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Volkstrauertag 2018

Der Volkstrauertag, immer zwei Sonntage vor dem ersten Advent begangen, war fast mein ganzes Leben lang ein Tag, mit dem ich absolut nichts verbunden habe.Vor ein paar Jahren allerdings fiel er auf ein Wochenende, das ich zufällig bei meiner Oma Gretel verbracht habe. Am Abend hat sie eine Kerze angezündet und lange stumm davor gestanden, bis ich sie irgendwann fragen musste, für was sie die Kerze denn angezündet hat. Als sie sich dann zu mir gedreht hat, hab ich ziemlich erschrocken festgestellt dass sie Tränen in den Augen hatte. Erschrocken, weil meine Oma die wahrscheinlich am wenigsten weinerliche Person der Welt gewesen ist.

„Für deinen Uropa“, hat sie geantwortet. „Ich weiß nicht, wann er gestorben ist, deshalb zünde ich am Volkstrauertag eine Kerze für ihn an.“

Je älter ich werde, desto größer ist mein Bewusstsein für die Wichtigkeit vergangener Erlebnisse, die nicht einmal die eigenen sein müssen, desto sensibler ist meine Wahrnehmung für die Geschichte der eigenen Familie, auch für Dinge, die nichts direkt mit mir zu tun haben. Wo ich früher genervt weg gehört habe, wenn von Menschen erzählt wurde, die lange tot sind und mit denen ich nur einen Namen verbinde, bin ich heute aufmerksam und versuche, mir jedes noch so kleine Detail zu merken. Damals habe ich nicht verstanden, wieso man über sechzig Jahre nach dem Tode eines Menschen noch um ihn trauert, aber seit meine Oma selbst vor zwei Jahren gestorben ist, weiß ich wohl dass es möglich ist, jemanden so sehr zu vermissen. Und ich weiß, wie wichtig es sein kann, an zumindest einem Tag im Jahr eine Kerze anzuzünden.

The living owe it to those who no longer can speak to tell their story for them.” 
― Czesław Miłosz

Mein Uropa war einer von ca. 50 Millionen Kriegstoten des Zweiten Weltkrieges. Diese unfassbare Zahl hat nach Kriegsende die Regierungen der betroffenen Länder nicht nur vor die Herausforderung gestellt, die Überreste der Gefallenen zu bergen und angemessen beizusetzen, es war eine riesige Chance, die Friedensarbeit und Völkerfreundschaft zu festigen – man kann jetzt natürlich anfangen zu streiten, ob das auch tatsächlich geschehen ist. Abkommen wurden geschlossen, gemeinsame Gedenkveranstaltungen gefeiert, ein internationales Netzwerk entstand. In Russland wird dieser Arbeit von deutscher Seite besondere Bedeutung beigemessen: In keinem anderen Land sind so viele Soldaten gefallen, in keinem anderen liegen so viele deutsche Soldaten begraben, allerdings wurde auch in keinem anderen Land von der Wehrmacht einst so brutal gewütet.

Der Friedhof Sologubowa, etwa 70km östlich von St. Petersburg gelegen, ist somit der größte Soldatenfriedhof der Welt, die Gebeine von über 50.000 Menschen ruhen hier, letztlich sollen es 80.000 sein. Ich wurde vom Generalkonsulat in St. Petersburg eingeladen, an der Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag teilzunehmen und wollte mir das nicht entgehen lassen. Nicht nur, weil ich mir generell nie etwas entgehen lassen, auf dem der Vermerk „Geschichte“ steht, sondern weil ich in den letzten Wochen oft an meine Oma denken musste, daran, was sie wohl zu meinem Auslandsaufenthalt gesagt hätte. Den Kriegstoten zu gedenken in dem Land, in dessen Erde irgendwo die Gebeine ihres Vaters ruhen, war eine Möglichkeit, über vieles nachzudenken, das ich sonst eher verdränge, weil es mich zu traurig macht.

