Archiv für den Monat: Mai 2015

Kurzgeschichten

Hier eine kleine Sammlung wunderschön unwichtiger aber witziger Geschichten, die mich im Alltag erfreuen…:

Der mysteriöse Mendoza-Mann
Eines meiner Lieblingserlebnisse, das ich auch schon ziemlich weit verbreitet habe…
Teil 1: Als ich vor dem Konex (oder Ciudad Cultural Konex) auf eine Freundin gewartet habe, um mit ihr zu einem Konzert zu gehen, habe ich diesen Mann gesehen, der auch wartete, den ich irgendwo schonmal gesehen hatte.
Teil 2: Am letzten Tag unseres Osterwochenendes in Mendoza hat sich dieser Mann einem Freund im Eiscafé an den Tisch neben uns gesetzt. Sie haben französisch gesprochen. Zum dritten Mal gesehen und schon in der zweiten Stadt.
Teil 3: Einen Tag später, beim Warten am Busbahnhof stand plötzlich der gleiche Mann vor mir und hat mich kurz angelächelt. Ich wusste und weiß nicht, ob aus Wiedererkennung oder Höflichkeit.
Teil 4: Auf der Nachtfahrt zurück nach Buenos Aires glaube ich, diesen Mann im (dunklen) Bus gesehen zu haben, und ich glaube, dass er mich auch gesehen hat.
Teil 5: Als ich nach Mendoza einmal etwas zu spät in der Sprachschule war, habe ich in einen Raum mit offener Tür geschaut und da saß er, hat mir mit einer Geste gezeigt in welchen Raum ich musste, und ich bin schnell reingehuscht. Ich habe mich gefühlt wie die fabelhafte Amélie, als sie herausfindet, dass der rätselhafte Mann aus dem Fotobuch weder ein Verfolgter, noch ein Untoter ist, sondern einfach nur Elektriker. Mein rätselhafter Mann ist weder ein Verfolger, noch ein Spion, sondern arbeitet einfach in meiner Sprachschule. Und kommt wahrscheinlich aus Frankreich.

Beim Warten an einer Kreuzung auf dem Heimweg von der Arbeit fuhr ein Duo an mir vorbei bestehend aus einem Pickup und einem Fahrrad, dessen Fahrer sich am Heckstück des Pickups festhielt. Er profitierte eindeutig vom Tempo des Pickups, hatte wahrscheinlich den Spaß seines Lebens und bereitete mir ein bisschen Angst und viel Freude.

In der Secundaria gibt es eine ziemlich temperamentvolle zweite Klasse (entspricht ungefähr der achten Klasse in Deutschland). Als einer der ganz besonders großen Schätzchen mal wieder irgendeinen Mist gemacht hatte und ich ihn lange/streng/intensiv anguckte, meinte der einfach nur: „Soy lindo?“, „Bin ich hübsch?“. Ja klar. Und wahrscheinlich 14 Jahre alt und ein ziemlicher Teufel.

In den Bahnen wimmelt es nur so vor Verkäufern (von Kaugummis, Socken, Schokolade, Nähzeug, Stickern, Werkzeugsets und ähnlich lebenswichtiger Dinge) und Musikern. Das Schauspiel, für das sie auf den oft langen Fahrten sorgen, scheint gewissen Spielregeln zu folgen. Ob diese Situation dazugehört oder eher ein improvisierter Akt war, weiß ich nicht genau: Ein Musiker hatte gerade sein Set aus Gitarre und Mikro aufgebaut und schon ein paar Akkorde gespielt, die sich mit den Rufen eines Schokoladenverkäufers mischten. Die beiden gaben sich ein Zeichen, der Verkäufer ratterte sein Set an Werbesprüchen runter, gab schließlich wieder ein Zeichen, und der Musiker konnte ungestört spielen und singen.

Timing sollte man niemals unterschätzen – es ist essentiell, wenn es darum geht, rein zufällig mal einen einzelnen von den viel zu vielen Facebook-Posts zu lesen und dabei herauszufinden, dass ein Freund (Connor) aus den USA, den ich seit drei Jahren nicht gesehen habe, nächsten Monat nach Buenos Aires kommt. Im Leben hätte ich nicht gedacht, gerade ihn gerade hier wieder zu treffen. Überhaupt hätte ich vor drei Jahren nicht gedacht, mal für ein halbes Jahr in Buenos Aires zu leben. Und aus dieser Perspektive, mit diesem zeitlichen Abstand wird mir ansatzweise bewusst, wie ich mich in den letzten drei Jahren verändert und was ich erlebt habe. Jetzt bin ich gespannt, wie er sich verändert hat und was er alles erlebt hat, denn für diese Art von Infos reicht Facebook dann doch nicht.

