellt haben mit Stücken europäischer Komponisten aus verschiedenen Epochen (u.a. Beethoven, Dvořák, Debussy) sowie traditioneller südamerikanischer Harfenmusik (Daniel Alomía Robles, Néstor Zavarce). Gestern Abend haben wir das Konzert präsentiert und uns gefreut, dass es so positiv angenommen worden ist.
Für mich war es auch eine Art Abschiedsfeier, weil ich am Montag schon nach Deutschland zurückfliege. Dort wird am Monatsende ein 5-tägiges Nachbereitungsseminar stattfinden, auf dem sich wieder die Kulturweit-Freiwilligen, die sich im vergangenen Jahr über die Welt verteilt haben, treffen.

Mauern, Stacheldraht und Glasscherben

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Paraguay hat knapp sieben Millionen Einwohner und eine Bevölkerungsdichte von 16 Einwohnern pro Quadratkilometer. Nur zum Vergleich: In Deutschland liegt die Bevölkerungsdichte bei 229. Asunción, die Hauptstadt, ist mit mit etwas mehr als einer halben Millionen Einwohner die mit Abstand größte Stadt des Landes. Hier sammelt sich das Kondensat der paraguayischen Gesellschaft – Menschen aus allen Gesellschaftsschichten leben hier nebeneinander.
Es ist nicht so, als gäbe es in Europa keine Armut – im Gegenteil. Doch es ist dort leicht, sie zu übersehen. In Paraguay ist die arme Bevölkerung die Mehrheit. Sie existiert neben den Gated Communities, den teuren Shopping Malls und den verglasten Hochhäusern von Banken und ausländischen Firmen. Bürger der reichen Oberschicht versuchen ihre Dank liberalen Bauvorschriften oft Märchenschlössern ähnelnden Prachtbauten gegen Gewalt und Kriminalität, vielleicht auch gegen den Müll und Schmutz der Stadt abzuschotten. Meterhohe Mauern ragen auf, gesäumt von Stacheldraht oder Glassplittern und unterbrochen durch überdimensionierte Stahlpforten, die mit Nummerncodes gesichert sind. Dahinter lassen stuckverzierte Dachfirste und die Spitzen korinthischer Marmorsäulen die Pracht der hinter den Mauern liegenden Anwesen erahnen.

Jenseits der Mauern leben Menschen im Elend – zumindest unter materiellen Gesichtspunkten. Läuft man am Armutsviertel, das nahe dem Ufer des Río Paraguay liegt, entlang – zur Rechten die kleinen, provisorisch errichteten Holzhütten, zur Linken die verspiegelte Glasfensterfront des hoch aufragenden Nationalkongressgebäudes, nur wenige Meter entfernt der Regierungspalast – ist der Kontrast unübersehbar. Die zwischen den Hütten zum Trocknen aufgehängte Wäsche flattert im Wind, Kinder spielen Volleyball, Erwachsene sitzen auf Klappstühlen daneben, lauschen der Musik aus einem Kofferradio und reichen eine Guampa mit Tereré herum. Dieses Getränk kennt keine Gesellschaftsschichten.

