Ein Zwischenbericht.

Ihr Lieben,

ich bin nun schon seit drei Monaten hier in Budapest. Vor drei Monaten saß ich mittags noch im Flughafen in Hamburg und hatte keine Ahnung, was auf mich zukommt. Ich wusste nur, dass es gut ist, dass ich gehe, ein bisschen Chaos hinter mir lasse, etwas erlebe, neues sehe, lerne und kennenlerne. Alle meinten, sechs Monate seien zwar lang, aber überschaubar. Genug Zeit um ein Land kennenzulernen, aber zu wenig Zeit, um wirklich anzukommen.

Jetzt, nach drei Monaten – zwölf Wochen – 84 Tagen – kann ich ganz sicher sagen: Das stimmt nicht. Ich bin angekommen. Und es wird mir schwer fallen, zurückzukommen. Denn drei Monate haben gereicht, um mich bedingungslos in diese Stadt zu verlieben.

Weil ich weiß, dass es nicht immer einfach ist, Blogs zu verfolgen, jeden Artikel zu lesen, weil man selbst genug um die Ohren hat, will ich die Zeit nutzen, um einen kleinen Zwischenbericht zu schreiben.

Mein Abenteuer kulturweit begann mit dem Zwischenseminar am Werbellinsee in Brandenburg. Zehn Tage Vorbereitung, Sensibilisierung.Projektmanagement, Regionengruppentreffen und und und. Eine Insel zwischen dem, was wir schon hinter uns gelassen hatten und dem, was kommen sollte. Nach dem Seminar verbrachte ich noch einen wunderschönen Abend mit tollen Menschen in Berlin, fuhr nach Hause zum Packen und dann ging es los.

Am 10. März bin ich in Budapest gelandet, wurde von einer Deutschlehrerin abgeholt und zu einem Gästehaus im 17. Bezirk gebracht, wo ich kostenlos in einem kleinen Zimmer wohnen konnte.

Die Grundschule, in der ich arbeite, ist eine Nationenschule (die Kinder entscheiden sich, ob sie Englisch oder Deutsch von der 1. Klasse an lernen wollen) und befindet sich ebenfalls im 17. Bezirk. Der Bezirk ist ein Außenbezirk, in dem man nichts mehr von dem Budapest sieht, das man als Tourist_in kennenlernt. Ich fand es im ersten Moment sehr trostlos, was sich auch in den folgenden Wochen bestätigte. Es gibt für junge Leute kaum eine Möglichkeit nachmittags etwas zu unternehmen. Die einzige Chance: Die Bus- und Metroverbindung in die Innenstadt – etwa 45 Minuten. Außerdem sind in dem Bezirk viele Menschen obdachlos, sodass ich lange gebraucht habe, um einigermaßen mit der Armut klarzukommen. Wobei “Klarkommen” definitiv zu viel wäre – das schaffe ich bis heute nicht.

An der Schule wurde ich nett empfangen, lernte gleich drei Deutsch-Lehrerinnen kennen, die sich wirklich gut um mich kümmerten und konnte mich schnell im Unterricht einbringen. Nach kurzer Zeit durfte ich eigene Unterrichtseinheiten planen und durchführen, die Kinder gewöhnten sich schnell an mich und wir fanden fast immer einen Weg, teils auch ohne Sprache zu kommunizieren. Denn Ungarisch war zu dem Zeitpunkt für mich lediglich ein Salat aus schön klingenden Lauten, die ich nicht zuordnen konnte.

Obwohl ich mich von Anfang an wohl fühlte, entschied ich mich schon nach drei Wochen, umzuziehen. Eher nebenbei schrieb ich einen Vermieter an, ob ich mir eine Wohnung in der Innenstadt angucken könne und ehe ich länger drüber nachdenken konnte, war ich auch schon umgezogen. Und diese neue Wohnung trägt jeden Tag wieder zu meinem Glück bei. Ich wohne nun direkt im Zentrum, bei der Metro-Station Astoria. Alles wichtige ist zu Fuß erreichbar, ich wohne im Jüdischen Viertel mit vielen guten Bars und Restaurants, habe im näheren Umfeld viele Möglichkeiten, feiern zu gehen, meine Freund_innen wohnen alle nah bei mir und meine ersten Mitbewohnerinnen, Maria aus Russland und Karen aus den USA, waren auch sehr nett. Die Entscheidung, so früh umzuziehen, war wahrscheinlich die beste, die ich treffen konnte. Ich zahle nicht allzu viel Miete, kann oft und viel Besuch haben und genieße mein Umfeld sehr. Dafür nehme ich auch gern in Kauf, dass ich morgens früh (um 5) aufstehen muss, um rechtzeitig in die Schule zu kommen.

