Lieblingsbilder: „Knapp gestohlen ist auch vorbei“

Der Bericht unseres Roadtrips im Mai ist jetzt komplett, nur mit einer einzigen Sache habe ich gelogen: Ich habe geschrieben, wir seien nach Ende unserer Tour in Uyuni ohne Komplikationen von Uyuni über La Paz und Puno bis nach Lima zurück gereist. Das ist nur die halbe Wahrheit… Nachdem dieser komplette Urlaub zwar manchmal hektisch, aber letztendlich ohne Panne verlief, musst natürlich noch einmal etwas auf den letzten Metern schief gehen…

Wir saßen also früh morgens nach 12 Stunden Fahrt von Uyuni aus in einem Frühstückscafé im Busterminal von La Paz, hatten unsere Bestellung aufgegeben, um so mit einem Frühstück die Zeit bis zu unserer frühstmöglichen Weiterreise totzuschlagen. Da traf es mich plötzlich wie ein Schlag: meine Kamera! Voller Unglauben schaute ich mich nochmal um und fand sie nicht, meine Kameratasche. Es war nicht die Art von Verlust, bei der man sich denkt: „Wo könnte sie nur sein, verdammt?!“, sondern die Art, bei der man in wenigen Sekunden die letzten Minuten Revue passieren lässt, jeden Schritt rekonstruieren kann und vor seinem inneren Auge EXAKT weiß, wo sich die Tasche befindet. In diesem Fall sah ich sie bereits wieder auf dem Rückweg Richtung Uyuni – im Bus, unter meinem Sitz, wo ich die Tasche anscheinend nicht nur gut vor Diebstahl geschützt hatte, sondern auch vor mir selbst. Ob jetzt primär Schlaftrunkenheit, Hektik oder generelle Unkonzentriertheit hierzu geführt hatten, Fakt war: ich hatte sie dort im Schatten des Sitzes stehen lassen und musste jetzt alles dafür tun, diese zurück zu bekommen. Denn es war natürlich nicht nur der materielle Wert der Kamera, um den es echt schade gewesen wäre, sondern auch der ideelle Wert der beiden Speicherkarten, auf dem die Fotos der letzten 75% des Urlaubs gespeichert waren. Die Tasche und Kamera gleichermaßen mussten wieder her, das wussten auch die anderen und so machten wir erstmal jemanden ausfindig, der uns sagen konnte, wo sich der Bus jetzt befand. Nach einer ganzen Weile, in der wir nur von einer Falschinformation zur nächsten irrten, trafen wir letztendlich auf einen Terminal-Verkehrskoordinator, der uns tatsächlich die brauchbare Information gab, dass der Bus in der „Garage“ sei. Ohne genauere Informationen, was mit dem Bus dort angestellt wurde, verstanden wir das zunächst mal als gute Nachricht, da der Bus somit noch nicht auf seiner nächsten Reise war und auch noch keine neuen Passagiere dort ein- und ausgegangen sind. Somit kehrten wir für den Moment erstmal zu den anderen zurück, um dort beim Frühstück darauf zu warten, dass der Schalter der zugehörigen Agencia auf machte.