Medizinische Versorgung – Einblicke

Hospital Tabea

Säuglingsstation des Hospital Tabea

An zwei Nachmittagen in der Woche darf ich im Hospital Tabea, dem kleinen Krankenhaus der Kolonie, hospitieren. In der Region gibt es keine vergleichbar ausgerüstete Einrichtung, weshalb es die erste Anlaufstelle für alle auftretenden Erkrankungen ist. Am eindringlichsten zeichnet sich dieser Umstand während der Visite ab: In einem Zimmer sitzt eine betagte Dame mit schwerer Blasenentzüng im Bett und häkelt; nebenan liegt ein fünfjähriger Junge, der sich ein Bein gebrochen hat; in einem anderen Zimmer ist ein Herr untergebracht, der sich im Hospital Tabea von einer Chemotherapie erholen soll und auf dem Flur wartet eine Hochschwangere mit ihrem Mann auf das Anamnesegespräch. Die Ärzte im Krankenhaus sind Allgemeinmediziner; bei Bedarf werden Spezialisten aus Asunción konsultiert.
Der Bau des Hospitals ist 2010 fertiggestellt worden – ein erstes Krankenhaus hat man 1947, zehn Jahre nach Gründung der Kolonie, errichtet. Für die nötigste Krankenversorgung sind ein Operationssaal, ein Labor, Röntgen- und Ultraschallgeräte, eine Apotheke, Krankenbetten und eine Notaufnahme vorhanden.
Im Krankenhausalltag machen sich die Grenzen des Gesundheitssystems immer wieder bemerkbar: Viele Patienten sind nicht versichert und die gesetzliche Versicherung deckt vergleichsweise wenig Leistungen ab. So werden beispielsweise keine prophylaktischen Vorsorgeuntersuchungen für Kinder von der Krankenkasse übernommen. Oft mangelt es an Geld und es wird gespart – oft auf Kosten der Qualität der Versorgung. Patienten, die im Hospital Tabea nicht behandelt werden können, werden nach Asunción gebracht. Wenn bei einem Notfall wie einem Schlaganfall die Behandlung maximal 4,5 Stunden nach Auftreten der Symptome beginnen muss, gerät die medizinischen Versorgung jedoch meist an den Rand ihrer Möglichkeiten.

Hospital Mennonita km 81

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In der Nähe von Asunción haben die Mennoniten das Hospital Mennonita km 81 gegründet. Dorthin bin ich letzte Woche für einen Tag mitgefahren. Es ist ein ganz normales Krankenhaus, dessen Schwerpunkt jedoch auf der Behandlung von Leprapatienten liegt. Ein wichtiges Arbeitsfeld des Krankenhauses ist die Aufklärung. Lepra ist eine schwach ansteckende Krankheit und kann geheilt werden – das ist im Land wenig bekannt, weshalb Betroffene häufig auf den sozialen Druck hin ihr Zuhause verlassen müssen und in ärmlichsten Verhältnissen und in Einsamkeit leben müssen.
Vielerorts fehlt der Zugang zu medizinischer Versorgung. Deshalb werden vom Krankenhaus aus regelmäßig Fahrten ins Inland unternommen, um diese Erkrankten zu erreichen. Dabei wird auch versucht, zu missionieren.
Das Hospital befindet sich auf einem weitläufig angelegten Gelände zwischen gepflegten Grünanlagen. Außer dem Krankenhaus umfasst der Komplex landwirtschaftlich genutzte Flächen samt Äckern, Obstgärten und Vieh, eine Wäscherei, eine Fahrzeugwerkstadt, Wohnungen für die Angestellten und Freiwilligen sowie eine Werkstatt, in der in Handarbeit Lederschuhe für Lepragezeichnete Füße und Prothesen maßgefertigt werden. In Planung sind weitere Anbauten für Patientenzimmer, da die jetzigen Kapazitäten oftmals nicht ausreichen.

Gretchenfrage und mennonitische Geschichte

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I)

Antworten auf diese Frage können ohne Zweifel individuell verschieden ausfallen. Glaube ist ein sehr persönliches Thema – eines, das sowohl stärken und einen, als auch zerstören und spalten kann.
Es ist ein Thema, das in der mennonitischen Kolonie Friesland, Itacurubí del Rosario, allgegenwärtig ist. Seitdem ich hier arbeite, möchte ich über mennonitische Lebensweise und Geschichte schreiben. Jedoch hat es eine Weile gedauert, ein umfassendes Bild und den nötigen Abstand zu gewinnen. Nun versuche ich, möglichst ohne Wertung, einen Überblick zu bieten.

Mennonitische Kirche in der Kolonie Friesland

Mennonitische Kirche in der Kolonie Friesland

Beginn der Reformation

Anfang des 16. Jahrhunderts gibt es im Christentum gewaltige Umbrüche. Gewiss ist der Humanismus ein Faktor, der dazu beiträgt, dass sich Menschen kritisch mit der katholischen Kirche auseinandersetzen. Vor allem der Ablasshandel ist von Kirchenvätern auf die Spitze getrieben worden – das Seelenheil scheint käuflich; im Klerus gibt es Korruption.

