Archiv der Kategorie: Mentalität

Über das Leben und Sein

Mauern, Stacheldraht und Glasscherben

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Paraguay hat knapp sieben Millionen Einwohner und eine Bevölkerungsdichte von 16 Einwohnern pro Quadratkilometer. Nur zum Vergleich: In Deutschland liegt die Bevölkerungsdichte bei 229. Asunción, die Hauptstadt, ist mit mit etwas mehr als einer halben Millionen Einwohner die mit Abstand größte Stadt des Landes. Hier sammelt sich das Kondensat der paraguayischen Gesellschaft – Menschen aus allen Gesellschaftsschichten leben hier nebeneinander.
Es ist nicht so, als gäbe es in Europa keine Armut – im Gegenteil. Doch es ist dort leicht, sie zu übersehen. In Paraguay ist die arme Bevölkerung die Mehrheit. Sie existiert neben den Gated Communities, den teuren Shopping Malls und den verglasten Hochhäusern von Banken und ausländischen Firmen. Bürger der reichen Oberschicht versuchen ihre Dank liberalen Bauvorschriften oft Märchenschlössern ähnelnden Prachtbauten gegen Gewalt und Kriminalität, vielleicht auch gegen den Müll und Schmutz der Stadt abzuschotten. Meterhohe Mauern ragen auf, gesäumt von Stacheldraht oder Glassplittern und unterbrochen durch überdimensionierte Stahlpforten, die mit Nummerncodes gesichert sind. Dahinter lassen stuckverzierte Dachfirste und die Spitzen korinthischer Marmorsäulen die Pracht der hinter den Mauern liegenden Anwesen erahnen.

Jenseits der Mauern leben Menschen im Elend – zumindest unter materiellen Gesichtspunkten. Läuft man am Armutsviertel, das nahe dem Ufer des Río Paraguay liegt, entlang – zur Rechten die kleinen, provisorisch errichteten Holzhütten, zur Linken die verspiegelte Glasfensterfront des hoch aufragenden Nationalkongressgebäudes, nur wenige Meter entfernt der Regierungspalast – ist der Kontrast unübersehbar. Die zwischen den Hütten zum Trocknen aufgehängte Wäsche flattert im Wind, Kinder spielen Volleyball, Erwachsene sitzen auf Klappstühlen daneben, lauschen der Musik aus einem Kofferradio und reichen eine Guampa mit Tereré herum. Dieses Getränk kennt keine Gesellschaftsschichten.

Gretchenfrage und mennonitische Geschichte

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I)

Antworten auf diese Frage können ohne Zweifel individuell verschieden ausfallen. Glaube ist ein sehr persönliches Thema – eines, das sowohl stärken und einen, als auch zerstören und spalten kann.
Es ist ein Thema, das in der mennonitischen Kolonie Friesland, Itacurubí del Rosario, allgegenwärtig ist. Seitdem ich hier arbeite, möchte ich über mennonitische Lebensweise und Geschichte schreiben. Jedoch hat es eine Weile gedauert, ein umfassendes Bild und den nötigen Abstand zu gewinnen. Nun versuche ich, möglichst ohne Wertung, einen Überblick zu bieten.

Mennonitische Kirche in der Kolonie Friesland

Mennonitische Kirche in der Kolonie Friesland

Beginn der Reformation

Anfang des 16. Jahrhunderts gibt es im Christentum gewaltige Umbrüche. Gewiss ist der Humanismus ein Faktor, der dazu beiträgt, dass sich Menschen kritisch mit der katholischen Kirche auseinandersetzen. Vor allem der Ablasshandel ist von Kirchenvätern auf die Spitze getrieben worden – das Seelenheil scheint käuflich; im Klerus gibt es Korruption.

Der berühmte Reformator Martin Luther widmet sich eingehend dem Bibelstudium und kommt zu dem Schluss, dass sich die katholische Kirche weit von der Schrift entfernt habe. Er wagt es, öffentlich Kritik zu üben, als er im Jahr 1517 95 Thesen formuliert und an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlägt. Damit greift er sowohl den Papst als auch die katholische Kirche auf das Schärfste an – die römische Kurie führt deshalb einen Prozess wegen Ketzerei gegen ihn, welcher darauf hinausläuft, dass man ihn im Jahr 1521 für vogelfrei erklärt. Auf der Wartburg findet Luther Schutz. In den Monaten, die er dort verbringt, übersetzt er die Bibel aus dem griechischen Urtext in die deutsche Sprache.

