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Schule 352, ick liebe dir!

Ein ehrlicher Moment zu Beginn: Es war nicht mein primäres Ziel, an eine DSD-Schule zu gehen. Erwachsenenbildung wäre mir viel lieber gewesen und wenn es schon eine Schule sein muss, dann aber auch bitte eine deutsche Auslandsschule. Nichtsdestotrotz habe ich zugesagt, sechs Monate in der Schule 352 zu arbeiten. Was tut man nicht alles, um ins Ausland zu gehen, dachte ich mir und habe es dann weitestgehend vergessen.

Erst auf dem Vorbereitungsseminar kam mir wieder in den Sinn, dass ich fünf Tage die Woche mit Kindern arbeiten soll, haufenweise Kindern. Bilder meiner eigenen Schulzeit sind mir wieder in den Sinn gekommen, was für freche Satansbraten wir manchmal waren und das ich Kinder zwar mag, aber am besten so wenig wie möglich auf einmal. Wie soll ich da mit zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig auf einmal klarkommen? Das erste Mal hat sich ein flaues Gefühl in meinem Magen breitgemacht.

Nun, zwei Monate später kann ich guten Gewissens verkünden: Alle Befürchtungen und eventuelle Schreckensszenarien sind Hirngespinste geblieben und ich würde meine Einsatzstelle um nichts in der Welt tauschen wollen, auch wenn hier, wie wahrscheinlich überall, nicht immer alles Butter und Vanille ist.

Der Schulflur

 

Die Schule 352:

Die erste Befremdlichkeit meiner Schule steckt bereits im Namen. In Russland ist es üblich, die Schulen zu nummerieren, die 352 liegt im Krasnoselsky-Viertel, inmitten eines Hochhausblockes, dem noch viele weitere folgen, immer wieder unterbrochen von riesigen Grünflächen. Kira und ich fahren jeden Morgen knapp anderthalb Stunden zuerst mit der Metro und dann mit dem Bus vom Zentrum bis beinahe an den Stadtrand. Insgesamt 744 Schüler besuchen hier den Unterricht, von der 1. bis zur 11. Klasse, ab der 2. Klasse machen die Kinder ihre ersten Schritte in der deutschen Sprache.

Die Freiwilligen helfen grundsätzlich im Unterricht ab der 5. Klasse mit. Kira hat viel mit den Fünft- und Achtklässlern zu tun, ich habe bis auf die 7. Klassen aus jeder Jahrgangsstufe mindestens eine Klasse, die ich begleiten darf. Ein besonderer Fall sind die beiden Elftklässler, mit denen ich in der Prüfungsvorbereitung für das DSD II arbeite.

Im Fremdsprachenunterricht sind die Klassen nochmals in zwei oder drei kleinere Gruppen eingeteilt, ein System von dem der Unterricht in Baden-Württemberg sich noch eine ganze Scheibe abschneiden kann. Es ist viel einfacher, mit den einzelnen Schülern zu arbeiten, sich auf ihre Schwierigkeiten und vor allem auch auf ihre Stärken zu konzentrieren.

Da ich bisher insgesamt fünf Sätze Russisch beherrsche, liegt mein Schwerpunkt auf der mündlichen Kommunikation in Deutsch. Mit den Sechstklässlern gilt es im Moment, viel Grammatik zu üben, Aufgaben zu Passiv- und Aktivsätzen in den verschiedenen Zeitformen durchzugehen und immer wieder die Intonation oder den Satzbau zu korrigieren. Manchmal tut es mir regelrecht weh, wenn ein Schüler sich sichtlich anstrengt und sich trotzdem verhaspelt und ich ihn oder sie zum fünften Mal korrigieren muss. Dann erinnere ich mich an meine eigene Schulzeit, wie sehr ich mir über Englisch und Französisch manchmal die Haare gerauft habe und wie sehr ich es gehasst habe, vom Lehrer unterbrochen zu werden, obwohl ich mir so sicher war, das Richtige zu sagen.