Von Anfang an gehörten die Besuche der anderen Freiwilligen, sowohl von der März- als auch von der letzten September-Ausreise zu meinen Highlights, wir tauschen uns aus, erzählen uns von Sprach-Fails, unternehmen viel zusammen und sind mittlerweile gut befreundet.

In der Schule habe ich schnell meinen Rhythmus gefunden, bin mit den Lehrer_innen warm geworden und habe fleißig Schüler_innen-Namen gelernt und Räume gesucht. Ich habe zu fast allen Klassen einen Zugang gefunden, auch wenn die Demotivation (die ja definitiv auch mit dem Schulsystem in Ungarn zusammenhängt) anfangs schon ermüdend war.

Am 1. Mai habe ich zum ersten Mal Ungarische Genoss_innen der MSZP, der Sozialistischen Partei hier, getroffen und mit ihnen den Tag der Arbeit verbracht. Auf der Suche nach einer wirklichen Bezugsgruppe war ich aber nach wie vor, weil ich merken musste, dass die ungarische Sozialdemokratie nichts mit dem zu tun hat, was ich aus Deutschland gewohnt bin und was ich dort zu schätzen gelernt habe. Viele Probleme, die wir diskutieren, werden hier nicht erkannt, weil es andere Dinge gibt, die (verständlicherweise) Priorität haben.

Als nächstes Highlight kam das Zwischenseminar in Serbien. Hier trafen sich alle kulturweit-Freiwilligen aus dem mittel-/süd-/osteuropäischen Raum, um die vergangenen 2 ½ Monate zu besprechen und sich auszutauschen. Das Zwischenseminar war eine Insel des Glücks mit vielen tollen Menschen, die ich sehr zu schätzen gelernt habe und die mir sehr ans Herz gewachsen sind. Wir sprachen über LGBTIQ*-Arbeit in Serbien und trafen eine Roma, der wir Fragen zur Situation in Serbien stellen konnten. Mit dem Zwischenseminar verbanden wir zusätzlich auch eine Reise nach Belgrad und Novi Sad, sodass wir diese Städte nun auch schon gesehen haben. Danach ging es weiter nach Pécs, wo wir auch noch zwei Tage blieben.

Direkt im Anschluss fuhr ich mit einer vierten Klasse auf Klassenfahrt nach Bogács. Dort verbrachten wir viel Zeit in der Natur, die durch den Regen in den letzten Wochen erwacht zu sein schien. Alles war grün, man fuhr mit dem Bus in einen Tunnel aus Millionen Grüntönen. Gleichzeitig war diese Klassenfahrt auch eine erste Probe für meine Ungarisch-Kenntnisse, da die Kommunikation mit einer vierten Klasse sehr schwer ist auf Deutsch. Von den Kindern habe ich vieles gelernt, was über meinen eigentlichen Wortschatz hinaus geht.

Die Klassenfahrt ist nun eine Woche her. Nun sind es nur noch sieben Schultage, bis die Sommerferien beginnen. Was dann kommt? Ich bleibe bis Mitte August hier, ab übernächster Woche arbeite ich im Kindergarten, der direkt neben der Schule ist und bin sehr gespannt, inwiefern ich dort eingebunden werden kann. Ansonsten ist noch sehr viel geplant: Mitte Juni bekomme ich Besuch, Anfang Juli besuche ich eine Freiwillige in Ljubljana, danach kommt die kulturweit-Fahrradkarawane, bei der wir von Zagreb nach Belgrad fahren werden. Anschließend werde ich hoffentlich noch einen kleinen Abstecher nach Rumänien machen und einen anderen Freiwilligen in Sofia, Bulgarien besuchen.