Im Kindergarten hat mir ein Mädchen (mal wieder) ein Bild mit roten und pinken Blumen und Herzen geschenkt. Als ich mich bedankte und ihr einen Kuss gab, umarmte sie mich ganz besonders stürmisch und schüttete meinen Tee über meine Beine. Auch das Bild hat ein bisschen abbekommen. Jetzt habe ich also ein doppeltes Andenken an diese herz- und beinerwärmende Situation.

El Centro del Universo de la Locura

„Kennst du das, wenn es einfach passt?“
Ooh ja, das Gefühl hatte ich, als ich mein neues Zuhause gefunden habe. Ich bin nämlich mal wieder umgezogen und diesmal sicher zum letzten Mal.
Wie angeboten war ich bei dem Haus aufgekreuzt, als es mir grad passte. Aber leider haben Klingel und Spontanität (in diesem seltenen Fall) nicht funktioniert. Also bin ich in das nächste Café gegangen: In dem hübschen Florentina stehen an den Wänden Rezeptanleitungen und Zitate, zum Beispiel eins von Isabel Allende über Essen und Liebe und darüber, dass man in beiden Fällen jede Gelegenheit wahrnehmen sollte, sonst würde man es bereuen.
Ich habe einen Submarino (heiße Schokolade) getrunken und versucht, das Gedicht „El Olvido“ von Leonardo da Vinci zu übersetzen, das mein Mitpraktikant Luca mir eigentlich für den Sprachkurs mitgegeben hatte.
Beim zweiten Versuch hatte ich dann das Glück, vor der Tür gleich einen Mitbewohner und die Vermieterin zu treffen. Sie freute sich sehr darüber, dass ich tatsächlich einfach gekommen war, wann es mir passte (man sollte wirklich öfter heiße Schokolade trinken und Gedichte übersetzen), stellte fest, dass ich eine gute Aura habe und dass sie meinen spirit mag.
Mal sehen, inwiefern es stimmt, was meine Vermieterin sagte, nämlich dass dieses Haus „el centro del universo de la locura“ (das Zentrum des Universums der Verrücktheit) sei und Verrückte geradezu anzieht.

Mit nicht nur halbherzig, sondern komplett ausgepackten Koffern, aufgehängten Fotos und der Aussicht, hier zu bleiben, fühlt sich alles gleich mehr nach Leben, weniger nach Achterbahn an. Ich habe inzwischen einen gewissen Rhythmus, wenn er auch vor allem aus Neuentdeckungen und Veränderungen besteht – ein Alltag von Unalltäglichkeiten also.

Bei der Arbeit an der Schule (ja, diesen wichtigen Aspekt habe ich bisher vernachlässigt – es hat sich immer zu viel verändert, um irgendetwas schwarz auf weiß festzuhalten):
Das Instituto Ballester Deutsche Schule besteht aus Kindergarten (Nivel Inicial), Grundschule (Primaria) und weiterführender Schule (Secundaria) am Standort Villa Ballester sowie Kindergarten und Grundschule am Standort Villa Adelina. Ich bin überall, und das finde ich super, denn gerade die Abwechslung macht die Arbeit so interessant. Außerdem bekomme ich einen Überblick über alle Altersgruppen, die wahrscheinlich selten so ganzheitlich und bunt durcheinander erlebt werden.
Wenn ich mal vom Kindergarten in die erste Grundschulklasse komme, finde ich die Kinder dort unglaublich groß und erwachsen. Wenn ich aber von der Secundaria in die Grundschule komme, fühle ich mich plötzlich von sehr kleinen Kindern umgeben. Aber egal wo, ich werde immer herzlich von Schülern und Lehrern begrüßt, mit Küsschen und verschiedenen Varianten meines Namens. Von Umarmungen und spontanen „te quiero muchos“ (Kindergarten und Primaria), über high fives und „me gusta tu jeans“ (Secundaria) bis hin zum Urlaub mit den Kindern (Lehrerzimmer) ist alles dabei. Und Gemeinsamkeiten finden sich immer.

Mit etwas weniger Schlaf (den kann man nachholen, wenn man tot ist, wird sowieso ziemlich überbewertet…), sind in der Freizeit erstaunlich viele Unternehmungen möglich.
Natürlich gehe ich immer fleißig (zweimal pro Woche für je anderthalb Stunden) zum Sprachkurs. Es hat auch etwas gebracht, vor allem natürlich in Kombination mit dem, was ich so auf der Straße und sonst überall mitbekomme, denn inzwischen fühle ich mich ganz wohl im Castellano, mache zwar tausende Fehler, aber das hält mich nicht davon ab, ähnlich viel zu reden, wie ich das auch auf Deutsch gerne tue.

