Archiv für den Monat: März 2016

Expedition ins Grasland

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Nach heftigen Gewittern und Regenfällen haben sich die Temperaturen abgekühlt. Das Gras ist feucht vom Tau. Der Vollmond blinzelt durch die Wolkendecke und taucht die Wiese in silbriges Licht. Eine leichte Brise zerzaust die Wipfel der Bäume. Um zehn vor sechs ist es noch dunkel, doch am Horizont lässt sich schon die Morgendämmerung erahnen.
Normalerweise beginnt die Schule um sieben Uhr, doch heute treffen bereits eine Stunde vorher Kinder ein. Mit Rucksäcken bepackt und mit Angelruten aus Bambus über den Schultern versammeln sich leise tuschelnd die Schüler der vierten, fünften und sechsten Klasse vor dem Schulgebäude. Dort warten bereits fünf Lehrer, ein Traktor mit großem Anhänger samt Fahrer und ich. Heute, einen Tag vor Beginn der Osterfeiertage, ist Wandertag. Gemeinsam hieven wir lange Bänke auf die Ladefläche – zum Sitzen. Zuerst nimmt der Rollstuhlfahrer unter den Schülern Platz auf dem Anhänger, dann folgen die restlichen Kinder.

Gut gelaunt begeben wir alle uns auf die holprige Fahrt. Laut knattert und ächzt der Traktor. Die Kinder stimmen Lieder an, die sie im Musikunterricht gelernt haben und klatschen dazu. Auf der roten, von Schlaglöchern übersäten Erdstraße geht es vorbei an Eukalyptuswäldchen, Wiesen, kleinen Seen und Flüssen.
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Schließlich machen wir an einem Wasserlauf halt. Alle klettern vom Anhänger, es werden Köder verteilt und die Kinder verstreuen sich in der Umgebung und beginnen, zu angeln. Es dauert nicht lange und der erste Pyranha hat angebissen. Schon ist unter den Schülern ein Wettstreit entfacht, wer die meisten Fische fängt. Die aufgehende Sonne wirft ihr warmes Licht auf die Szenerie. Von allen Seiten erschallt Kinderlachen.
Nachdem genug Fische gefangen worden sind, werden diese ausgenommen und in einer großen Kühlbox auf dem Anhänger verstaut, damit sie frisch bleiben bis die Kinder ihre selbst gefangenen Fische mit nach Hause nehmen können. Wir fahren noch eine Weile, bis wir zu einer Badestelle gelangen. Dort wird Volleyball gespielt und die Kinder planschen im Wasser. Nach einer Weile werden die Kinder beim Spielen unterbrochen, denn – wie die Lehrer zufällig bemerkt haben – der Osterhase war da. Im Wald wird fieberhaft gesucht; an jedes Kind hat man gedacht, sodass sich bald alle Schüler mit reicher Beute versammeln können zum Mittagessen. Danach machen wir uns auf den Heimweg.

Ich komme aus einem Land, in dem Schulklassen mit dem Bus auf Exkursion fahren, in dem die Schüler nur dann Schwimmen gehen dürfen, wenn mindestens ein Sportlehrer mit Freischwimmer anwesend ist, in dem man zum Fischen einen Angelschein benötigt und in dem man vor dem Sportunterricht Ohrringe herausnehmen oder mit Krepp-Band abkleben muss wegen der Verletzungsgefahr.
Ein Wandertag, wie ich ihn heute erlebt habe, wäre in Deutschland undenkbar und doch ist dies einer der schönsten Schulausflüge, die ich unternommen habe.

La piña – die Ananas

Die Vorhänge flattern im Wind, der durch die geöffneten Fenster in das Klassenzimmer hineinweht. An der Decke rotieren zwei Ventilatoren. Dennoch fühlt es sich so an, als stehe die Luft im Raum. Es ist kurz nach zehn am Vormittag, die fünfte Stunde hat gerade begonnen und es herrschen spätsommerliche Temperaturen von 32°C.
Die insgesamt fünfzehn Schüler der zweiten und dritten Jahrgangsstufe werden aufgrund des Lehrermangels zusammen unterrichtet. Im Augenblick hat die zweite Klasse Mathematik und rechnet Aufgaben gemeinsam mit der Klassenlehrerin. Währenddessen sind die Drittklässler mit Schreibaufgaben im Deutschunterricht beschäftigt. Auf Zetteln stehen Satzfragmente, welche die Kinder in sinnvoller Reihenfolge anordnen sollen, bevor sie die entstandenen Geschichten in ihren Heften niederschreiben. Ich gehe von Tisch zu Tisch, helfe, wenn nötig und korrigiere Fehler.

