Die typische „struggle“-Phase eines Freiwilligendienstes

Wie bekommt man eine aufgekratzte Klasse zum Schweigen? Wie bekommt man Kinder mit ADHS zum Stillsitzen? Wie bekommt man Lernverweigerer zum Lernen? Wie geht man mit permanenten Angriffen und Beleidigungen von Schülerseite um, ohne sich diese zu sehr anzunehmen? Wie geht man mit einem Jungen, der das Asberger-Syndrom hat, um?  Wie ist man konsequent aber nicht streng? Fragen, die mich in den letzten Wochen überschwemmen und eine schnelle Antwort verlangen. Fragen, die mich zum Schwanken bringen. Fragen, die mir niemand beantwortet aber alle erwarten ich wüsste die Antworten. Ich muss dann immer wiederholen: „Ich bin Anna, 19 Jahre alt, habe gerade Abi gemacht und bin keine Lehrerin, noch habe ich eine pädagogische Ausbildung!“ Aber das scheint hier niemand zu verstehen oder nicht verstehen zu wollen. Denn ich bin ja Europäerin. Die können alles.

Vor fast drei Wochen bekam ich das Angebot meine Einsatzstelle nach Mexiko zu wechseln.

Tagelang wog ich das eine gegen das andere ab, suchte nach Lösungen. In Mexiko würde ich mit offenen Armen empfangen werden und hatte nette Gespräche. Letztendlich tut es mir leid, das Angebot nicht angenommen zu haben. Aber ich gehöre jetzt einfach in die Dominikanische Republik. Ich erschrecke mich selbst, dass ich das so sage, aber irgendwie ist da etwas dran, auch wenn ich es noch nicht ganz greifen kann. Natürlich würde ich niemals sagen, dass ich mich hier angepasst oder komplett eingelebt habe. Auch zögere ich immer „nach Hause“ zu sagen, wenn ich ausdrücken möchte in meine Wohnung zu gehen.

Aber ich habe das Gefühl, dass ich auf einem guten Weg dahin bin und möchte die Menschen und Orte, die ich bereits kennengelernt habe nicht einfach so hinter mir lassen ohne weiter kennenzulernen. Das ist ein bisschen so, als würde man ein Überraschungs-Ei öffnen, die spannende Anleitung des Spielzeugs überfliegen, ein kleines Stück der Schokolade probieren, aber den Rest liegen lassen und das Spielzeug nicht zusammen bauen.

Und auch wegen derjenigen Schüler, die mir etwas zurückgeben: Die kleinen Schülerinnen, die mich morgens umarmen und meine Haare bestaunen, die Schüler, die im Vorbeigehen „Guten Tag, Lehrerin“ sagen und ich weiß, dass ich ihnen das beigebracht habe. Und auch die Schüler, die mich anbetteln nicht zu gehen und unbedingt Deutsch lernen wollen. Aus all diesen Gedanken entwickelte sich zwischen Telefonaten und Mails mein neuer Plan.

Ich habe nun meine Lehrzeit im Projektarbeitsformat mit 3 Lerngruppen auf 2 Tage pro Woche minimiert. Den Rest der Woche habe ich die Möglichkeit an zwei Universitäten beim Deutschunterricht zu hospitieren, Tandem-Gespräche zu führen, Nachhilfe zu geben und dort an Projekten mitzuarbeiten. Ich bin letzendlich sehr froh diese Entscheidung getroffen zu haben und habe jetzt schon viele kulturelle Erlebnisse gesammelt, die mir als Vollzeitlehrkraft sicher verwahrt geblieben wären.

Natürlich bedeutet das mehr Eigeninitiative und Herausforderung, als wenn ich die Stelle nach Mexiko, in eine „perfekte Kulturweit-Einsatzstelle“ gewechselt hätte, aber ich möchte mich dem stellen und bin offen und gespannt auf das was noch kommt. Ich denke es ist ganz normal in einem Freiwilligendienst auf unbekannte, fehlerhafte und fehlende Infrastrukturen zu stoßen und dann damit klarkommen zu müssen. Das ist Teil der Erfahrung und auch super spannend im Nachhinein!

So schnell wird die Karibik mich nicht los.

Paradiesische Ostern

Von den paar Tagen, die meine Familie mich besuchte, durfte ich noch einige Tage wunderbaren Urlaub mit ihnen während der Semana Santa genießen. Wir verbrachten eine tolle Zeit in den Gebieten, die die Aushängeschilder für die Dominikanische Republik sind, weil sie echt teilweise unwirklich erscheinen, so traumhaft ist die Natur. Aber auch zu sehen, dass das nur ein ganz kleiner Ausschnitt dieses Landes ist, ist sehr wichtig. Als mein Bruder und ich Fotos mit der dominikanischen Flagge am Strand machten, fragte uns eine Amerikanerin zu welchem Land die Flagge gehöre. Erst dachte ich, ich hätte mich verhört. Doch diese Frage der Dame verdeutlichte mir gut, dass wirklich viele Touristen hier nur in der Paradiesblase leben und das Leben dahinter nicht kennen und auch nicht kennen wollen.