Als es soweit war, erklärten wir der Mitarbeiterin unser Anliegen und baten sie, den Busfahrer zu kontaktieren, um unsere Tasche mit „wichtigen Medikamenten“ ausfindig zu machen. Uns war klar, dass die Suche einer Tasche mit einer Spiegelreflexkamera samt Zubehör im Gesamtwert von über 700€ ein verfrühtes Ende nehmen würde, wenn wir uns nicht dieser Notlüge bedienen würden. Nach einem kurzen Telefonat hieß es erstmal Warten auf den Rückruf des Kontaktmanns der Agencia. Im 15 Minuten Takt fragten Lina und ich immer wieder nach Neuigkeiten, letztendlich sollte der erlösende Anruf tatsächlich erst 90 Minuten später kommen. Und tatsächlich ließ die Beschreibung einer kleinen, schwarzen, eckigen Umhängetasche hoffen, dass sie meine Tasche wirklich gefunden hatten. Also ließen wir uns die Adresse der „Garage“ geben, die sich als Waschanlage entpuppen sollte, in der unser Bus, wie viele andere für seine nächste Fahrt gereinigt wurde. Also nichts wie hin! Lina und ich schnappten uns ein Taxi, während die anderen beiden bei den Sachen im Terminal blieben. Bei ihnen ließen wir auch restlos alle unsere Wertsachen abgesehen vom nötigen Taxigeld, da wir wussten, wohin die Reise geht: nach El Alto, ein leider eher unangenehmes Viertel, gerade für so auffällige Ausländer, wie wir beiden Blondies es waren. Tatsächlich dachten wir beide in diesem Moment allerdings nicht wirklich über diese Tatsache nach, was vielleicht auch einer der Gründe war, warum sich die Dinge so entwickelten, wie sie es taten…

Nachdem wir im richtigen Viertel angekommen waren, musste unser Taxifahrer mit uns noch eine ganze Weile Runden drehen und hier und da ein paar Passanten befragen, bis wir irgendwann endlich den Hinterhof entdeckten, den wir suchten. Den Taxifahrer baten wir, nur gerade diese 5 Minuten zu warten, die es dauern würde, die Tasche einzusammeln, um zum selben Preis wieder so schnell wie möglich die Rückfahrt anzutreten. So viel soll gesagt sein: es sollten mehr als 5 Minuten werden…
Nun waren wir also hier und machten sehr schnell unseren Bus ausfindig, der gerade nach erfolgreichem Waschvorgang aus dem Hinterhof gelotst wurde. Wir sprachen den älteren Mitarbeiter der Wäscherei an, der den Bus einwies und mussten dann erstmal im Schritttempo eine gefühlte Ewigkeit dem Bus hinterhertrotten, was eine wahre Qual war, wenn man bedenkt, wie nah wir an unserem Ziel waren. Schließlich war der Vorgang beendet, der Herr sprang auf den Bus auf und kam wenige Sekunden später zurück. Wir konnten kaum unsere Freude darüber verstecken, dass er tatsächlich die richtige Tasche in der Hand hielt.

Kennt ihr das Gefühl, wenn man einen Gegenstand anhebt, beispielsweise eine Milchtüte, und diese einem um die Ohren fliegt, weil man mit einem viel höheren Gewicht gerechnet hatte, als diese eigentlich besitzt? Dann wisst ihr ungefähr, wie es sich anfühlte, als ich meine leere Kameratasche entgegen nahm und sofort in mir die komplette Freude über den Fund verwelkte. Was hatte ich auch gedacht, wie einfach es sein würde? Eigentlich war es klar, dass sich eine solche Chance, den dermaßen wertvollen Inhalt einer Tasche auszuräumen, die irgendein Vollidiot von Tourist im Bus liegen gelassen hatte, niemand entgehen lassen würde. Zumal die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering war, dass eben dieser Tourist dem Bus hinterher jagen und die Tasche wieder einfordern würde. Aber jetzt war dieser Tourist tatsächlich da, zusammen mit einer Freundin, die jetzt beide voll von Adrenalin bestimmt waren, den Inhalt der Tasche wieder ausfindig zu machen.
Neben dem älteren, war auch noch ein jüngerer Mitarbeiter der Wäscherei dabei, sowie der Ansprechpartner der Agencia und der Busfahrer. Letzterer konnte bestätigen, dass Lina und ich die letzten waren, die den Bus verlassen hatten und somit war es an den beiden Reinigungskräften, ihre Beobachtungen zu schildern. Der ältere sei der erste, der den Bus nach seiner Ankunft betritt, um den Boden und die Sitze zu reinigen, gerade zu stellen, die Decken zu falten. Er habe nichts gesehen, obwohl ich zu 120% sicher war, wo sich die Tasche zu diesem Zeitpunkt befunden haben muss. Umso merkwürdiger war es, dass die jüngere Reinigungskraft, die für die oberen Gepäckablagen zuständig war, behauptete, die Tasche eben dort gefunden zu haben – allerdings bereits komplett leer. Lina und ich verbrachten die nächste Dreiviertelstunde damit, den beiden erklären zu wollen, dass ihre Aussagen nicht zueinander passten, aber irgendwann drehten wir uns nur noch im Kreis mit den beiden Herren, die weiterhin den Fragen auswichen. Inzwischen waren wir sicher, was mit dem Inhalt der Tasche passiert sein muss, was nur nicht viel nützt, wenn man irgendwann mit seinem Latein, oder besser: seinem Spanisch, am Ende ist und nicht weiß, welche Schritte man unternehmen muss, um vorwärts zu kommen. Auch eine flüchtige Durchsuchung der persönlichen Sachen der 3 beteiligten Personen, zu der diese irgendwann einwilligten, gab kein Ergebnis.