Stundenvertretung kommt zwar nicht oft vor, aber wenn ein Lehrer doch einmal ausfällt, habe ich eine bei den Schülern bisher gut funktionierende Strategie: Zu Beginn der Stunde sage ich ihnen, dass wir die vom Lehrer gestellten Aufgaben so schnell wie möglich durchkauen und den Rest des Unterrichtes sprechen wir dann frei miteinander, die Jüngeren frage ich nach ihren Hobbies oder Lieblingsbüchern, mit den Älteren spiele ich „Alle stehen auf, wenn sie…“ oder „Wer ist es?“

PS: Zum Thema Bücher: Ich glaube, Deutschlehrer in Deutschland würden weinen vor Glück, wenn sie wüssten, dass ihre Schüler so gerne lesen. Irgendwie scheint das in Russland üblicher zu sein als in Deutschland und ich werde noch herausfinden, wieso!

Manchmal korrigieren wir Hausaufgaben, aber ich habe am Anfang gesagt, dass ich keine Noten geben möchte, weil ich nicht der Meinung bin, dafür qualifiziert zu sein und das wurde einmütig akzeptiert. Man räumt den Freiwilligen die Freiheit ein, selbst ein Thema zu erarbeiten oder die Landeskunde zu übernehmen. Am Tag der Deutschen Einheit haben Kira und ich beispielsweise den Neuntklässlern erklärt, wieso dieser Tag überhaupt gefeiert wird.

Die Grundschüler beim morgendlichen Frühstück.

Am meisten überrascht hat mich die Tatsache, dass die Schüler sich tatsächlich für uns interessieren und die Herzlichkeit, mit der wir nicht nur von den Lehrern, sondern vor allem von den Kindern begrüßt worden sind. Auch nach zwei Monaten sind sie immer noch neugierig, stellen Fragen und die Jüngeren strahlen vor Freude, wenn man ins Klassenzimmer kommt. Ich habe keine Schwierigkeiten, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, trotz der Sprachbarriere. In den letzten Wochen habe ich so viele Arten und Weisen gelernt, einen Gegenstand zu umschreiben, das ich über die Möglichkeiten meiner eigenen Sprache ganz überrascht bin und das trotz der vielen Jahre, die ich schon Geschichten schreibe.

Mit den älteren Schülern stellt die Sache sich ein wenig anders da. Obwohl ihre sprachlichen Möglichkeiten umfassender sind, scheint in den Sommerferien zwischen der 7. und 8. Klasse der Großteil von ihnen eine Kiefersperre verpasst zu bekommen, denn die meisten Achtklässler kriegen ihren Mund nicht auf und erst jetzt merkt man allmählich, dass sie Zutrauen fassen und ich sage ihnen immer wieder, dass es mir als Schülerin nicht besser ging und ich mich auch kaum traue, Russisch zu sprechen, vor lauter Angst mich zu blamieren.

Überhaupt, ich bin hier endgültig von der Meinung abgekommen, das Schüler in anderen Ländern auch unbedingt anders sein müssen. Klar, sie tragen andere Kleidung und ihr Stundenplan sieht anders aus, hier gibt es eine Kantine für die ich in meiner eigenen Schulzeit getötet hätte und ja, mir ist bewusst dass sie anders sozialisiert sind als ich es war. Allein die Tatsache, dass die meisten von ihnen in den umliegenden Hochhäusern aufwachsen ist etwas, das ich mir immer noch schwer vorstellen kann.

Aber es sind eben doch Kinder. Ich sehe meine Fünftklässler an und sehe mein zehnjähriges Ich, das über die Blödeleien des Klassenclowns gelacht, sich aus dem Fenster hinausgeträumt und gerne von ihren Hobbies erzählt hat, noch unendlich weit weg von dem Wort „Erwachsen“. Ich beobachte die Neuntklässler und erinnere mich an das ganze Dilemma, das in einer Fünfzehnjährigen vorgeht, das dazu gehören wollen, die Unsicherheit und gleichzeitig das Gefühl, der ganzen Welt überlegen zu sein. Die Elftklässler sitzen in unserer Übungsstunde neben mir und ich beobachte sie still von der Seite, denke daran dass sie mir erzählt haben dass sie jetzt Entscheidungen für die Zukunft treffen müssen und weiß noch ganz genau wie überfordernd das sein kann.