So ähnlich läuft in meiner Einführungswoche jede Stunde ab, die ich in den Klassen der Primarstufe (erste bis sechste Jahrgangsstufe) verbringe. Man setzt mich im Unterricht in allen Fächern ein. In vielen Klassen gibt es Kinder, die besonderen Förderbedarf haben. Sei es wegen körperlicher Behinderung, Lernschwäche, Konzentrationsstörungen oder wegen Sprach- und Gehörschädigungen. Dann begleite ich gezielt diese Kinder während der Unterrichtsstunden, erkläre ihnen die Aufgaben ausführlich, beantworte ihre Fragen und unterstütze sie beim Lesen und Schreiben. Manchmal wird die Klasse auch geteilt, wenn für eine Aufgabe bespielsweise ein solides Leseverständnis erforderlich ist: Der Großteil der Schüler erledigt die gestellte Aufgabe weitgehend selbstständig, während ich mit einer kleinen Gruppe von zwei bis drei Schülern den Klassenraum verlasse und wir das behandelte Thema gemeinsam erarbeiten. Einzelnen Schülern, bei denen der Förderbedarf besonders hoch ist, gebe ich gesondert Nachhilfestunden im Fach Deutsch.

Die Muttersprache vieler Schüler ist Guaraní. Da in der Primarstufe alle Fächer bis auf Geschichte und Spanisch in deutscher Sprache unterrichtet werden, treten hier oft Schwierigkeiten auf. Ab der siebten Klasse ist die Unterrichtssprache überwiegend Spanisch. Von den mennonitischen Kindern sprechen viele zu Hause Plattdeutsch.
Bei solch einer Menge verschiedener sprachlicher Einflüsse ist es kaum verwunderlich, dass eine Vermischung stattfindet. Sowohl Schüler als auch Lehrer bauen oft ganz selbstverständlich guaranische, spanische und plattdeutsche Worte in hochdeutsche Sätze ein.
Wenn ich mit den Schülern der ersten Klasse die deutschen Vokabeln für Obst wiederhole, dauert es nicht lange, bis die spanischen Begriffe genannt werden. Die Kinder bringen mir neue Vokabeln bei und schließlich lerne ich sogar mir bisher unbekannte Obstsorten kennen: Die kleinste Zitrusfrucht heißt Kumquat.

Eindrücke nach der Ankunft

In Itacurubí del Rosario ist die Sonne untergegangen und mein erster Tag in Paraguay neigt sich dem Ende zu. Es ist immernoch warm und die Luft schwer von Feuchtigkeit. Von draußen höre ich das Zirpen der Grillen. Hin und wieder dringt das Knattern eines alten Mofas auf unebener Schotterstraße an mein Ohr. Innerlich bin ich noch nicht wirklich angekommen; gesehen habe ich heute eine ganze Menge – es sind nur einige erste Eindrücke, die ich festhalten kann.

Am Flughafen in Asunción holt mich der Schulleiter des Colegios ab. Die Autofahrt bis zur Kolonie dauert in etwa drei Stunden. Das liegt vor allem am Verkehr in der paraguayischen Hauptstadt. Es gibt viel davon und sein Fluss wird durch Baustellen gebremst. Verkehrsregeln werden hier von der Mehrheit der Auto-, Bus- und Motorradfahrer sehr frei interpretiert. Dennoch scheint es zu funktionieren und mir dämmert, dass es hier sehr wohl Regeln gibt – die zwar nirgends niedergeschrieben sind, an die sich jedoch trotzdem alle halten, die mit ihnen vertraut sind.
Die meisten Häuser erstrahlen in kräftigen Farben und scheinbar überall machen die Leute Geschäfe. Wo Autos stehen bleiben müssen, nähern sich bald junge Männer, die Calabazas und Bombillas für Tereré (Trinkbecher mit filterndem Strohalm für Mate Tee), verkaufen wollen. Zu beiden Straßenseiten wechseln sich heruntergekommene kleine Läden in Wellblechhütten mit internationalen Fastfoodketten und modernen Geschäften in Neubauten ab. Vereinzelte Kühe und Pferde grasen am Straßenrand. In Asunción herrscht eine Art Chaos, das dennoch einem geheimnisvollen Ordnungsprinzip zu unterliegen scheint.
Jenseits des Stadtrandes sind die Folgen von El Niño nicht zu übersehen. Ganze Grasebenen stehen unter Wasser. Dort, wo das Wasser zurückgewichen ist, hat es weite, schwarze Wüsten zurückgelassen. Vereinzelt erheben sich zerstörte Häuser und Schuppen aus der flachen Landschaft.
Schließlich lassen wir die vom Hochwasser gezeichneten Ebenen hinter uns und erreichen die Kolonie. Dort werde von meiner Mitbewohnerin – wie von allen, die mir hier begegnen – sehr herzlich empfangen.