Definitiv sind die karibischen Strände in den Urlaubsregionen ein Traum und man muss sich viel zu oft kneifen, damit man merkt, dass man nicht gerade in einem Urlaubskatalog stolziert, sondern das alles echt ist. Ein wunderbares Paradies!

Inspiriert vom Meeresrauschen und den vielen Glücksgefühlen der letzten Woche, habe ich noch ein kleines Gedicht verfasst:

Das Paradies?

Türkises Meer,

Grüne Palmen,

Weißer Sand,

Es ist alles hier, im paradiesischen Land.




Kneifen muss ich mich,

All das Elend sehe ich hier nicht.




Blauer Himmel,

Bunte Früchte,

Gebräunte Haut,

Alle Sorgen still und Träume laut.




Wie eine andere Welt.

Hier bekommt jeder was ihm gefällt.

Der Ort ist es, der das Land aufrecht hält?

La Zona Colonial

Wir schreiben das Jahr 1492, die Schiffe La Pinta, La Niña und Santa Maria legen im Norden der Insel Hispaniola an. An Bord: Der weltbekannte, verhasste und geliebte Christoph Kolumbus. Als hätte es das Schicksal so gewollt, mussten die Spanier zwei Mal den Standort ihrer Hauptstadt verlegen bis sie Nueva Isabela gründeten. Das heutige Santo Domingo.

Ich weiß nicht, wie viele Taínos, die vorherigen Bewohner Hispaniolas, ihre Ehre, ihre Familie und ihr Leben diesem gewissen spanischen Eroberer lassen mussten. Doch fest steht: Es befindet sich genetisch nachweislich nur noch wenig Taíno-Blut in der heutigen Bevölkerung der Dominikanischen Republik.

Was jedoch übrig geblieben ist von dieser grausamen Eroberer-Zeit, ist das UNESCO Weltkulturerbe, die Zona Colonial in Santo Domingo. Hier kann man sich gut bewegen, das ist die touristische Gegend der Stadt. Man fühlt sich an einigen Stellen als wäre man gerade in einem kleinen spanischen Dorf – sehr nett. Totales Kontrastprogramm zu dem bisher bekannten Santo Domingo: Da ist der riesige Kolumbus mit ausgetrecktem Zeigefinger, in Bronze gegossen, direkt vor der ältesten Kathedrale der „Neuen Welt“. Da gibt es Cafés und Restaurants und nette Museen über Kakao und Edelsteine. Da gibt es kleine Geschäfte und die große Fortaleza und den Fluss Ozama mit der Fähre nach Puerto Rico.

Hier kann man kurz vergessen, dass man in einer so großen, doch eher unsicheren Stadt ist. Und auch der amerikanische Einfluss rückt weiter weg. Aber trotzdem spürt man die ewige unterbewusste Anspannung in sich, alles beisammen am Körper zu haben und die Kamera nach einem Foto schnell wieder einzustecken. Umso mehr war ich stolz meine Familie, die mich hier kurz besucht hat, durch Santo Domingo zu führen, zwar mit Vorsicht, aber ohne Angst und obwohl ich noch gar nicht lange hier lebe.

Den Ausschnitt von Santo Domingo, den die Kreuzfahrt-Touristen als erstes und einziges von dieser vielseitigen Stadt sehen, lerne ich erst nach fast drei Wochen kennen, die ich hier bin. Für mich ist die Zona Colonial ein interessantes zweites oder drittes Gesicht Santo Domingos. Es ist spannend, wie unterschiedlich man einen Ort kennenlernt, abhängig davon ob man dort lebt oder Tourist ist. Ich bin gespannt wie vielen Gesichtern dieser Stadt ich noch begegnen werde.

Durchatmen

Cabarete, 7am: Verlassene, naturbelassene Strände, bestückt nur mit einer Hand voll Surfbretter, riesige Wellen, Palmen, heiße Sonne, der Sand unter den Füßen, das Salz im Mund. Für mich ein unglaubliches Durchatmen, im wahrsten Sinne des Wortes, nach den letzten stressigen, ungewissen und abenteuerlichen Wochen in Santo Domingo. Lärm, Abgase, Rufe und Blicke tauschte ich ein für Stille und Grün, soweit das Auge reicht – ein Traum. Diese Insel ist wirklich voller Kontraste.

Cabarete heißt der Ort im Norden der Insel, nahe Sosúa, am Atlantischen Ozean. 5,5 Stunden im Bus aus Santo Domingo, einmal quer durch Dörfer, Regenwald, Bergkette und Santiago. Hier in Cabarete soll man einen der besten Kitesurfspots finden.