Der berühmte Reformator Martin Luther widmet sich eingehend dem Bibelstudium und kommt zu dem Schluss, dass sich die katholische Kirche weit von der Schrift entfernt habe. Er wagt es, öffentlich Kritik zu üben, als er im Jahr 1517 95 Thesen formuliert und an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlägt. Damit greift er sowohl den Papst als auch die katholische Kirche auf das Schärfste an – die römische Kurie führt deshalb einen Prozess wegen Ketzerei gegen ihn, welcher darauf hinausläuft, dass man ihn im Jahr 1521 für vogelfrei erklärt. Auf der Wartburg findet Luther Schutz. In den Monaten, die er dort verbringt, übersetzt er die Bibel aus dem griechischen Urtext in die deutsche Sprache.

Entstehung des Täufertums

Ausgehend vom Luthertum entwickeln sich weitere reformatorische Bewegungen. So entsteht auch das Täufertum, dessen Ursprünge in der züricher Reformation zu finden sind. Prägend ist eine Gruppe von Theologen, die sich in der Schweiz regelmäßig in Bibelkreisen versammelt – unter ihnen Huldrych Zwingli, Konrad Grebel und Felix Manz, deren Reformationsbestrebungen sowohl religiöser, als auch sozialer Natur sind. Sie wollen das Priestertum für alle Gläubigen und streben nach dem Modell einer apostolischen Urgemeinde. Ihrer Ansicht nach können Menschen das Seelenheil allein durch die Gnade Gottes erlangen – somit ist es nicht möglich, sich von Sünden freizukaufen. Grebel und Manz sind radikaler als Zwingli. Sie wollen so schnell wie möglich liturgische Änderungen erreichen und vertreten die Ansicht, die Beteiligung an militärischen Konflikten sei mit der Bibel nicht vereinbar. So kommt es zum Bruch zwischen den Theologen.
Bei der Taufe ist für Grebel und Manz der Aspekt der Freiwilligkeit entscheidend. Sie lehnen die Kindertaufe ab und nehmen 1525 zum ersten Mal eine „Glaubenstaufe“ bei Erwachsenen vor – damit gründen sie das Täufertum. Auch verbreiten sie ihre Lehre und halten auf eigene Faust Abendmahlfeiern ab. Dies sorgt für Unruhe im Land. Es werden mystische Treffen abgehalten, apokalyptische Prediger verschaffen sich Gehör und Menschen verfallen dem religiösen Wahn.
Die Regierung verbietet die Versammlungen und die Taufen. Grebel und Manz werden zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen verurteilt. Nachdem beiden die Flucht gelungen ist, erkrankt Grebel an der Pest und verstirbt. Manz wird gefasst und zum Tode verurteilt. Im Januar 1527 wird er in Zürich ertränkt.

Mennonitische Geschichte

Das Täufertum ist sehr heterogen. Luther hat die Bibel der Bevölkerung zugänglich gemacht. Durch die Lektüre der Schrift und nach der Erkenntnis der eigenen Ohnmacht in der katholischen Kirche ist es möglich, dass sich das Täufertum auch in Mittel- und Norddeutschland sowie in der Niederlande auf fruchtbaren Boden trifft. Auch begünstigt die Bauernbewegung eine schnelle Verbreitung der Ideologien, die oft marxistisch beeinflusst sind.
In Norddeutschland und der Niederlande schließt der aus Friesland stammende Menno Simons Täufer zu Gemeinden zusammen, die sich bald „Mennoniten“ nennen. Traditionell betreiben sie mit Geschick Landwirtschaft.

