Manchmal macht es auch ein bisschen Spaß.

Nachdem ich alle Pappenheimer*innen zu Hause einmal  zu Gesicht bekommen habe, sehe ich dem Abschied doch wieder eher … skeptisch ins Auge.

Mehr lethargisch als deprimiert steige ich am 30. Dezember in das Flugzeug, um einige Stunden später die „Welcome to Belarus“- Schilder mit einem Stirnrunzeln zu quittieren.

Wenigstens ist mein Vereinsamen noch um einen Moment verschoben: Silvester werde ich mit Roman, Zoe, Tabea und Amelie in Minsk verbringen.  Netterweise hat uns Tanja –die Leiterin des GI- ihre Wohnung dafür zur Verfügung gestellt, was bei einer Gruppe fünf junger Menschen, die mehr fremd als alles andere sind, nicht selbstverständlich ist.

außer Betrieb

Bevor ich aber mit irgendwem irgendein Wort wechsle, kehre ich der alten Gewohnheit folgend ins Golden Coffee am Bahnhof ein und beginne bei einem Kaffee-Latte mit Bananensirup zu akzeptieren, dass ich jetzt noch knappe zwei Monate hier sein werde und dass es sicher nicht einfach wird, aber versuche mich davon zu überzeugen, dass es vor allem auch nicht so schrecklich wird, wie ich befürchte.

Als ich die anderen treffe, verfliegen meine Sorgen vorerst; ich bin dankbar für jede erdenkliche Art der Ablenkung. Das Wochenende wird dann auch tatsächlich ganz gut: An Silvester geht es mittags ins Ballett: Wir schauen uns den Nussknacker an und ich, die eigentlich mehr dem Theater geneigt ist, bin vollkommen begeistert!!!

Balschoi Theater in Minsk

Den Abend beginnen wir mit ABBA und Queen (für die ganz Mutigen –oder Alkoholisierten- auch in Karaoke-Version) und machen uns dann kurz vor Mitternacht auf den Weg zum Oktoberplatz; wir haben uns sagen lassen, dass es Tradition sei, hier gemeinsam den Jahreswechsel zu feiern und dabei eine Flasche sowjetischen Sekt zu teilen. Als wir schließlich um kurz vor zwölf eintreffen, ist der Platz allerdings noch ziemlich leer. Vielleicht, weil Neujahr bei den meisten ein Familienfest –ähnlich wie bei uns Weihnachten- ist und alle noch zu Hause sind?

Wir für unseren Teil lassen uns aber nicht davon abhalten, den Sekt zu öffnen und ihn mit gefühlt 30 zu leeren, was im Nachhinein wahrscheinlich weniger hygienisch ist. Kurze Zeit später beginnt ein Konzert diverser Künstler, das zumindest ich aber nur halb genießen kann, weil die Kälte langsam aber sicher durch die Kleidung bis auf die Knochen sickert.

Übrigens gibt es nur ein richtiges Feuerwerk und das ist eines dieser professionellen, die man sich zehn Minuten lang begeistert anschaut, bis sie vorbei sind und man sich wichtigeren Dingen widmet.

-Also bitte, Belarus! Da habe ich schon mehr erwartet!

Zum Abschluss geht es noch kurz in das uns ebenso wie das Golden Coffee zur Gewohnheit gewordene Bar-Viertel, aber am Ende siegen doch Müdigkeit und Kälte und wir treten den Rückweg an. Roman und ich haben die grandiose Idee, zur Wohnung zu joggen und was das Vermeiden etwaiger Unterkühlungen angeht ist die Entscheidung gar nicht schlecht. Allerdings eignen sich Strumpfhose, Rock und Winterjacke eher mittelgut, um darin Sport zu machen.

Nach dem Wochenende steige ich nun endgültig in den Zug nach Orscha und siehe da: Ich muss in den Ferien doch nicht zur Schule (bevor ich nach Hause geflogen war, stand eigentlich auf dem Plan, dass ich mein Freiwilligenprojekt in der Zeit auf die Beine stellen soll). Das ist zwar einerseits gut, weil ich wirklich keine Ahnung habe, wie ich die restliche Zeit vor der Tafel hinter mich bringen soll, andererseits heißt das auch, dass ich jetzt eine Woche, die ich garantiert besser zu Hause hätte nutzen können, in meiner Wohnung vergammele.

Zumindest lerne ich ein bisschen Russisch, schaue mich nach Unis und Praktika um und werfe auch einen Blick auf WGs.

Bevor ich hier gewohnt habe, bin ich immer der festen Überzeugung gewesen,  dass ich unter keinen Umständen mit anderen Menschen eine Wohnung teilen möchte, und erst recht nicht mit solchen, die mir völlig fremd sind.

Alleine zu wohnen ist aber –zumindest für mich- auch nicht die Erfüllung: Ich koche alleine, ich esse alleine, ich putze alleine und ich werde alleine mit Spinnen fertig (oder betrete drei Wochen lang die Küche nicht mehr). Es besteht so sehr die Gefahr in einen eintönigen und monotonen Alltag zu geraten, dass ich das auch regelmäßig tue. Es ist niemand da, mit dem ich Serien schauen oder über Lektüren diskutieren kann und erst recht niemand, mit dem ich mal irgendetwas unternehmen kann. -Klar können Spaziergänge und andere Aktionen auch alleine schön sein, aber irgendwann reicht es dann eben auch wieder.