Sie sind mir ganz schön ans Herz gewachsen und das hätte ich nie erwartet. Manchmal möchte ich um ihretwillen den Mund aufmachen, wenn eine Lehrerin einen Schüler zum Beispiel nicht ausreden lässt, weil er ihr nicht schnell genug ist, wenn eine kreative Antwort falsch genannt wird, wenn ich der Meinung bin das eine mündliche Leistung nicht schlecht benotet werden sollte. Aber ich bin keine Lehrerin und denke immer noch, dass mir das nicht zusteht. Ehrlicherweise kommt das nicht oft vor, aber es fällt eben doch auf und ich frage mich manchmal, ob es mir auch aufgefallen wäre, würde ich in Deutschland im Unterricht sitzen.

Im September waren Schüler aus Bad Bramstedt in St. Petersburg

Was allerdings gar nicht geht und das ist meine feste Meinung, ist die Bezahlung der Lehrer. Gemessen an dem, was ich seit zwei Monaten mitbekomme, dem Aufwand, der mit diesem Job einhergeht, die Vorbereitung und Korrektur, zollt der Staat diesen Leuten nicht genug Respekt, ich finde es sogar regelrecht frech. Ein Lehrer, egal ob man ihn mag oder nicht, muss einen Haufen Zeit und Energie investieren, um die Schüler soweit zu bekommen, dass sie am Ende ihrer Schullaufbahn einen Abschluss in der Hand halten. Dass manche Lehrer hier nebenbei auf Nachhilfestunden angewiesen sind, weil ihr Gehalt nicht ausreicht, kann man nur mit Kopfschütteln beantworten.

Bevor es zwecks Visum und Zwischenseminar erstmal einige Zeit Bye St. Petersburg heißt, steht noch einiges an: Kira studiert mit den Fünftklässlern für einen Gesangswettbewerb zwischen verschiedenen Schulen den Viertels Lieder ein, die Zehntklässler werden im März an einem Theaterwettbewerb teilnehmen und ich darf ihnen beim Vorbereiten helfen. Nicht zu vergessen, Ende des Monats sind DSD II – Prüfungen und wir werden als Hilfskräfte dabei sein, sortieren und tackern was das Zeug hält, Stühle und Tische bereit stellen und freundlich dreinschauen.

Was also hab ich gelernt? Das es ein Glück sein kann, sich an die eigene Schulzeit zu erinnern, trotz allem. Und das ich hoffentlich nie vergesse, wie sich das angefühlt hat, denn, Achtung Pathos, das bringt mich meinen Schülern näher und ich bin dankbar dafür.

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Buch der Woche: Leute, lest Väter und Söhne. Ich bin begeistert, ich bin fasziniert, ich bin den ganzen Mittwoch dagesessen und hab es in einem Rutsch verschlungen. Die Geschichte um die Kirsanows und Basarows hat mich doch ein bisschen an mich und meine Eltern erinnert, trotz 150 Jahren Zeitunterschied. Und mal wieder daran erinnert, warum ich den Nihilismus problematisch finde.

Serie der Woche: How To Get Away With Murder ist immer noch mein Shit. Ich weiß einfach nicht, ob ich Annalise lieben oder hassen soll, aber Connor und Oliver sind nach wie vor meine Babys. Und kriegen sie diesen gruseligen Philipp jetzt am Arsch oder nicht? Woher kennt Annalise Wes‘ Geheimnis? Fragen über Fragen!

Lied der Woche: Angela von The Lumineers. Es ist diese Mischung aus Tränen in den Augen und durch die Gegend tanzen wollen, liebe Lumineers. Es ist genau die Mischung. Bitte hört nie auf damit.

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