Opposition, Zuckerwatte und Bier.

An den 1. Mai letztes Jahr erinnere ich mich noch genau. Wir hatten wochenlang mobilisiert, weil sich die Nazis in Neumünster in Schleswig-Holstein angekündigt hatten. Und letztendlich waren dann etwa 5.000 Menschen vor Ort, die die Nazis klar wissen ließen: Den 1. Mai lassen wir uns nicht nehmen. Und diese 5.000 Menschen kamen aus ganz unterschiedlichen Kontexten – aus Gewerkschaften, aus linken Parteien, Antifa, Bürger_innen, die einfach kein Bock auf Nazis hatten. Die zwei Jahre davor hatte ich in Itzehoe an der Gewerkschaftsdemo teilgenommen. Auch dort waren Gewerkschafter_innen, linke Parteien und interessierte Bürger_innen. Auch wenn die Resonance oft nicht so berauschend ist, wie man sie sich erhofft, so sind dennoch politische Inhalte erkennbar. Am 1. Mai geht es um Lohngerechtigkeit, Equal Pay und viele weitere Forderungen der Gewerkschaften. Der 1. Mai hat Tradition und stand für mich, seit ich politisch interessiert und aktiv bin, immer im Zeichen der Arbeit. Während sich viele Freund_innen von mir darüber freuten, einen Tag frei zu haben ,bin ich früh aufgestanden um zu Maikundgebungen oder Naziblockaden zu fahren. Aus diesem Grund war es für mich selbstverständlich, dass ich den Tag der Arbeit auch hier in Ungarn auf einer Demo oder Kundgebung, gemeinsam mit den Genoss_innen von der MSZP, verbringen würde. Ich wusste nicht, was auf mich zukommt, wusste nur, wann ich mich wo mit einer Genossin treffen würde. Sie holte mich von der Metro-Station ab, dann gingen wir in den Park, wo der Treffpunkt sein sollte (zu dem Zeitpunkt war ich noch fest überzeugt, dass dort eine große Kundgebung stattfinden würde!). Wir gingen zwischen einem Riesenrad, einer Achterbahn, Bratwurst und Bier, Eis und kleinen Bühnen durch. Das ist also der 1. Mai in Ungarn. Ein Volksfest ohne jeglichen politischen Inhalt.

Diese Haltung bzw. dieser Umgang mit dem Tag der Arbeit rührt noch aus der Ostblock-Zeit her, da alle Menschen gezwungen waren, an den Feierlichkeiten teilzunehmen, diese Feierlichkeiten jedoch keine politische Kritik implizierten. Stattdessen (wie mir ältere Genoss_innen erklärten) ging man einfach los, traf Bekannte und trank Bier. Das hat sich nicht geändert. Der Tag der Arbeit wird hier nicht als politisches Ereignis, sondern eher als nettes Volksfest wahrgenommen. Es gab zwar politische Reden (unter anderem von Attila Mesterházy, dem Parteivorsitzenden der MSZP), jedoch wurden die so unglücklich auf die Mittagszeit gelegt, dass die meisten Menschen zu dieser Zeit gerade am Bratwurststand waren. Auch hatte seine Rede wenig mit dem Sinn des 1. Mai zu tun, er sprach nur darüber, dass man die Fidesz 2014 ablösen müsse. Noch nicht einmal die ungarischen Jusos waren daran interessiert seine Rede zu hören, sondern kamen nur mit, weil ich sie hören wollte.

Ich empfinde es als absolut desillusionierend, dass die Opposition hier die Chance nicht nutzt und gegen die nationalistische und unsoziale Politik der Regierung mobilisiert und aufbringt, sondern sich stattdessen mit einem Fest mit Bratwurst, Zuckerwatte, Kinderschminken und Riesenrad begnügt, das keinerlei politische Alternative aufweist.
Wie wenig in der Opposition passiert, habe ich in den letzten zwei Monaten oft gemerkt. Als ich nach Ungarn kam, habe ich sofort den Kontakt zu der Sozialistischen Jugend gesucht, wollte mitmachen, wollte mich informieren und vielleicht zu ein bisschen mehr europäischem Zusammenhalt verhelfen. Allerdings gab es in den letzten zwei Monaten kein einziges Treffen, keine Veranstaltung, nichts. Nebenbei hatte ich öfter angemerkt, dass ich zum Workers Youth Festival nach Dortmund fahren würde und dass ich mich über ein paar Genoss_innen aus Ungarn freuen würde. Ich hätte sogar die Anreise organisiert und alles übersetzt. Trotzdem war niemand daran interessiert, europäische Schwesterorganisationen zu treffen. Dabei war ich der Meinung, dass gerade jetzt europäische Solidarität für Ungarn wichtig wäre.

In einer Jugendorganisation, die sich in einer Krise wie der Ungarischen befindet. ist es nicht leicht, zu arbeiten. Von den Jusos bin ich es gewohnt, viel über Theorie zu sprechen. Vieles wird in der Theorie diskutiert und dann in die Praxis umgesetzt. Hier scheint es keinen wirklichen theoretischen Unterbau zu geben. Schon gar keinen auch nur ansatzweise sozialistischen. Dass die MSZP Baloldali Ifjúsági Mosgalo anders ist als wir Jusos, das war natürlich klar. Ungarn hat andere Probleme und viele unserer Debatten treffen deren Lebensrealität nicht (bzw.: Sie treffen die Lebensrealtität natürlich. Nur haben sie hier aufgrund schwerwiegender Probleme keine Priorität). Deswegen war dieser 1. Mai auch völlig normal für die ungarischen Genoss_innen, während es mich überhaupt nicht befriedigt hat, Livemusik zu hören und in der Sonne zu sitzen.

Ich habe nicht das Recht, über die Opposition zu urteilen, weil ich deren Arbeit nur in kleinen Teilen verfolgen kann und hier nur zu Besuch bin und deswegen die Situation noch einmal aus einer anderen Sicht sehe. Aber: Wenn jemand hier die Demokratie nach und nach abschafft, wenn Antisemitismus zur Normalität wird, wenn Menschen, die Hilfe suchen, keine Hilfe bekommen, wenn eine rechtsextremistische Partei 16 Prozent bekommt und man nicht mehr überlegt, auszuwandern, sondern die einzige Frage ist, wann man das Land verlässt, dann könnte ich nicht mehr ruhig bei Zuckerwatte und Bier mich selbst feiern und nichts tun.

IMG_2258