Im Jahr 1785 stellt Kaiserin Katharina II den Mennoniten, die immer wieder unter Verfolgung zu leiden haben, Gebiete zur Bewirtschaftung in Südrussland zur Verfügung. Es locken zahlreiche Privilegien: Glaubensfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, Steuerbefreiungen und Grundbesitz. Im Krieg gegen die Türkei hat Russland seine Grenzen erweitert. Um die Region im nördlichen Kaukasus zu sichern, wird um Bauern aus dem Ausland geworben, die sich dort ansiedeln sollen. So kommt es, dass viele Mennoniten sich dazu entschließen, auszuwandern.
Da die Mennoniten aus Glaubensgründen den Dienst an der Waffe verweigern, sehen sie sich zur Zeit des ersten Weltkrieges stark mit Feindseligkeiten und Diskriminierung durch die russische Bevölkerung und mit Unterdrückung durch die Regierung konfrontiert. Als Stalin an die Macht kommt, spitzt sich die Situation zu. Im Zuge der Kollektivierung werden viele wohlhabende mennonitischen Bauern enteignet. Auch wird die Deutsche Sprache in Presse und Kirche und schließlich die Ausübung der Religion verboten. Viele der Mennoniten sehen sich dazu gezwungen, zu flüchten. Einige kehren zurück nach Westeuropa, andere wandern nach Nord- und Südamerika aus.

Die Vorfahren der Mennoniten in Friesland kommen aus dem Chaco, der trockenen Savannenregion im Südwesten Paraguays, wo es auch heute noch viele mennonitische Kolonien gibt. Zur Zeit der mennonitischen Einwanderung ist der Chaco bis auf wenige Indianerstämme beinahe unbevölkert. Paraguay bietet den Mennoniten Religionsfreiheit, die Befreiung vom Wehrdienst und steuerliche Vergünstigungen. Aufgrund der dortigen Nahrungsmittelknappheit haben die friesländer Mennoniten dem Chaco den Rücken gekehrt und im Jahr 1937 Friesland, die erste Kolonie in Ostparaguay gegründet.

In ihrer Geschichte liegt begründet, warum sich die Mennoniten über ihre Religion definieren und nicht über ihre Nationalität. Viele von ihnen machen einen klaren Unterschied zwischen den in Paraguay lebenden Mennoniten und der restlichen Bevölkerung des Landes – auch, wenn es Tendenzen zu einer Öffnung nach außen gibt. Zugehörig fühlen sie sich vor allem zur mennonitischen Gemeinde, die sehr demokratisch organisiert und über Landesgrenzen hinweg vernetzt ist. Die Mennoniten wählen ihre Prediger. Prinzipiell ist jedes Gemeindemitglied dafür geeignet – meistens haben die Prediger jedoch Fortbildungen absolviert.
Im Gottesdienst gibt es keine Wandlung – der Kommunion wird ein geringer Stellenwert eingeräumt. Sehr präsent ist das Gebet: vor beinahe jeder Mahlzeit, vor Freizeitaktivitäten, in der Schule. Die Mennonitische Gemeinde hat ein starkes Sendungsbewusstsein. In den Umliegenden Dörfern gründen sie Missionsgemeinden und eröffnen soziale Einrichtungen mit mennonitischer Prägung.

Quellen:

Sierszyn, Armin: 2000 Jahre Kirchengeschichte: Reformation und Gegenreformation: Band 3, Hänssler, Holzgerlingen 2000)

Penner, Beate: Gemeinsam unterwegs: 75 Jahre Kolonie Friesland: 1937 – 2012, Verwaltung der Kolonie Friesland, Colonia Friesland 2012

Expedition ins Grasland

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Nach heftigen Gewittern und Regenfällen haben sich die Temperaturen abgekühlt. Das Gras ist feucht vom Tau. Der Vollmond blinzelt durch die Wolkendecke und taucht die Wiese in silbriges Licht. Eine leichte Brise zerzaust die Wipfel der Bäume. Um zehn vor sechs ist es noch dunkel, doch am Horizont lässt sich schon die Morgendämmerung erahnen.
Normalerweise beginnt die Schule um sieben Uhr, doch heute treffen bereits eine Stunde vorher Kinder ein. Mit Rucksäcken bepackt und mit Angelruten aus Bambus über den Schultern versammeln sich leise tuschelnd die Schüler der vierten, fünften und sechsten Klasse vor dem Schulgebäude. Dort warten bereits fünf Lehrer, ein Traktor mit großem Anhänger samt Fahrer und ich. Heute, einen Tag vor Beginn der Osterfeiertage, ist Wandertag. Gemeinsam hieven wir lange Bänke auf die Ladefläche – zum Sitzen. Zuerst nimmt der Rollstuhlfahrer unter den Schülern Platz auf dem Anhänger, dann folgen die restlichen Kinder.

