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Russland und seine baltischen Nachbarn

Die Uhr zeigt 6.24, in Helsinki fallen nasse Schneeklumpen vom Himmel, was mein Vorhaben, die zwei Stunden Wartezeit bis ich bei meinem Couchsurfer aufschlagen kann, mit etwas morgendlichem Sightseeing zu verkürzen, nach ein paar Minuten bereits vereitelt hat. Also sitze ich hier und tue was ich die letzten zwei Wochen nicht machen konnte, aus Zeitmangel, aber vor allem aus Unlust.

Das ist genau alles, was ich am 8. Januar zu schreiben geschafft habe, seitdem habe ich herzlich wenig Gedanken an diesen Blog verschwendet, denn ich war on the road. Wortwörtlich, per Bus, Fähre und Auto, ging es in den letzten zwei Wochen von Petersburg über Helsinki, nach Tallinn, Riga und Klaipeda auf die Kurische Nehrung, um schließlich über Riga, Tartu und Narva wieder nach Russland zu reisen. Und dazwischen bin ich krank geworden und wollte nichts weiter als im Bett zu liegen und irgendwelchen Crap auf Netflix zu schauen, aber Medikamente haben schon geregelt. Das ist allgemein der beste Tipp, den ich jedem geben kann, schafft euch eine Reiseapotheke an. Ohne hätte ich die letzten Tage der Reise nicht durchgehalten.

Einen kleinen Rückblick gibt es jedoch trotzdem, denn Russlands westliche Nachbarstaaten haben eine ganz kuriose Faszination auf mich. Aus meiner „russischen“ Perspektive nun also einige Eindrücke.

Vier Länder, eine Tatsache

Ein Zeugnis russisch-finnischer Vergangenheit ist die größte orthodoxe Kathedrale außerhalb Russlands.

Die gemeinsame Vergangenheit mit Russland scheint mir immer noch präsenter, als man zunächst glauben mag. Während Finnland das europäische Land mit der längsten Grenze zu Russland ist, gibt es keine litauisch-russische Grenze. Russisch ist zwar in allen vier Ländern eine Minderheitensprache, in Finnland allerdings von nicht einmal einem Prozent der Bevölkerung, während in Lettland und Estland etwa ein Drittel der Bevölkerung Russen oder russischstämmig sind. Zum Vergleich: In Deutschland machen alle Minderheiten etwa elf Prozent der Bevölkerung aus.

Natürlich lässt sich jetzt anführen, dass in den baltischen Staaten die Gesamtbevölkerung wesentlich kleiner ist, aber das ändert ja nichts an den zahlenmäßigen Verhältnissen. Die jahrzehntelange Zugehörigkeit zuerst zum russischen Kaiserreich und dann zur Sowjetunion hat auch linguistische Spuren hinterlassen: Russisch als Zweitsprache und Lingua franca ist im täglichen Umgang im Baltikum noch wichtiger als Englisch, das vor allem von den Jüngeren sehr gut gesprochen wird, während die Bevölkerung ab 40 Jahren fitter im Russischen ist. Russisch kann neben Englisch häufig als Zweitsprache in der Schule gewählt werden. Die meisten Finnen dagegen sprechen ein einwandfreies Englisch, würden dich aber schief anschauen wenn du sie auf Russisch ansprichst.

Auch das ist eine Tatsache: Eine Gedenktafel für Boris Jelzin in Tallinn.

aber…

Der Umgang mit der jeweilig russischen Vergangenheit in jedem Land ist ein völlig anderer. Während ich den Eindruck hatte, das wird in Finnland verhältnismäßig entspannt gesehen und man ist eher pragmatisch eingestellt, ist die Sache im Baltikum schwieriger. Russland hat sich, um es mal nett auszudrücken, einigen Scheiß in diesen drei Ländern geleistet (stalinistische Deportationen, bewaffnete Auseinandersetzungen, Unterdrückung jedweden Nationalgefühls) und vieles davon ist noch nicht allzu lange her, Stichwort Vilniusser Blutsonntag. Dass da nichts vergessen wurde, kann man verstehen und insofern macht die baltische Orientierung gen Europa Sinn, die sich unter anderem im NATO- und EU-Beitritt 2004 gezeigt hat. Und doch, der Umgang der estnischen und lettischen Politik mit den Russen im Land kann man, mit viel Freundlichkeit, kontrovers nennen. Dass sie nicht wählen dürfen – geschenkt. Allerdings ist es dir als russischstämmiger Bewohner Lett-/Estlands auch nicht erlaubt, Beamter, Polizist oder Offizier zu werden und bei der Rente wirst du auch benachteiligt. Ach ja und Schengen kannst du dir gleich abschminken, Reisen ins und Arbeiten im EU-Ausland wird dir nämlich von der eigenen Regierung schön schwer gemacht. Nichtbürger werden seit 1991 ehemalige Sowjetbürger und ihre Nachkommen genannt, offiziell ein Provisorium, de facto allerdings eine festgeschriebene Tatsache. Das Ganze wird schon seit Jahren von der EU angekreidet, aber geändert hat sich bis jetzt nicht viel, trotz gut gemeinter Vorstöße und trotz teilweise breiter Unterstützung in der Bevölkerung. Es gibt immer noch viel Misstrauen, immer noch viel Ressentiments, aber es gibt auch viele Stimmen, die das hinter sich lassen wollen. Vergangenheit ist Vergangenheit, oder?

Ein Blick aus den Fenstern der lettischen Nationalbibliothek in Riga.

Nein.

Deshalb bin ich ja so geschichtsgierig, du kannst nichts jemals wirklich zu verstehen versuchen, wenn du dich nicht zumindest ein bisschen mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Das ist langatmig, nervenaufreibend, frustrierend, aber eben auch unheimlich spannend. Und gerade deshalb ist es so schwierig, die Problematik nachzuvollziehen. Geschichte ist nicht schwarz-weiß, so schön das manchmal auch wäre und Lösungen sind dementsprechend nie einfach. Alles was ich weiß ist, dass im Wahrnehmen und Akzeptieren von Unterschieden mehr Heil als Schaden liegt und dass es dann auch eine Möglichkeit gibt, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Und die Erkenntnis ist jetzt nicht so bahnbrechend und brandneu, dass sie nicht auch mal ein paar Politikern kommen könnte.

Das gefrorene Meer haben die baltischen Staaten mit Russland gemeinsam.

Des Weiteren:

Somit also willkommen im Neuen Jahr und im letzten Monat meines Russland-Aufenthaltes. Geschichtlich wird es wohl auch weitergehen, am 27. Januar jährt sich das Ende der Leningrader Blockade zum 75. Mal und ich bin schon fleißig am recherchieren, um einen Beitrag zu verfassen. Wir wurden nämlich vom Deutsch-russischen Beziehungswerk eingeladen, an verschiedenen Veranstaltungen teilzunehmen und ich nehme das dankbar an.

Außerdem: Im Moment frage ich mich, ob ich diese Art von Bloggen auf meinem persönlichen Blog weiterbetreiben soll. Es macht mir eine Menge Spaß, auf verschiedene Aspekte eines Auslandsaufenthaltes einzugehen und auch mein Lieblingsthema – ihr werdet es nie erraten, Geschichte – etwas ausführlicher zu behandeln. Und mit St. Petersburg endet das Abenteuer ja noch lange nicht.