Entstehung des Täufertums

Ausgehend vom Luthertum entwickeln sich weitere reformatorische Bewegungen. So entsteht auch das Täufertum, dessen Ursprünge in der züricher Reformation zu finden sind. Prägend ist eine Gruppe von Theologen, die sich in der Schweiz regelmäßig in Bibelkreisen versammelt – unter ihnen Huldrych Zwingli, Konrad Grebel und Felix Manz, deren Reformationsbestrebungen sowohl religiöser, als auch sozialer Natur sind. Sie wollen das Priestertum für alle Gläubigen und streben nach dem Modell einer apostolischen Urgemeinde. Ihrer Ansicht nach können Menschen das Seelenheil allein durch die Gnade Gottes erlangen – somit ist es nicht möglich, sich von Sünden freizukaufen. Grebel und Manz sind radikaler als Zwingli. Sie wollen so schnell wie möglich liturgische Änderungen erreichen und vertreten die Ansicht, die Beteiligung an militärischen Konflikten sei mit der Bibel nicht vereinbar. So kommt es zum Bruch zwischen den Theologen.
Bei der Taufe ist für Grebel und Manz der Aspekt der Freiwilligkeit entscheidend. Sie lehnen die Kindertaufe ab und nehmen 1525 zum ersten Mal eine „Glaubenstaufe“ bei Erwachsenen vor – damit gründen sie das Täufertum. Auch verbreiten sie ihre Lehre und halten auf eigene Faust Abendmahlfeiern ab. Dies sorgt für Unruhe im Land. Es werden mystische Treffen abgehalten, apokalyptische Prediger verschaffen sich Gehör und Menschen verfallen dem religiösen Wahn.
Die Regierung verbietet die Versammlungen und die Taufen. Grebel und Manz werden zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen verurteilt. Nachdem beiden die Flucht gelungen ist, erkrankt Grebel an der Pest und verstirbt. Manz wird gefasst und zum Tode verurteilt. Im Januar 1527 wird er in Zürich ertränkt.

Mennonitische Geschichte

Das Täufertum ist sehr heterogen. Luther hat die Bibel der Bevölkerung zugänglich gemacht. Durch die Lektüre der Schrift und nach der Erkenntnis der eigenen Ohnmacht in der katholischen Kirche ist es möglich, dass sich das Täufertum auch in Mittel- und Norddeutschland sowie in der Niederlande auf fruchtbaren Boden trifft. Auch begünstigt die Bauernbewegung eine schnelle Verbreitung der Ideologien, die oft marxistisch beeinflusst sind.
In Norddeutschland und der Niederlande schließt der aus Friesland stammende Menno Simons Täufer zu Gemeinden zusammen, die sich bald „Mennoniten“ nennen. Traditionell betreiben sie mit Geschick Landwirtschaft.

Im Jahr 1785 stellt Kaiserin Katharina II den Mennoniten, die immer wieder unter Verfolgung zu leiden haben, Gebiete zur Bewirtschaftung in Südrussland zur Verfügung. Es locken zahlreiche Privilegien: Glaubensfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, Steuerbefreiungen und Grundbesitz. Im Krieg gegen die Türkei hat Russland seine Grenzen erweitert. Um die Region im nördlichen Kaukasus zu sichern, wird um Bauern aus dem Ausland geworben, die sich dort ansiedeln sollen. So kommt es, dass viele Mennoniten sich dazu entschließen, auszuwandern.
Da die Mennoniten aus Glaubensgründen den Dienst an der Waffe verweigern, sehen sie sich zur Zeit des ersten Weltkrieges stark mit Feindseligkeiten und Diskriminierung durch die russische Bevölkerung und mit Unterdrückung durch die Regierung konfrontiert. Als Stalin an die Macht kommt, spitzt sich die Situation zu. Im Zuge der Kollektivierung werden viele wohlhabende mennonitischen Bauern enteignet. Auch wird die Deutsche Sprache in Presse und Kirche und schließlich die Ausübung der Religion verboten. Viele der Mennoniten sehen sich dazu gezwungen, zu flüchten. Einige kehren zurück nach Westeuropa, andere wandern nach Nord- und Südamerika aus.

Die Vorfahren der Mennoniten in Friesland kommen aus dem Chaco, der trockenen Savannenregion im Südwesten Paraguays, wo es auch heute noch viele mennonitische Kolonien gibt. Zur Zeit der mennonitischen Einwanderung ist der Chaco bis auf wenige Indianerstämme beinahe unbevölkert. Paraguay bietet den Mennoniten Religionsfreiheit, die Befreiung vom Wehrdienst und steuerliche Vergünstigungen. Aufgrund der dortigen Nahrungsmittelknappheit haben die friesländer Mennoniten dem Chaco den Rücken gekehrt und im Jahr 1937 Friesland, die erste Kolonie in Ostparaguay gegründet.