Gut gelaunt begeben wir alle uns auf die holprige Fahrt. Laut knattert und ächzt der Traktor. Die Kinder stimmen Lieder an, die sie im Musikunterricht gelernt haben und klatschen dazu. Auf der roten, von Schlaglöchern übersäten Erdstraße geht es vorbei an Eukalyptuswäldchen, Wiesen, kleinen Seen und Flüssen.
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Schließlich machen wir an einem Wasserlauf halt. Alle klettern vom Anhänger, es werden Köder verteilt und die Kinder verstreuen sich in der Umgebung und beginnen, zu angeln. Es dauert nicht lange und der erste Pyranha hat angebissen. Schon ist unter den Schülern ein Wettstreit entfacht, wer die meisten Fische fängt. Die aufgehende Sonne wirft ihr warmes Licht auf die Szenerie. Von allen Seiten erschallt Kinderlachen.
Nachdem genug Fische gefangen worden sind, werden diese ausgenommen und in einer großen Kühlbox auf dem Anhänger verstaut, damit sie frisch bleiben bis die Kinder ihre selbst gefangenen Fische mit nach Hause nehmen können. Wir fahren noch eine Weile, bis wir zu einer Badestelle gelangen. Dort wird Volleyball gespielt und die Kinder planschen im Wasser. Nach einer Weile werden die Kinder beim Spielen unterbrochen, denn – wie die Lehrer zufällig bemerkt haben – der Osterhase war da. Im Wald wird fieberhaft gesucht; an jedes Kind hat man gedacht, sodass sich bald alle Schüler mit reicher Beute versammeln können zum Mittagessen. Danach machen wir uns auf den Heimweg.

Ich komme aus einem Land, in dem Schulklassen mit dem Bus auf Exkursion fahren, in dem die Schüler nur dann Schwimmen gehen dürfen, wenn mindestens ein Sportlehrer mit Freischwimmer anwesend ist, in dem man zum Fischen einen Angelschein benötigt und in dem man vor dem Sportunterricht Ohrringe herausnehmen oder mit Krepp-Band abkleben muss wegen der Verletzungsgefahr.
Ein Wandertag, wie ich ihn heute erlebt habe, wäre in Deutschland undenkbar und doch ist dies einer der schönsten Schulausflüge, die ich unternommen habe.

La piña – die Ananas

Die Vorhänge flattern im Wind, der durch die geöffneten Fenster in das Klassenzimmer hineinweht. An der Decke rotieren zwei Ventilatoren. Dennoch fühlt es sich so an, als stehe die Luft im Raum. Es ist kurz nach zehn am Vormittag, die fünfte Stunde hat gerade begonnen und es herrschen spätsommerliche Temperaturen von 32°C.
Die insgesamt fünfzehn Schüler der zweiten und dritten Jahrgangsstufe werden aufgrund des Lehrermangels zusammen unterrichtet. Im Augenblick hat die zweite Klasse Mathematik und rechnet Aufgaben gemeinsam mit der Klassenlehrerin. Währenddessen sind die Drittklässler mit Schreibaufgaben im Deutschunterricht beschäftigt. Auf Zetteln stehen Satzfragmente, welche die Kinder in sinnvoller Reihenfolge anordnen sollen, bevor sie die entstandenen Geschichten in ihren Heften niederschreiben. Ich gehe von Tisch zu Tisch, helfe, wenn nötig und korrigiere Fehler.