Ansonsten steht außerdem mein kulturweit-Projekt an, an dem ich in den nächsten zwei Monaten arbeiten werden. Darüber werde ich noch einmal ausführlicher berichten. Es heißt “Was uns antreibt” und wird sich damit beschäftigen, wie sich ungarische Jugendliche organisieren, was sie motiviert, etwas ändern zu wollen.

Außerdem habe ich nun, nach wochenlanger Suche, endlich eine Gruppe gefunden, der ich mich anschließen möchte. Es ist ein Zusammenschluss aus Flüchtlingen und solidarischen Ungar_innen, die sich für eine Verbesserung der ungarischen Migrationspolitik einsetzen.

In einer Woche steht meine Ungarisch-Abschlussprüfung an, für die ich im Moment noch lernen muss. Mit dieser Prüfung schließe ich meinen 60 Stunden-Kurs ab.

Ich habe in den letzten drei Monaten nicht nur gearbeitet, gefeiert und Sehenswürdigkeiten besichtigt. Ich habe auch viel über das Land gelernt, in dem ich bin. Ich habe mich viel mit der ungarischen Politik beschäftigt, versucht zu verstehen, zu begreifen. Ich habe viel Armut gesehen, Armut hautnah in meiner Schule erlebt und mich oft machtlos gefühlt. Die Kinder in der Schule haben mir gezeigt, mit wie wenig man zufrieden sein kann, wie sehr sie sich über selbstgemachte Waffeln freuen können, wie dankbar sie sind und dass das wichtigste Wort auf einer Sprache “Danke/Köszönöm” ist.

Über die ganze Zeit habe ich mich auch damit beschäftigt, wie unterschiedlich Geschichtsschreibung in ehemaligen Ostblock-Staaten ist und inwiefern sich das auf das Leben und Denken der hier lebenden Menschen auswirkt.

Aber ich habe auch viel über mich selbst gelernt. Ich habe mir, dank einiger Freund_innen hier, eine “Semmi baj/Nema problema”-Einstellung zugelegt, sodass mich so schnell nichts mehr aus der Fassung bringt. Ich habe gelernt, Glück genau in dem Moment zu schätzen zu wissen und nicht erst im Nachhinein. Ich habe gelernt, zu sagen “Ich bin glücklich” und es auch genauso zu meinen.

Budapest ist eine unglaubliche Stadt. Sie ist so viel schöner als jede Stadt, die ich bisher gesehen habe. Es gibt weniger Beton, weniger gestresste Menschen. Es ist warm, die Donau hat etwas beruhigendes, die Nächte sind lebendig und irgendwas muss in der Luft sein, was wahnsinnig glücklich macht! Es reihen sich indische, türkische, chinesische, … Restaurants und Imbisse aneinander, wo man gut essen kann, es gibt tolle Bars, schöne Galerien und Ausstellungen, schmale Gassen, Straßencafés und Straßenmusik. Jeden Tag gibt es etwas neues zu entdecken, es gibt Dinge, die zur Gewohnheit werden und Dinge, die jeden Tag wieder überraschen. Sie ist für mich genau die richtige Mischung aus Gewohnheit und Aufregung, aus Freiheit und Sicherheit.

Nun ist der Bericht doch länger geworden, als ich gedacht hätte, deshalb stoppe ich an dieser Stelle und schreibe wieder wie gewohnt in meinem Blog weiter.

An dieser Stelle noch der kleine Hinweis: Kulturweit veranstaltet einen Blog-Wettbewerb, an dem ich teilnehme. Um mich dabei zu unterstützen, könnt ihr unter jedem Artikel den Button drücken und somit für mich bzw. den Artikel abstimmen. Ich würde mich freuen!

Es kommt viel auf mich zu und ich freue mich auf die letzten 11 Wochen meines kulturweit-Abenteuers.

Es ist wahrscheinlich die beste Zeit meines Lebens!

Viszontlátasra és viszonthállasra,
Merle