In ihrer Geschichte liegt begründet, warum sich die Mennoniten über ihre Religion definieren und nicht über ihre Nationalität. Viele von ihnen machen einen klaren Unterschied zwischen den in Paraguay lebenden Mennoniten und der restlichen Bevölkerung des Landes – auch, wenn es Tendenzen zu einer Öffnung nach außen gibt. Zugehörig fühlen sie sich vor allem zur mennonitischen Gemeinde, die sehr demokratisch organisiert und über Landesgrenzen hinweg vernetzt ist. Die Mennoniten wählen ihre Prediger. Prinzipiell ist jedes Gemeindemitglied dafür geeignet – meistens haben die Prediger jedoch Fortbildungen absolviert.
Im Gottesdienst gibt es keine Wandlung – der Kommunion wird ein geringer Stellenwert eingeräumt. Sehr präsent ist das Gebet: vor beinahe jeder Mahlzeit, vor Freizeitaktivitäten, in der Schule. Die Mennonitische Gemeinde hat ein starkes Sendungsbewusstsein. In den Umliegenden Dörfern gründen sie Missionsgemeinden und eröffnen soziale Einrichtungen mit mennonitischer Prägung.

Quellen:

Sierszyn, Armin: 2000 Jahre Kirchengeschichte: Reformation und Gegenreformation: Band 3, Hänssler, Holzgerlingen 2000)

Penner, Beate: Gemeinsam unterwegs: 75 Jahre Kolonie Friesland: 1937 – 2012, Verwaltung der Kolonie Friesland, Colonia Friesland 2012

Eindrücke nach der Ankunft

In Itacurubí del Rosario ist die Sonne untergegangen und mein erster Tag in Paraguay neigt sich dem Ende zu. Es ist immernoch warm und die Luft schwer von Feuchtigkeit. Von draußen höre ich das Zirpen der Grillen. Hin und wieder dringt das Knattern eines alten Mofas auf unebener Schotterstraße an mein Ohr. Innerlich bin ich noch nicht wirklich angekommen; gesehen habe ich heute eine ganze Menge – es sind nur einige erste Eindrücke, die ich festhalten kann.

Am Flughafen in Asunción holt mich der Schulleiter des Colegios ab. Die Autofahrt bis zur Kolonie dauert in etwa drei Stunden. Das liegt vor allem am Verkehr in der paraguayischen Hauptstadt. Es gibt viel davon und sein Fluss wird durch Baustellen gebremst. Verkehrsregeln werden hier von der Mehrheit der Auto-, Bus- und Motorradfahrer sehr frei interpretiert. Dennoch scheint es zu funktionieren und mir dämmert, dass es hier sehr wohl Regeln gibt – die zwar nirgends niedergeschrieben sind, an die sich jedoch trotzdem alle halten, die mit ihnen vertraut sind.
Die meisten Häuser erstrahlen in kräftigen Farben und scheinbar überall machen die Leute Geschäfe. Wo Autos stehen bleiben müssen, nähern sich bald junge Männer, die Calabazas und Bombillas für Tereré (Trinkbecher mit filterndem Strohalm für Mate Tee), verkaufen wollen. Zu beiden Straßenseiten wechseln sich heruntergekommene kleine Läden in Wellblechhütten mit internationalen Fastfoodketten und modernen Geschäften in Neubauten ab. Vereinzelte Kühe und Pferde grasen am Straßenrand. In Asunción herrscht eine Art Chaos, das dennoch einem geheimnisvollen Ordnungsprinzip zu unterliegen scheint.
Jenseits des Stadtrandes sind die Folgen von El Niño nicht zu übersehen. Ganze Grasebenen stehen unter Wasser. Dort, wo das Wasser zurückgewichen ist, hat es weite, schwarze Wüsten zurückgelassen. Vereinzelt erheben sich zerstörte Häuser und Schuppen aus der flachen Landschaft.
Schließlich lassen wir die vom Hochwasser gezeichneten Ebenen hinter uns und erreichen die Kolonie. Dort werde von meiner Mitbewohnerin – wie von allen, die mir hier begegnen – sehr herzlich empfangen.

Überschwemmungen des Rio Paraguay

Überschwemmungen des Rio Paraguay