Ungarn in 26 Buchstaben. (A – E)

Nun bin ich schon einen Monat hier. Ich fühle mich wohl, bin angekommen, kenne meine Tätigkeitsfelder, habe einen geregelten Tagesablauf. Ich sitze nie rum, weil ich nicht weiß, was ich machen soll, sondern weiß immer, wen ich anrufen kann und mit wem ich was unternehmen kann. Ich kenne mich schon relativ gut aus, kenne die Metro- und Straßenbahnlinien, weiß, wo man gut essen kann und wo es billiges Bier gibt. Ich fange an, vieles zu begreifen (was aber nicht heißt, dass nicht jeden Tag neue Fragen dazu kommen 😉 )
Deshalb habe ich mich jetzt entschieden, ein kleines Ungarn-Alphabet zu schreiben. Darin will ich mit Vorurteilen/Klischees aufräumen, Eindrücke schildern und versuchen, zu zeigen, was Ungarn für mich ausmacht. Wenn ich es schaffe, werde ich dieses Alphabet jeden Monat weiterführen, bis es irgendwann halbwegs vollständig ist.

A wie Armut – Ungarn ist ein armes Land, heißt es. Das Bild, das man von Osteuropa hat, ist immer eines, das stark vom westeuropäischen Begriff abweicht. Das Bild ist immer von Armut geprägt. Und ja, es stimmt. Ich werde hier viel öfter und offensiver mit Armut konfrontiert als in Deutschland.  Dabei kann man die Armut in einer Großstadt wie Budapest wohl auch keineswegs mit der auf dem Land vergleichen und ich kann nur meine subjektiven Eindrücke schildern. Zum Einen habe ich wahrscheinlich noch nie so viele Obdachlose gesehen wie hier, weder in Berlin noch Hamburg oder anderen großen Städten. Zum Anderen sind aber auch die generellen Lebensstandards niedriger. Sowohl Lohnniveau als auch Schulausstattung (wobei die meiner Schule schon sehr gut ist) liegen weit unter deutschen Standards. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die letzten Regierungen hier ziemlich viel Mist gemacht haben, dazu aber an anderer Stelle mehr.

A wie Alkohol In Ungarn wird viel Alkohol konsumiert, heißt es. Ich würde sagen: Nein. Es ist nicht anders als in Deutschland oder sonst irgendwo. Natürlich gibt es, wie überall Negativ-Beispiele. Wo gibt es die auch nicht? Ich hatte mein erstes gleich am zweiten Tag, als ich in die Schule kam und ein Vater sein Kind mit einer Schnapsflasche in der Hand vor der Schule ablieferte. Auf meinem Weg von der Bushaltestelle zur Schule laufe ich an vielen Menschen vorbei, die schon morgens trinken. Aber das ist nicht anders als in Deutschland. Ich persönlich hatte mein erstes Pálinka-Erlebnis (Pálinka ist der Nationalschnaps) nach zwei Wochen etwa. Aber, wie ich herausgefunden habe: Das hat jede_r Freiwillige etwa zu diesem Zeitpunkt. Danach genießt man den guten Obstbrand eher mit Vorsicht…

A wie Antisemitismus – Ich habe mich schon mit Ungarn beschäftigt, bevor ich wusste, dass ich hier leben würde. Und das eher in unerfreulichem Zusammenhang: Antisemitismus. Aufarbeitung des Nationalsozialismus. 2012 stellte die Jobbik (die rechtsextreme Partei, die hier von etwa jeder_jedem 6. gewählt wird) einen Antrag, dass sich alle Menschen jüdischem Glaubens registrieren lassen sollten. Das erinnert schon ziemlich krass an den Nationalsozialismus und die Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens ab 1937. Laut Stephan Grigat machen in Ungarn etwa 46 Prozent der Menschen “die Juden” für die aktuelle Finanzkrise verantwortlich. Das ist verdammt gefährlich. Ich habe das Gefühl, und das hat sich bei einem Besuch im Haus des Terrors letzte Woche absolut bestätigt, dass Ungarn vieles aus der Vergangenheit nicht aufgearbeitet hat.

