Heute etwas Geschichte mit einem Artikel von Saskia Nahles:
Erinnerungen einer Postkarte
Postkartenmotiv April 1927
Es ist vielleicht der 14.April 1927, als dieser chinesische Geschäftsmann die Straßen Shanghais entlang geht. Ein Zeitgenosse, der Revolutionär Wang Fanxi schreibt:
„Shanghai war in eine Atmosphäre von Terror und Krieg gehüllt. Mit Sandsäcken und Stacheldraht verstärkte Kontrollpunkte waren überall zwischen der französischen Konzession1 und dem chinesischem Gebiet errichtet worden. Insbesondere im Alten-Westpforten-Gebiet war kaum eine Seele weit und breit zu sehen, und es war so, als könne man noch die Angst spüren und das Blut riechen, das hier vor kurzem vergossen wurde.“2
Durch diese Atmosphäre schreitet der Mann, darauf bedacht seine Schuhe nicht staubig werden zu lassen. Sein Blick, durch einen eleganten Hut nach amerikanischer Mode vor der Aprilsonne geschützt, schweift über die frischen Leichen, die die Straße bedecken. Wie abgebrochene Halme nach der Ernte liegen die Leiber junger Studenten und Arbeiter im Staub. Ihre einfache Kleidung zeigt deutlicher als eine Uniform den Unterschied zwischen ihnen und dem Mann, der jetzt seinem Begleiter ein Zeichen gibt. Der Triumph im Lächeln des Geschäftsmannes, als er sich hinter den Toten postiert, wurde damals photografisch festgehalten und ist uns heute auf dieser Postkarte erhalten geblieben.
Im Hintergrund bedecken Werbeplakate eine Wand. Der Schriftzug, „What Price Glory – The Worlds Greatest Motion Picture“, preist ausgerechnet eine schwarzweiße Stummfilmkomödie von 1926 über den ersten Weltkrieg an. Doch der Krieg in Shanghai ist keine Komödie, die Leichen sind echt. Bewaffnete Schläger und die Soldaten der Kuo Min Tang (KMT), der Nationalen Volkspartei unter der Führung von General Chiang Kai-Shek, töteten im April 1927 über 300 Menschen. Über 5000 sind verletzt oder vermisst. Warum starben diese Arbeiter und Studenten?
Am Anfang dieses bedeutsamen Monats herrschte noch Einigkeit zwischen der rechten Führung in der Nationalen Volkspartei und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) sowie den ihr zugehörigen Gewerkschaften. Es galt die Militärdiktaturen, die China nach dem Fall der Qing Dynastie unter sich aufgeteilt hatten, zu besiegen und das Land unter der Führung der Republik Chinas zu vereinigen. 1923 traten die Mitglieder der KPCh auf Anweisung ihres größten Unterstützers Stalin der KMT und damit der Ersten Einheitsfront zur Einigung Chinas bei. Ihre Streitkräfte wurden mit denen der KMT zur Nationalen Revolutionsarmee (NRA) zusammengeschlossen.
Es war jedoch nur ein Zweckbündnis, das nicht lange halten sollte. Die KMT verfolgte eine Politik der Toleranz der ausländischen Besatzungen und ihrer zunehmenden Macht in China. Gleichzeitig kokettierten sie mit den Japanern, von denen sie sich Hilfe beim Aufbau des eigenen Staates erhofften. Ihre Strategie war die zügige Modernisierung des Landes durch ausländisches Kapital und die Übernahme der Macht in ganz China. Die KPCh hingegen sah ihr Ziel in der Mobilisierung der Massen, die erst von der scheidenden Qing Dynastie, ihren Generälen und jetzt von Ausländern und der KMT missachtet wurden. Dabei stützten die Revolutionäre sich zunächst auf das gerade entstehende Industrieproletariat, dessen Zahl allerdings im Vergleich zu den Massen der Landbauern unbedeutend war. Vehement opponierten sie gegen die Besatzung durch die Kolonialmächte und die damit verbundene rassistische Repression der Chinesen. Ihr langfristiges Ziel war die Organisation der sogenannten Massenlinie sowie Landreformen und letztendlich politische Reformen, die aus der KMT hervorgehen sollten.