Selbstverständlich ist die Stimmung an einem solchen Ort nicht die sonnigste, aber trotzdem habe ich mich gefreut teilhaben zu dürfen. Morgens sind die Teilnehmer mit einem Bus zum Friedhof gefahren, der vom Volksbund der deutschen Kriegsgräberfürsorge gepflegt und verwaltet wird. Einem Versehen des Busfahrer ist es zu verdanken, dass wir die Sinjawino-Höhen, einen russischen Gedenkfriedhof, nicht zuerst besucht haben und gleich nach Sologubowa gefahren sind. Das hat zwei Stunden Wartezeit bedeutet, aber auch genug Zeit, das Gelände zu erkunden. 1996 angelegt und vier Jahre später unter hoher politischer Beteiligung eingeweiht, besteht die fünf Hektar große Anlage aus drei Teilbereichen: Der eigentlichen Kriegsgräberstätte, in der nach und nach die Soldaten von anderen, kleineren Friedhöfen, sowie freigelegte Überreste umgebettet werden, direkt neben einem Friedenspark, der stetig durch Baumpflanzungen erweitert wird. Am beeindruckendsten fand ich die Mariä Himmelfahrt Kirche, in deren Keller einst ein Lazarett für verwundetete deutsche Soldaten war und die schließlich schwer beschädigt wurde. Der Volksbund hat sie renoviert und schließlich der Gemeinde übergeben. Im Kellergewölbe befindet sich eine Ausstellung zu Schicksalen des Zweiten Weltkrieges und die Namensarchive der identifizierten Gefallenen und Vermissten. Ich hatte Zeit, im Gästebuch zu blättern und war erstaunt, wie viele Menschen sich auf den Weg hierher gemacht haben, um nach zur Ruhe gebetteten Vorfahren zu suchen.

Die Gedenkveranstaltung begann mit der Ankunft von Dr. Eltje Aderhold, der Generalkonsulin, die eine Rede hielt, wie sie für diesen Anlass angemessen ist: Nicht zu lang, nicht zu pathetisch, aber doch ehrlich und mitfühlend. Anschließend hielt der Pfarrer der St. Petri – Gemeinde eine kurze Ansprache, die zu gegenseitigem Mitgefühl und Achtsamkeit aufgefordert hat. Zusammen mit den Vertretern des Volksbundes und der St. Petersburger Verwaltung hat Dr. Aderhold einen Kranz niedergelegt und wir haben gemeinsam eine Schweigeminute eingelegt. Es war eisig kalt, ein scharfer Wind blies über den Friedhof und unwillkürlich musste man daran denken, wie sich dutzende von jungen Männern in dünnen Uniformen hinter die wenigen Vorsprünge und Bäume gekauert haben. Es war ein bedrückender Moment, ebenso wie der Besuch der Sinjawino-Höhen, wo die Windböhen es schwer gemacht haben, überhaupt an den Abgrund zu treten, hinter dem sich die russische Weite erstreckt hat. Nicht zu glauben, dass an derselben Stelle vor über 70 Jahren Soldaten verblutet sind.

An diesem Tag ist mir mal wieder klar geworden, wie wichtig es ist, mit jemandem über die Gedanken und Gefühle zu sprechen, die einen mit diesem Thema überkommen. Die Zeitzeugen sterben uns allmählich weg, Gedenkstätten vermitteln oft nicht das, was sie beabsichtigen, Dokumentationen gibt es zu Hauf, vor allem langweilige. Der Zweite Weltkrieg droht zu einem der vielen abstrakten Ereignisse der Vergangenheit zu verkommen, die nicht mehr greifbar für uns sind, dem in Geschichtsbüchern stehenden Relikt einer anderen Zeit. Und doch – manchmal überkommt einen diese Flut an Eindrücken und beinahe, beinahe kann man das Grauen sehen, das sich hinter einer einzigen Steintafel auf einem Friedhof verbirgt, wird einem das Ausmaß des Grauens klar, über das man läuft. 50.000 abgeschnittene Lebensfäden, 50.000 von fünfzig Millionen. Das sind Zahlen, die unser Vorstellungsvermögen überschreiten, heute mehr denn je, denn wir haben etwas ähnliches nie selbst erlebt. Wenn ich von „wir“ spreche, meine ich im Groben meine Generation meines Landes – alle von 30 abwärts, die im Privileg einer friedlichen, einer grenzenoffenen Länderunion aufgewachsen sind und nicht im Zeitalter der auf Vergeltung und Lebensraum sinnenden Militärbündnisse. Sich das zu vergegenwärtigen kann überwältigend sein und deshalb war ich froh, an diesem Abend Kira bei mir zu haben, jemanden dem ich das anvertrauen kann, jemanden der zuhört, jemanden bei dem ich mich wohl fühle. Und mehr denn je habe ich mich danach gesehnt, meine Oma zu umarmen.

Fremdes Bedauern, für Menschen die ich nie kennen gelernt habe, gibt es das? Ja. Eine ausführlichere Antwort kann ich nicht geben. Es muss kein ständiges, kein grundsätzliches Bedauern sein, kein anhaltender Blick in die Vergangenheit, ich denke, das würde mehr Schaden anrichten als Nutzen. Aber Gedenken ist wichtig, auf welche Art auch immer, eine Kerze, einen Friedhof, einen kurzen Gedanken. Solange man sich an einen Menschen erinnert, ist er nie wirklich gestorben. Und manche Dinge sollen einfach nicht vergessen werden.

Erinnere dich der Vergessenen – eine Welt geht dir auf. – Marie von Ebner-Eschenbach