B wie Budapest – Als ich vor zwei Jahren in Budapest war, war ich absolut verzaubert von dieser Stadt und dachte, dass ich irgendwann mal zurückkommen muss. Nun bin ich hier, als wäre es Schicksal. Budapest ist die Hauptstadt Ungarns, liegt im Norden des Landes. Hier leben etwa 2 Millionen Menschen, damit ist Budapest die achtgrößte Stadt der EU. Ursprünglich entstand es aus drei eigenständigen Städten: Buda („Ofen“), Óbuda („Alt-Ofen“) und Pest. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entstand daraus Budapest. Getrennt werden Buda und Pest durch die Donau. Man kann die beiden Seiten gut auseinanderhalten, denn Buda ist geprägt von den Budaer Bergen, mitten in der Stadt vom Gellért-Berg und dem Burgberg. Unterteilt wird Budapest in 23 Bezirke. Meine Schule liegt im 17. (ganz außen auf der Pest-Seite), ich wohne im 7. Bezirk (Erszébetváros, dem jüdischen Viertel). Wer nach Budapest kommt, sollte unbedingt auf den Gellért-Berg, und von dort die Aussicht genießen. Außerdem lohnt sich das Burgviertel mit der Fischerbastei und der Kathedrale, das Parlament kann besichtigt werden, der Heldenplatz lohnt sich bei gutem Wetter, die Markthalle bietet viel frisches Obst und Gemüse. Mittlerweile gibt es 12 Brücken, davon sind, soweit ich weiß, neun für Fußgänger_innen zugänglich. Ich war noch nicht im Nationalmuseum und in der Oper, das wird aber von vielen empfohlen.

B wie billig – Man sagt, dass alles in Osteuropa billiger ist. Das erscheint auch logisch, zumal das Lohnniveau (dazu später mehr) deutlich niedriger ist als in Deutschland. Meine Erfahrungen nach einem Monat: Nein, es ist nicht alles billiger. Normal einkaufen ist in etwa auf dem gleichen Preisniveau wie in Deutschland, manchmal auch um einiges teurer. Kosmetikartikel kosten etwa doppelt so viel.  Obst und Gemüse auf dem Markt kosten (soweit ich das einschätzen kann) etwa genauso viel wie bei uns in Deutschland, sind nur um einiges frischer. Fleisch kann ich nicht beurteilen. Das einzige, was oft viel billiger ist, sind Dienstleistungen. Für einen Friseurbesuch mit allem Drum und Dran zahlt man eigentlich höchstens sieben Euro. Essen zu gehen ist oft viel billiger als bei uns. Ein Menü in der Hummus-Bar kostet mit Suppe, Sandwich, Nachtisch, Tee und einem Nachtisch etwa 4-5 Euro. Wohnen ist hier etwa genauso teuer. Ich habe mit meinem Zimmer bei der perfekten Lage einfach großes Glück gehabt, etwas bezahlbares zu bekommen. Ansonsten zahlt man 200-300 – je nach dem.  Also: Osteuropa ist nicht immer billiger.

C wie Clubs – Feiern kann man in Budapest definitiv gut. Man findet viele gute Clubs mit guter Lage (z.B. direkt am Déak Ferenc Tér), die bezahlbar sind und kann sich meist noch unter sehr vielen verschiedenen Musikrichtungen etwas aussuchen. Von der Location lohnen sich definitiv das Akvárium (das allerdings nichts mit Fischen zu tun hat, wie wir vermuteten 😀 ) und das Corvintető. Die Budapester Bars lohnen sich auch, allen voran natürlich das weltweit bekannte Szimpla, das von meiner Wohnung ungefähr zwei Minuten entfernt ist. Allerdings ist das mittlerweile sehr touriüberlaufen. Dafür findet man aber im gesamten Jüdischen Viertel, und darüber hinaus, viele nette Bars, sodass für jede_n etwas dabei ist. 