Als wir irgendwann schon fast am Ende der Hoffnungen waren, agierte jetzt der Mitarbeiter der Agencia, der am Anfang skeptisch gewesen war, jetzt aber immer mehr auf unserer Seite stand. Er bat uns, eine Weile zu warten, während er mit der jüngeren Reinigungskraft hinter der nächsten Ecke verschwand. Es dauerte etwa 20 Minuten, bis er uns irgendwann zu sich rief und uns nicht viel sagte, außer: „Hier passiert gerade irgendwas.“
Und er hatte Recht, es passierte etwas. Denn als nächstes tauchte die Chefin der Wäscherei auf, die uns nur flüchtig begrüßte und anschließend sämtliche Mitarbeiter ihre Arbeit einstellen ließ und in ihrem Büro versammelte. So blieben nur noch Lina und ich, der nette junge Mann der Agencia und der Taxifahrer übrig, der nach inzwischen einer Stunde Warten zu uns stoß, um nach dem Rechten zu sehen. Es tat uns echt Leid, ihn so lange warten gelassen zu haben und vermutlich war auch der einzige Grund, warum er noch nicht abgehauen war, dass wir ihn noch nicht für die Hinfahrt bezahlt hatten. Nun stand er aber bei uns und fieberte nach einer Kurzfassung der Ereignisse fast genauso dem Ergebnis entgegen, wie wir das taten. Die Hoffnung wuchs in jedem Fall wieder…