Zwei Freundinnen und ich gingen surfen, aber ohne Kite. Dafür muss man früh aufstehen, um der gleißenden Sonne ab 11 Uhr aus dem Weg zu gehen und um die besten Stunden und weniger heißen Temperaturen genießen zu können. Die Wellen sind riesengroß aber das Glücksgefühl im Wasser und auf dem Board ist allen Adrenalin wert und trägt einen durch den Rest des Tages. Surfen macht mir echt Spaß. Am Strand und im Wasser ist man eins. Nicht nur eins mit der Natur sondern auch mit den Menschen hier. Da ist es egal woher man jetzt genau kommt oder wie  viel Geld man denn eigentlich hat, weil man ja „weiß“ ist. Hier spielt nur eines eine Rolle und das ist: Auf dem Surfboard aufstehen. Wenn das klappt und man danach noch lächelt ist man einer von ihnen und das fühlt sich gut an.

 

 

 

Ab ins kalte Wasser

“Unser Problem ist, dass wir so fern von Gott und so dicht an den USA sind.”

Kein Internet, kein warmes Wasser, allein in einer zentralamerikanischen 3 Millionen Stadt, Einsamkeit, Hitze, Arbeit als vollwertige Lehrkraft – ich denke gern zurück an den Facebook-Kommentar zu meinem EJZ-Artikel, der besagte: “Karibik ist doch Komfortzone”. Seit 3 Wochen bin ich nun hier. Die erste Zeit habe ich mich wirklich erschlagen gefühlt von so viel Neuem und Anderen auf einmal. Aber nun ist finde ich genau das eher spannend!

In Santo Domingo geht es bei Vielen leider mehr ums Überleben, leben können sich nur manche Menschen leisten.
Und leben bedeutet an dieser Stelle Dinge, die für uns absolut normal sind: Auto fahren, Internet, warmes Wasser, Klimaanlage, Bildung, Kleidung, Essen.
Festgehalten wird sich an den USA. Alle, die es sich leisten können, wollen Amerikaner sein.
Was den Dominikaner aber ausmacht, egal wieviel Geld auf dem Konto, ist sein Herz, das für jeden zu schlagen scheint.
Die Schule, in der ich arbeite, ist ein Familienbetrieb. Die Juniordirektorin und einzige Deutschlehrerin der Schule fällt momentan jedoch aus, da sie ein Baby hat.
Insofern steht mir die Aufgabe zu, acht verschiedene Altersgruppen und davon sechs täglich zu unterrichten, mich mit ihnen auszutauschen, von ihnen zu lernen.
Meine jüngste Schülerin ist vier Jahre alt, meine älteste 20 Jahre alt.
Ich stelle mich zunächst dieser Herausforderung. Ich denke ich kann sagen: Am Colegio Decroly kann man die Welt ein Stückchen besser machen. Ein bisschen friedlicher, malschauen ob ich das schaffe 🙂

Aufgrund des tropischen Tageszeitenklimas bewegen sich die Einheimischen hier wenig zu Fuß. Hinzu kommt die große Angst der Unsicherheit auf den Straßen. Nach Dunkelheit wird mir abgeraten mich draußen zu bewegen. Am Tag eingeschränkt und mit viel Vorsicht geht das.
So habe ich mich die ersten Tage nur in kleinen Kreisen bewegt.
Meine Kreise haben sich aber immer weiter vergrößert und jetzt gehe ich zum Kickboxen, zum Yoga und mache meine kleinen eigenen Einkäufe. Bewegungsmittel Nummer eins sind hier die sogenannten Carro Publicos. Das sind private Autos, die jedoch schon viele Menschen und Jahre hinter sich haben und längst in Deutschland verschrottet wären. Sie fahren die Hauptverkehrsstraßen entlang, mit offenen Fenstern oder fehlenden Türen. Wenn sie einen möglichen Mitfahrer erspähen hupen und winken die Fahrer wie wild. Wenn du mitfahren möchtest winkst du wild zurück, legst einen Sprint zu dem Blechkasten hin, springst in das Auto rein, rufst die gewünschte Straßenecke, wo du aussteigen möchtest und solltest dich mit aller Kraft festhalten weil es in rasantem Tempo weitergeht. Ampeln, Zebrastreifen und Vorfahrtsregeln sind in der Dominikanischen Republik, wenn überhaupt existent, Attrappe. Der Fahrer wird an dem nächsten stockenden Verkehrspunkt mit umgerechnet 45 Cent bezahlt.
Es ist absolut normal, dass man sich mit acht Mitfahrern in einem normalen PKW befindet – irgendwie eine nette Nähe trotz Schweiß und Fremder 🙂
Andere öffentliche Verkehrsmittel gibt es hier nicht. Nur noch die Guaguas, Busse, die nach ähnlichem Prinzip wie die Carros funktionieren nur eben etwas größer und etwas busähnlicher sind und mehr Mitfahrer fassen.

Der Sprung aus Deutschland in ein Land wie die Dominikanische Republik, wo in der Mall Gucci-Taschen für 5000$ gekauft werden und gleichzeitig im barrio die Menschen sich von Schlamm ernähren müssen, war enorm groß für mich. Doch mittlerweile habe ich mich an die Unsicherheiten, Unwegbarkeiten und die zunächst erscheinenden Unmöglichkeiten „gewöhnt“ könnte man fast sagen.
Ich freue mich darauf von dem Land in der kommenden Zeit zu lernen und mich auf das komplett andere Leben einzulassen.