Trotz gegenläufiger Interessen vereinte beide Parteien der Geist des Gründers der Republik, Sun Yat-sen. Seinen unermüdlichen Bemühungen zur Zeit der Kaiserherrschaft war die Gründung der Republik zu verdanken, seinen Verdiensten gemäß wurde er „Vater der Nation“ genannt. Am 12. März 1925 stirbt Sun Yat-sen an Krebs und damit das Symbol für eine vereinte Bewegung. Als Folge eskalieren die Streitigkeiten zwischen dem rechten Flügel der KMT und dem linken Flügel, der mit der KPCh weiter zusammenarbeiten möchte.
Aber noch ist China weit davon entfernt unter dem Banner der Republik China vereint zu werden. Die nachkaiserliche Regierung ist zersplittert. Weite Teile des riesigen Landes stehen unter der Militärgewalt ehemaliger Generäle. Nach langen Vorbereitungen beginnt die junge chinesische Republik 1926 die Nordexpedition zur Vereinigung Chinas. Die Nationale Revolutionsarmee aus Streitkräften von KMT und KPCh erringt Sieg auf Sieg gegen die schlechter ausgerüsteten und unbeliebten Kriegsherren, deren Ausrüstung noch aus der Kaiserzeit stammt. Die KPCh führt in den eroberten Gebieten Landreformen zugunsten der ärmsten Bauern durch. Die Armee findet daraufhin überall die Unterstützung der armen Bevölkerung, während die reichen Grundbesitzer verfolgt werden.
Der wachsende Einfluss der Kommunisten und die Streitigkeiten in den eigenen Reihen alarmieren den Nationalisten Chiang Kai-shek, der gerade zum Oberbefehlshaber ernannt worden ist. Im Januar 1927 verlegt Chiangs Gegenspieler in der KMT, der linksorientierte Wan Jingwei, den Regierungssitz nach Wuhan, in die direkte Nähe von Shanghai. Im März besiegt dort ein Aufstand der Gewerkschaften unter der Führung Zhou Enlais die Militärdiktatur der Zhili-Clique. Es droht eine vollständige Einnahme der wichtigen Handelsstadt Shanghais durch die Kommunisten. Insbesondere sind jedoch die ausländischen Konzessionen gefährdet. Der General Chiang sieht sich zum Handeln gezwungen.
Am 20. März erringt der kommunistisch geführte Gewerkschaftsaufstand die Herrschaft in Shanghai. Auf dringendes Anraten des Politbüros in Moskau und um das Bündnis der Einheitsfront nicht zu gefährden, verzichtete die KPCh vor Ort darauf eine allseits geforderte Räteregierung zu errichten. Es wird eine republikanische Regierung gebildet und das Eintreffen der Nationalen Revolutionsarmee (NRA) vorbereitet. Aber der Konsolidierungskurs der KPCh-Führung schlägt fehl. Nach einem angeblichen Komplott zur Absetzung Chiang Kai-sheks beginnt dieser mit der zielgerichteten Vernichtung aller chinesischer Kommunisten.
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Es ist der 6. April 1927 in Shanghai. Der Oberbefehlshaber trifft sich mit Du Yuesheng, dem Führer einer Shanghaier Geheimgesellschaft namens die Grüne Bande, zu denen er Beziehungen unterhält. Ihr Opiumgeschäft, das unter der Militärdiktatur und den Kolonialmächten florierte, droht durch die Aktivitäten der KPCh sabotiert zu werden. Außerdem bedroht die Macht der Gewerkschaften ihren Einfluss. Als Gegenleistung für die Unterstützung des Generals gründen sie Gegengewerkschaften und agitieren gegen die Kommunisten. Später schließt sich ihnen der Unternehmerverband für Handel und Banken Shanghais mit einer Spende von 10 Millionen Dollar an.
Am 9. April erklärt Chiang das Kriegsrecht in Shanghai und vollzieht die Abspaltung des rechten Flügels der KMT von der KPCh und dem linken Parteiflügel. Am 11. April ergeht ein Geheimbefehl an alle Provinzregierungen, die Partei von Kommunisten zu säubern. Noch am selben Abend wird der Vorsitzende des Shanghaier Gewerkschaftsbundes Wang Shouhua ermordet.