So ähnlich läuft in meiner Einführungswoche jede Stunde ab, die ich in den Klassen der Primarstufe (erste bis sechste Jahrgangsstufe) verbringe. Man setzt mich im Unterricht in allen Fächern ein. In vielen Klassen gibt es Kinder, die besonderen Förderbedarf haben. Sei es wegen körperlicher Behinderung, Lernschwäche, Konzentrationsstörungen oder wegen Sprach- und Gehörschädigungen. Dann begleite ich gezielt diese Kinder während der Unterrichtsstunden, erkläre ihnen die Aufgaben ausführlich, beantworte ihre Fragen und unterstütze sie beim Lesen und Schreiben. Manchmal wird die Klasse auch geteilt, wenn für eine Aufgabe bespielsweise ein solides Leseverständnis erforderlich ist: Der Großteil der Schüler erledigt die gestellte Aufgabe weitgehend selbstständig, während ich mit einer kleinen Gruppe von zwei bis drei Schülern den Klassenraum verlasse und wir das behandelte Thema gemeinsam erarbeiten. Einzelnen Schülern, bei denen der Förderbedarf besonders hoch ist, gebe ich gesondert Nachhilfestunden im Fach Deutsch.

Die Muttersprache vieler Schüler ist Guaraní. Da in der Primarstufe alle Fächer bis auf Geschichte und Spanisch in deutscher Sprache unterrichtet werden, treten hier oft Schwierigkeiten auf. Ab der siebten Klasse ist die Unterrichtssprache überwiegend Spanisch. Von den mennonitischen Kindern sprechen viele zu Hause Plattdeutsch.
Bei solch einer Menge verschiedener sprachlicher Einflüsse ist es kaum verwunderlich, dass eine Vermischung stattfindet. Sowohl Schüler als auch Lehrer bauen oft ganz selbstverständlich guaranische, spanische und plattdeutsche Worte in hochdeutsche Sätze ein.
Wenn ich mit den Schülern der ersten Klasse die deutschen Vokabeln für Obst wiederhole, dauert es nicht lange, bis die spanischen Begriffe genannt werden. Die Kinder bringen mir neue Vokabeln bei und schließlich lerne ich sogar mir bisher unbekannte Obstsorten kennen: Die kleinste Zitrusfrucht heißt Kumquat.

Eindrücke nach der Ankunft

In Itacurubí del Rosario ist die Sonne untergegangen und mein erster Tag in Paraguay neigt sich dem Ende zu. Es ist immernoch warm und die Luft schwer von Feuchtigkeit. Von draußen höre ich das Zirpen der Grillen. Hin und wieder dringt das Knattern eines alten Mofas auf unebener Schotterstraße an mein Ohr. Innerlich bin ich noch nicht wirklich angekommen; gesehen habe ich heute eine ganze Menge – es sind nur einige erste Eindrücke, die ich festhalten kann.

Am Flughafen in Asunción holt mich der Schulleiter des Colegios ab. Die Autofahrt bis zur Kolonie dauert in etwa drei Stunden. Das liegt vor allem am Verkehr in der paraguayischen Hauptstadt. Es gibt viel davon und sein Fluss wird durch Baustellen gebremst. Verkehrsregeln werden hier von der Mehrheit der Auto-, Bus- und Motorradfahrer sehr frei interpretiert. Dennoch scheint es zu funktionieren und mir dämmert, dass es hier sehr wohl Regeln gibt – die zwar nirgends niedergeschrieben sind, an die sich jedoch trotzdem alle halten, die mit ihnen vertraut sind.
Die meisten Häuser erstrahlen in kräftigen Farben und scheinbar überall machen die Leute Geschäfe. Wo Autos stehen bleiben müssen, nähern sich bald junge Männer, die Calabazas und Bombillas für Tereré (Trinkbecher mit filterndem Strohalm für Mate Tee), verkaufen wollen. Zu beiden Straßenseiten wechseln sich heruntergekommene kleine Läden in Wellblechhütten mit internationalen Fastfoodketten und modernen Geschäften in Neubauten ab. Vereinzelte Kühe und Pferde grasen am Straßenrand. In Asunción herrscht eine Art Chaos, das dennoch einem geheimnisvollen Ordnungsprinzip zu unterliegen scheint.
Jenseits des Stadtrandes sind die Folgen von El Niño nicht zu übersehen. Ganze Grasebenen stehen unter Wasser. Dort, wo das Wasser zurückgewichen ist, hat es weite, schwarze Wüsten zurückgelassen. Vereinzelt erheben sich zerstörte Häuser und Schuppen aus der flachen Landschaft.
Schließlich lassen wir die vom Hochwasser gezeichneten Ebenen hinter uns und erreichen die Kolonie. Dort werde von meiner Mitbewohnerin – wie von allen, die mir hier begegnen – sehr herzlich empfangen.