Abgesehen kann man in Orscha wie gesagt auch gar nicht so viel unternehmen. Irgendwann wird es ziemlich einsam.

Ich habe sogar schon mit ein paar alten Freunden und Freundinnen darüber gesprochen, wie sie das mit dem Wohnen eigentlich lösen wollen oder schon tun. Das ist ganz unterschiedlich: Eine möchte erstmal in Wohnheim, eine andere wohnt im Moment noch alleine, wieder andere sind noch bei ihren Eltern und einige wollen mit ihren jeweiligen Partner*innen zusammenziehen.

Allerdings kommt beim Thema WG immer wieder die gleiche Problematik auf: Alle haben Angst vor diesem Mitbewohner (oder der Mitbewohnerin), der oder die den Kühlschrank leer isst, Saugen als völlig überbewertet empfindet und gerne mal den ein oder anderen getragenen Socken herumliegen lässt.

Tja. Ich habe Angst, dass ich genau diese Mitbewohnerin bin.

Also falls das jetzt eine chaotische Kiffer-WG aus Münster liest, die noch ein Zimmer frei hat: Hier bin ich!

Falls allerdings eine weniger chaotische und weniger kiffende WG aus Münster hierüber stolpert: Ich kann mich a) auch zusammenreißen und b) mache ich hervorragendes Apfel-Himbeer-Crumble (das gilt übrigens auch für die Chaoten-WG) Ach ja und was studiert ihr denn bitte, dass ihr c) nicht kifft?

Um aber zum Thema zurückzufinden: Ich bekomme die freie Woche schon irgendwie herum.

Wieder in der Schule bin ich vor allem mit unserem Projekt beschäftigt: Mit drei anderen Freiwilligen gemeinsam versuchen wir mit unseren jeweiligen Klassen ein Musikvideo zu „Auf uns“ von Andreas Bourani zu schneiden.

Ich kann dazu bisher nur sagen, dass ich es mir sehr spannend vorstelle, auf „Wer friert uns diesen Moment ein“ Kinder zu filmen, die in die Schule gehen, gefolgt von einer entbindenden Frau zu „besser kann es nicht sein“ und einem Mann, der bei „ewige[r] Treue“ an seinen Kuchen denkt, aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Dann kommt auch schon wieder neuer Besuch aus Deutschland, diesmal in Form einer meiner Schulfreunde, ohne den die Zeit im Deutsch-LK nur halb so anstrengend und halb so lustig gewesen wäre.

Wir fahren am ersten Tag zu Amelie und Tabea, wo wir ein Hockeyspiel anschauen, das Dynamit Maladetschna zwar verliert, aber trotzdem spannend und mitreißend ist.

Den Rest der Zeit verbringen wir -teilweise alleine, teilweise zu viert- mit Sightseeing, Essen, shoppen, Essen und ein bisschen Wodka in Minsk. Wie immer geht auch diese Zeit viel zu schnell vorbei und ich bin gezwungen, endgültig in den Schulalltag einzutauchen.

Heute sehe ich Irina nach den Ferien zum ersten Mal wieder, denn sie war mit einigen besonders guten Schülern und Schülerinnen bei der Deutscholympiade. Vanja aus der 11. und  Uljana aus der 10. Klasse haben jeweils den zweiten Platz belegt. Das ist hier deutlich wertvoller als bei uns: Die Platzierungen glänzen natürlich im Lebenslauf, verschaffen aber auch und vor allem ernsthafte Chancen auf ein Studium.

In meinen restlichen vier Wochen hier werde ich jetzt wie bereits erwähnt noch irgendwie versuchen, dieses Projekt über die Bühne zu bringen und mir die restliche Zeit mit meinen mich vor geistiger Insolvenz rettenden Lektüren verbringen.

„Hiob“ (Joseph Roth) und wider Erwarten „Der Process“ (Franz Kafka) haben an dieser Stelle eine besondere Erwähnung verdient: Wenn ihr einmal das Gefühl habt, in eine verzwickte Lage zu geraten zu sein, in der Kräfte auf euch wirken, die ihr scheinbar –oder anscheinend- nicht kontrollieren und durchdringen könnt, wenn ihr Unrecht erfahrt oder einfach enttäuscht vom Leben –das hört sich jetzt suizidaler an als es soll- seid und wenn ihr gerne lest, dann gebt euch die beiden und seid versichert: Ihr seid nicht die einzigen.

Noch besser: Das sind nicht diese „Das-Leben-ist-schön-wir-machen-alle-Yoga“-Groschenromane.

Manchmal ist das Leben halt scheiße.

Aber meistens ist es okay.

Manchmal macht es auch ein bisschen Spaß.

An dieser Stelle möchte ich jemanden zitieren:

 

Beschissene Zeit

Mehr als hundert Tage

Sind in diesem Loch vergangen

Mehr als hundert Tage

Beschissene Zeit.

 

Jeder Morgen ein Grauen

Sonnenaufgang in Orscha

Jeden Mittag Zweifel

Zum Abendessen gibt es Hass

In dieser beschissenen Zeit.

Die Zeit tröpfelt  und

Vergeht

Unendlich

 

Langsam.

Wie Durchfall wird sie herausgepresst

Eine wahrlich beschissene Zeit.

 

„Nie wieder!“ Schworen wir hundertmal

„Nie wieder!“ Waren wir uns sicher

Ereilt uns so eine

Beschissene Zeit.

 

-Lotti Hamer (Optimistin), kulturweit-Freiwillige in Gomel