Am folgenden Tag attackieren Schläger der Grünen Bande Streikposten und Gewerkschaftsbüros, um Chiang Kai-Shek einen Vorwand zum Eingreifen zu geben. Als Folge wird die Armee eingesetzt um die Gewerkschaftsmilizen zu entwaffnen, wobei über 300 Menschen verwundet oder getötet werden. Die Antwort lässt nicht auf sich warten: Tausende Arbeiter und Studenten demonstrieren im Rahmen eines Generalstreiks gegen das Vorgehen der Armee und protestieren vor dem Armeehauptquartier Chiang Kai-Sheks. Die Soldaten eröffnen das Feuer auf die weitgehend unbewaffneten Demonstranten, töten 100 und verwunden weitaus mehr.
Chiang Kai-Shek löst die provisorische Regierung, die Gewerkschaften und alle Organisationen unter kommunistischer Kontrolle auf. Tausende Kommunisten werden verhaftet, 300 offiziell exekutiert und mehr als 5000 sind vermisst oder geflohen. In ganz China werden Kommunisten verhaftet oder exekutiert, bis Ende des Jahres 1927 wurden allein im Shanghai 5600 Menschen inhaftiert und 2000 umgebracht. Die KPCh wurde verboten und ihre Mitglieder der Verschwörung angeklagt.
Als Folge dieser Hetzjagd gilt Chiang Kai-Shek lange Zeit als Verräter, die Witwe Sun Yat-Sens agitiert öffentlich gegen ihn. Doch mit seiner wachsenden Macht kapitulieren die linken Kräfte in der KMT und schließen sich am 15.4. der neuen KMT-Regierung unter Chiang an, nachdem ein Geheimbefehl Stalins bekannt wurde, demzufolge die Kommunisten die KMT übernehmen sollten.
Im Juni des folgenden Jahres gilt mit der Einnahme Pekings durch die KMT die Vereinigung Chinas trotz des wachsenden kommunistischen Widerstandes als vollendet. Die KMT wird international als Führung der „Republik China“ anerkannt. Chiang Kai-Shek glaubt, dass nach der Vereinigung und zunehmenden Industrialisierung die Beseitigung der Kommunisten nur noch eine Frage der Zeit ist. Doch der anhaltende Kampf stellte eine immer größere Herausforderung für den General dar. Und je mehr die Macht der Partisanen und ihres Vorkämpfers Mao Zedongs wächst, desto rücksichtsloser und verzweifelter werden die Maßnahmen, mit denen sich das Regime Chiang Kai-Sheks an der Macht hält.
Das Shanghai Massaker bedeutete bekanntermaßen nicht das Ende der Kommunistischen Partei Chinas, doch war es entscheidend für ihren Strategiewechsel vom Kampf in den Städten zum Kampf auf dem Land, der sich als der entscheidendere erwies. Es bedeutete auch das Ende des starken Einflusses der Sowjetunion und ihrer Berater in der KPCh.
Der Blick des Geschäftsmannes lässt von alledem wenig erahnen. Die neun Toten zu seinen Füßen geben jedoch eine kleine Ahnung von dem Preis, den China für seinen Weg aus der ausländischen und inländischen Unterdrückung bezahlen musste.
Quellen:
Englischer Wikipedia-Artikel zu: Shanghai-Massaker, Chiang Kai-Shek und Zhou En-Lai auf: http://en.wikipedia.org/wiki/Shanghai_massacre
http://en.wikipedia.org/wiki/Chiang_Kai-shek
http://en.wikipedia.org/wiki/Zhou_Enlai
Aufsatz “China 1927: Aufstand und Massaker in Shanghai” von Michael Koschitzki veröffentlicht am 12.4.2007 auf:
http://www.sozialismus.info/?sid=2078
1Konzession: Die Kolonialmächte Großbrittanien, USA, Deutschland, Frankreich, Belgien, Japan, Italien und Portugal sicherten sich durch militärische Übergriffe (u.a. der Opium-Krieg 1839-42) sogenannte „Konzessionen“ auf chinesischem Staatsgebiet. Innerhalb dieser Zonen galt das Recht der jeweiligen Besatzungsmacht, Chinesen waren nahezu rechtlos und durften nur zur Arbeit passieren. 1999 wurde die Insel Macau als letzte Kolonialbesetzung zurückgegeben.
2Zitiert nach: Michael Koschitzki, Berlin 12.04.2007 (link weiter oben)