Dank der lieben Ronja (auch Freiwillige hier), die mich darauf gebracht hat, gehe ich jetzt ungefähr jeden zweiten Sonntag zu Jam de Dibujo, einer Jamsession auf verschiedenen Ebenen.
Um die Atmosphäre bei meinem ersten Mal dort ein bisschen aufzuzeichnen…:
Ich sitze in einem der Stühle, deren Sitzflächen und Lehnen aus gelbem Stoff bestehen und die an allen vier Seiten um die kleine provisorische mit einem weißen Tuch bedeckten Bühne stehen. Die meisten Stühle sind besetzt, manche Leute sitzen auch auf dem Boden, und viele wechseln im Laufe des Abends mehrmals den Platz; Perspektivwechsel und so.
Nicht so sehr auf dem Stuhl als viel mehr in Gedanken bin ich komplett versunken. Meine Konzentration rast zwischen dem Aktmodell auf der kleinen Bühne in der Mitte des Raumes, den Linien und Schattierungen des Körpers und den Linien und Schattierungen auf meinem Blatt Papier. Weil die Positionen für mich als perfektionistische Zeitlupenzeichnerin ziemlich schnell wechseln, konzentriere ich mich so stark, um möglichst viel von entweder den Umrissen der gesamten Position, oder den Feinheiten eines einzelnen Details, oder im besten Falle von beidem auf meinem Blatt festzuhalten. Denn wenn die Position einmal geändert wurde, bekomme ich diesen AugenBLICK nie wieder, kann nicht großartig weiter an der Zeichnung arbeiten; dann ist sie halt, wie sie ist, in irgendeinem Moment zwischen zwei Bleistiftstrichen stehengeblieben, so wie die Position mitten in der Bewegung stehengeblieben zu sein scheint.
In dieser Konzentration bekomme ich den Livejazz teilweise kaum mehr als unterbewusst mit. Rhythmus und Melodie sind im Raum, beeinflussen meine Stimmung und die gesamte Atmosphäre, tragen zu meiner Konzentration bei und treiben mich an in meiner Zeicheneile.
In der Pause holen wir uns einen Rotwein an der Bar, unterhalten uns, zeigen uns gegenseitig unsere Zeichnungen oder erhaschen Blicke auf andere Werke. Es ist alles dabei: Ein-Strich-Kulli-Karikaturen, Bleistift, Tusche, Rötelkreide, Aquarell, Edding… und natürlich die verschiedensten Perspektiven, die immer nur die Breite eines gelben Stuhls auseinanderliegen.
Musik, Zeichnung, Körper, Gespräche, Getränke und teilweise Essen – alle Sinne werden angesprochen, jede Kunstform ist irgendwie dabei. Das alles in intimer Atmosphäre, in erster Linie natürlich wegen der Nacktheit der Modelle, aber auch wegen des Zeitpunkts eines Sonntagspätabends und des bunt gemischten, gemeinsam kreativen Publikums.

Ob Tango tanzen für mich zu einer Regelmäßigkeit wird, da bin ich noch nicht so sicher. Aber ich habe es ausprobiert, nachdem ich immer meinte, es wäre wahrscheinlich eher nicht so meins, aber okay, irgendwann müsste ich es wohl schon mal versuchen, wenn ich schon hier bin… Dieses Irgendwann war also am letzten Aprildienstag im La Catedral.
Um den Lonely Planet zu zitieren (den Eintrag habe ich erst hinterher gelesen):
“If tango can be youthful, trendy and hip, this is where you’ll find it. The grungy warehouse space [zuerst Getreide und dann Fleisch oder so] is very casual, with funky art on the walls, thrift-store furniture [und wunderhübschen Miniweingläschen für uns, weil gerade keine anderen da waren] and dim atmospheric lighting. It’s more like a young bohemian nightclub than anything else, and there’s no implied dress code – you’ll see plenty of jeans on the dancers. …”

In der nächsten Zeit werden sicher nochmal mehr Routinen entstehen, vom neuen Zuhause ausgehend, wie die Wege zum Zug für die Arbeit oder zum Chino (kleiner nicht-Ketten-Supermarkt) um die Ecke, wie Yoga auf der Dachterasse, das Laufen in den Parks hier oder die Asados am Wochenende.

Fotos von Haus, Arbeit an der Schule, Zeichnungen und anderem kommen noch…!