Keine Ahnung, was in diesem Büro passiert war, aber nach ca. 30 Minuten öffneten sich wieder die Türen, der Agencia-Mitarbeiter verschwand kurz in besagtem Büro und kam nach wenigen Minuten wieder heraus – mit der verdammten Kamera in der Hand!
Wir konnten es kaum glauben – es war surreal! Wir waren bereits an einem Punkt, an dem wir uns von der Kamera verabschiedet hatten und jetzt war sie da, samt SD-Karte darin! Das war die erste Assoziation – die zweite war: wenn die Kamera hier ist, dann ist der Rest auch noch hier. Und auch, wenn die Kamera das Herzstück des ganzen darstellte, so waren wir jetzt doch bestimmt, nach diesem Erfolgserlebnis auch noch alles an Zubehör ausfindig zu machen. Und zum Glück war uns die Chefin dahingehend gut gesonnen, schließlich wusste sie jetzt, dass an der Geschichte etwas dran war und sie sah das Image ihrer Firma gefährdet. Das war genügend Ansporn, ihre Mitarbeiter im nächsten Moment dazu zu verdonnern, gemeinsam die Mitarbeiter-Umkleide auf den Kopf zu stellen, in denen alle ihre persönlichen Dinge untergebracht waren. Auch hier standen wir außerhalb des Kabuffs und haben dementsprechend keinen Schimmer davon, was genau darin geschah, aber im Laufe der nächsten 20 Minuten kam nach und nach jedes Einzelteil der gesamten Ausrüstung zum Vorschein – Objektive, Akkus und das allerwichtigste: die zweite SD-Karte. Das letzte, was fehlte, waren am Ende nur noch zwei Objektivdeckel, die mir an diesem Punkt aber nun wirklich schnuppe waren – ich hatte die Mitarbeiter schon zu lange von ihrer Arbeit abgehalten und war nun glücklicher denn je, diese anfänglich so aussichtslose Mission mit meinem (fast) vollständigen Eigentum wieder zu verlassen. Dem Jungen der Agencia dankten wir, indem wir ihm ein wenig Geld im Geheimen zusteckten, was er sich redlich verdient hatte und über das er sich auch wirklich freute. Dasselbe wollten wir der Chefin anbieten, diese wollte aber nach mehrmaligem Angebot das Geld partout nicht annehmen, da ihr die Situation schon so unangenehm genug war. Sie konnte einem richtig leidtun, als sie sich von uns verabschiedete und (ungelogen) mit Tränen in den Augen sagte: „Bitte haben Sie kein schlechtes Bild von Bolivien! Es tut mir wirklich leid, mir ist das alles so peinlich!“
Wir taten unser bestes, sie zu trösten und bedankten uns überschwänglich, als wir endlich wieder zu unserem treuen Taxifahrer ins Taxi stiegen und zum Terminal zurück fuhren. Als Entschädigung für sein langes Warten, baten wir ihn, uns an diesem Abend zur bolivianischen Grenze zu fahren, von wo aus wir migrieren und weiter nach Puno für unseren Rückflug fahren würden. Damit schien er einverstanden, er beglückwünschte uns zu unserem Erfolg und jetzt hatten auch wir erstmals die Chance, so richtig zu realisieren, was gerade passiert war:

Wir waren also als zwei blonde Ausländer in eins der gefährlichsten Viertel von La Paz gefahren, haben dort zwei erwachsene, bolivianische Männer, umgeben von wesentlich mehr dieser Sorte, bezüglich Diebstahl direkt konfrontiert und haben es bei all den möglichen Ausgängen dieser Situation geschafft, gesund und munter und mit meinem gesamten Besitz wieder zurückzukehren. All das dank der Hilfe und dem guten Willen einiger Einheimischer, aber nicht unwesentlich auch dank unseres selbstbewussten Auftretens, unserer Sprachsicherheit und Hartnäckigkeit. Also ja, ein bisschen Stolz war dabei! Und so gab es nur noch eins im Taxi zu tun: ein Sieger-Selfie aus dem Taxi, womit dieses Lieblingsbild der Ausgabe 3 entstanden ist – ein weniger künstlerisch wertvolles Bild, dafür wahrscheinlich das mit der bisher größten Geschichte dahinter!

Und zu dem, was die Chefin der Wäscherei zu uns sagte:
„Bitte haben sie wegen dem hier kein schlechtes Bild von Bolivien!“
Ich glaube wirklich an das, was wir ihr darauf erwiderten:
„So bestimmt, wie Sie und andere waren, uns Fremde zu unterstützen und den Diebstahl Einzelner aufzuklären, so haben wir jetzt nur noch ein besseres Bild!“

In diesem Sinne: danke Bolivien, für dieses Abenteuer! Auch, wenn ich natürlich letztendlich gut und gerne darauf hätte verzichten können…

Über die Rubrik "Lieblingsbilder":
Bei all den Bildern, die ich hier in Peru sammle, ist natürlich auch immer das ein oder andere dabei, das ich besonders ins Herz schließe. Mal, weil ich es künstlerisch besonders gelungen finde, mal, weil dahinter eine für mich wichtige Bedeutung oder Geschichte steht. All diese Bilder möchte ich in regelmäßigen Abständen in der Kategorie "Lieblingsbilder" küren. Eine Übersicht dieser Bilder findet ihr hier.

Ein Gedanke zu „Lieblingsbilder: „Knapp gestohlen ist auch vorbei“

  1. Pingback: Top 3 Fun Facts über Peru - Folge 2

Kommentare sind geschlossen.