Überschwemmungen des Rio Paraguay

Überschwemmungen des Rio Paraguay

Vorbereitungsseminar

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Sämtliche organisatorischen Vorbereitungen, angefangen beim beantragen von Dokumenten für Visa und Versicherungen bis hin zu Reiseimpfungen und Kofferpacken, sind abgeschlossen. Immer wieder stelle ich mir die Frage: „Habe ich etwas Wichtiges vergessen?“
Bei genauerem Nachdenken muss ich mir jedoch eingestehen: Darum geht es hier in Wahrheit gar nicht. Zwar mag auf materieller und formaler Ebene alles erledigt sein. Doch es sind noch viele Fragen offen. Es ist die Ungewissheit darüber, was in den nächsten Monaten auf mich zukommt, welche für meine innere Unruhe verantwortlich ist. Letztlich aber überwiegen die Vorfreude und die Neugierde.

Seit Beginn der Bewerbungsphase im April 2015 ist eine Menge Zeit verstrichen. Nun wird es endlich konkret.
Kurz vor der Ausreise findet in der EJB Werbellinsee in Berlin ein zehntägiges Vorbereitungsseminar statt. Die 175 Freiwilligen kommen mit unterschiedlichen Erwartungen und Vorkenntnissen. Sie werden mit den verschiedenen Partnerorganisationen in Einsatzstellen in Afrika, Asien, Lateinamerika, Osteuropa, dem Nahen Osten und der GUS reisen. Es gibt die Möglichkeit, sich mit anderen Freiwilligen und Alumni auzutauschen. Meine Vorstellung von Freiwilligenarbeit im Ausland wird realer.

Inhaltlicher Schwerpunkt des Seminars sind die Themen Rassismus und Postkolonialismus. In Vorträgen wird deutlich gemacht, dass es sich bei Rassismus nicht um ein menschliches Attribut handelt, sondern um ein historisch gewachsenes Phänomen und Konstrukt.
Dabei wird auch auf  die koloniale Vergangenheit, die den Westen reich gemacht hat und deren Einflüsse bis heute in Gesellschaft und Politik erkennbar sind, aufmerksam gemacht.

In Vorträgen, Workshops und Diskussionsrunden werden Fragen aufgeworfen und diskutiert: Was macht Kultur aus? Welche Rolle haben Freiwillige in ihrer Einsatzstelle? Wie verhält man sich, wenn das im Ausland Erlebte den eigenen moralischen Wertvorstellungen widerspricht? Was ist Rassismus? Was hat Postkolonialismus mit dem Freiwilligendienst zu tun? Wie ist mit Intersektionalität umzugehen?

Zehn Tage voller Diskussionen, neuer Eindrücke und Denkanstöße liegen hinter mir. Einige Fragen werden mich gewiss nicht loslassen und während meiner Zeit in Paraguay nachwirken.
Ich habe mir vorgenommen, in den kommenden Wochen und Monaten regelmäßig zu berichten, wie ich meinen Freiwilligendienst erlebe. Ich werde mir dabei Mühe geben, nicht zu pauschalisieren. Es versteht sich jedoch von selbst, dass ich keinen umfassenden Eindruck weitergeben kann. Mein Bild von Paraguay wird geprägt sein von dem, was mir dort in der begrenzten Zeit an den Orten, an denen ich mich aufhalten werde, begegnet.
Ansonsten: viel Freude auf diesen Seiten!