Überschwemmungen des Rio Paraguay

Überschwemmungen des Rio Paraguay

¡Preparados, listos, ya!

Morgen ist es endlich so weit: Abends steige ich in München ins Flugzeug und komme am Montag Morgen in Asunción an.
Gleich am Dienstag ist mein erster Arbeitstag im Colegio Friesland. Natürlich bin ich schon gespannt – trotz der kurzen Beschreibung der Einsatzstelle, die ich bekommen habe, weiß ich noch nicht genau, was meine Aufgaben sein werden. Aber bald werde ich das erfahren.
Ich versuche, nicht daran zu denken, was ich alles vermissen werde, und freue mich auf die Arbeit in der Schule, auf meine künftige Mitbewohnerin, mit der ich schon viele E-Mails gewechselt habe und auf das warme Wetter!

Vorbereitungsseminar

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Sämtliche organisatorischen Vorbereitungen, angefangen beim beantragen von Dokumenten für Visa und Versicherungen bis hin zu Reiseimpfungen und Kofferpacken, sind abgeschlossen. Immer wieder stelle ich mir die Frage: „Habe ich etwas Wichtiges vergessen?“
Bei genauerem Nachdenken muss ich mir jedoch eingestehen: Darum geht es hier in Wahrheit gar nicht. Zwar mag auf materieller und formaler Ebene alles erledigt sein. Doch es sind noch viele Fragen offen. Es ist die Ungewissheit darüber, was in den nächsten Monaten auf mich zukommt, welche für meine innere Unruhe verantwortlich ist. Letztlich aber überwiegen die Vorfreude und die Neugierde.

Seit Beginn der Bewerbungsphase im April 2015 ist eine Menge Zeit verstrichen. Nun wird es endlich konkret.
Kurz vor der Ausreise findet in der EJB Werbellinsee in Berlin ein zehntägiges Vorbereitungsseminar statt. Die 175 Freiwilligen kommen mit unterschiedlichen Erwartungen und Vorkenntnissen. Sie werden mit den verschiedenen Partnerorganisationen in Einsatzstellen in Afrika, Asien, Lateinamerika, Osteuropa, dem Nahen Osten und der GUS reisen. Es gibt die Möglichkeit, sich mit anderen Freiwilligen und Alumni auzutauschen. Meine Vorstellung von Freiwilligenarbeit im Ausland wird realer.

Inhaltlicher Schwerpunkt des Seminars sind die Themen Rassismus und Postkolonialismus. In Vorträgen wird deutlich gemacht, dass es sich bei Rassismus nicht um ein menschliches Attribut handelt, sondern um ein historisch gewachsenes Phänomen und Konstrukt.
Dabei wird auch auf  die koloniale Vergangenheit, die den Westen reich gemacht hat und deren Einflüsse bis heute in Gesellschaft und Politik erkennbar sind, aufmerksam gemacht.

In Vorträgen, Workshops und Diskussionsrunden werden Fragen aufgeworfen und diskutiert: Was macht Kultur aus? Welche Rolle haben Freiwillige in ihrer Einsatzstelle? Wie verhält man sich, wenn das im Ausland Erlebte den eigenen moralischen Wertvorstellungen widerspricht? Was ist Rassismus? Was hat Postkolonialismus mit dem Freiwilligendienst zu tun? Wie ist mit Intersektionalität umzugehen?

Zehn Tage voller Diskussionen, neuer Eindrücke und Denkanstöße liegen hinter mir. Einige Fragen werden mich gewiss nicht loslassen und während meiner Zeit in Paraguay nachwirken.
Ich habe mir vorgenommen, in den kommenden Wochen und Monaten regelmäßig zu berichten, wie ich meinen Freiwilligendienst erlebe. Ich werde mir dabei Mühe geben, nicht zu pauschalisieren. Es versteht sich jedoch von selbst, dass ich keinen umfassenden Eindruck weitergeben kann. Mein Bild von Paraguay wird geprägt sein von dem, was mir dort in der begrenzten Zeit an den Orten, an denen ich mich aufhalten werde, begegnet.
Ansonsten: viel Freude auf diesen Seiten!