D wie dreckig – Über alle osteuropäischen Länder wird immer gesagt, dass alles dreckig und heruntergekommen ist. Darüber lässt sich sicherlich streiten. Budapest ist definitiv nicht dreckiger als andere europäische Großstädte. Heruntergekommen auch nicht. Vielmehr finde ich, dass gerade hier unglaublich viele schöne Gebäude erhalten sind und sich perfekt mit Modernem mischen. Wenn man aus dem Zentrum herausfährt, zum Beispiel in den XVII. Bezirk, wo meine Schule ist, dann sieht man vor allem Plattenbau und viele heruntergekommene Häuser. Zwischen der letzten Metrostation und dem Bezirk fährt man aus der Stadt heraus und übers Land, wo es schon sehr trostlos aussieht. Sicherlich treffen hier Armut, Krise und Desinteresse des Staates aufeinander.

D wie Demokratie – Ungarns Demokratie ist noch nicht alt. Bis 1945 war Ungarn mit der faschistischen Pfeilkreuzler-Bewegung Verbündete_r des nationalsozialistischen Deutschlands. Zu Zeiten des Ostblocks versuchte Imre Nagy eine Mehrparteien-Demokratie aufzubauen – dieser Aufstand wurde jedoch von der sowjetischen Armee niedergeschlagen. 1989 leistete die ungarische Regierung einen erheblichen Anteil an den Revolutionen in den Ostblockstaaten. Erst darauf folgte die Demokratie.  Jedoch kann man die ungarische Demokratie schon jetzt wieder in Frage stellen, da der amtierende Präsident Viktor Orbán mit seiner 2/3-Mehrheit für die Fidesz-Partei einen Kurs einschlägt, der die Demokratie an ihre Grenzen bringt. Inwiefern in Ungarn noch von einer wirklich funktionierenden Demokratie gesprochen werden kann, sollte aber an anderer Stelle ausführlicher diskutiert werden.

E wie Essen – Das Essen war neben der Sprache das, wovor ich am meisten „Angst“ hatte. Man sagt über Ungarn, dass quasi Fleisch mit Fleisch gegessen wird, dass es keine/kaum Salatbeilage gibt und dass ich es als (strenge) Vegetarierin nicht leicht haben werde. Ja, das Essen ist ein bisschen anders. Es gibt wirklich viel Fleisch, gerade in der Schule gibt es nie eine vegetarische Alternative. Insgesamt isst man sehr viel (alles andere wäre unhöflich) und sehr, sehr fettig. Aber ich finde, dass man es genauso auch umgehen kann: An fast jeder Ecke gibt es Falafel, in meiner Straße gibt es eine Hummus-Bar und oft kann man sich ein Essen einfach ohne Fleisch bestellen. Dann ist der Preis zwar nicht mehr gerechtfertig und man wird komisch angeguckt, aber es geht. In der Schule fällt es schwerer: Ich muss hier essen, allerdings bekomme ich dann oft nur eine Schale Reis pur. An das Weißbrot gewöhne ich mich langsam, lasse mir von meinem Besuch nächste Woche aber trotzdem ein Vollkornbrot mitbringen 😀 Ansonsten gibt es hier viele Spezialitäten, die man dringend probiert haben sollte: Langos, ein Teig, der in Fett gebacken wird, den man anschließend mit Salz oder Knoblauch, aber auch mit saurer Sahne und Käse essen kann. Und als Nachtisch sollte man sich Pöttyös kaufen, das ist eine gekühlte Schokolade mit Quarkfüllung. Oft findet man aber auch vieles, was man genauso auch in Deutschland findet.

E wie Europa – Es ist noch gar nicht so lange her, da hat Viktor Orbán behauptet, Ungarn gehöre zu Asien. Nein, Ungarn gehört zu Europa und seit 2004 auch zur Europäischen Union. Inwiefern momentan allerdings die Werte und Normen der EU auf Ungarn übertragbar sind, lässt sich nicht in einem kurzen Absatz erklären. Die Politik der Fidesz bzw. Orbáns entfernt sich immer weiter von europäischen Grundsätzen. Wirklich Druck ausüben kann die EU allerdings nicht, wie Martin Schulz (S&D-Fraktionsvorsitzender) im Interview mit Arte sagte. Die Rolle Ungarns für Europa bzw. die Rolle Europas für Ungarn bleibt auf jeden Fall erstmal unklar.

 

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