Lange Autofahrt und die Akkus sind leer. Unsere und auch die der Handys. Tankstellen sind steckdosenlos, in der Ferne ein paar Lichter. Es ist nachts um halb 12 und wir tauchen in eine Parallelwelt ein. „Willkommen in Klein-Istanbul“, das steht zwar nirgendwo, aber in unseren Köpfen hören wir diesen Satz klingen. Türkische Fernfahrer erlauben sich und ihren Wägelchen hier, an der bulgarisch-rumänischen Grenze, eine Pause. Es wird zusammengesessen, ein Zuckerwürfel nach dem anderen fliegt in den Tschai und die Löffel klirren am Tellerrand der Linsensuppe. Wir werden auf Deutsch begrüßt und komisch beäugt, als wir MacBook, Kamera und Co im ganzen Gastraum an die Steckdosen verteilen. Verständlicherweise. Was eine Realitätsverschiebung. Ich möchte zahlen. Der Tee ist gratis, die Suppe kostet dafür doppelt so viel.
Der Zug rattert und es ist unerträglich laut. Trotzdem stelle ich mich ans Fenster und folge mit meinen Augen den Schienen, die uns durch die Täler hier leiten. Rechts von mir ein älterer Herr, die große Nase streckt sich Richtung frische Luft, die Augen sind geschlossen. Links von mir das gleiche Bild, nur eine kleinere Nase. Unsere Hände drücken das Schiebefenster mit dem kaputten Mechanismus kontinuierlich herunter. Grüne und noch grünere Bäume und Wälder ziehen an meinen Augen vorbei, Felswände erstrecken sich bis zum Himmel und nehmen uns fast die Luft zum Atmen. Auf meinen Fingern sammelt sich die Wärme der Sonne, mein Gesicht atmet sie ein. Dicke Regentropfen ziehen über die kleine Stadt, klatschen gegen das Fenster und laufen in die untere rechte Ecke zusammen.
Menschen, Massen, Taschen, Gepäck. Der Bahnhof so voll wie nie. Samstagmorgen sieben Uhr. Die Schlangen an den Schaltern sind lang, die Geduldsfäden kurz. Eine komisch hektische Stimmung zieht sich durch die Hallen, 7:30. Ein junger Mann wirft sich auf den Boden, macht eifrig 5 Liegestütze, läuft 3 mal im Kreis und öffnet ein Bier. Um 7:35 geht unser Zug. Die letzten Schritte werden gerannt, wir schließen uns der hektischen Stimmung an. Die Schuhsolen trampeln über den schmutzigen Boden der Unterführung und schlucken all die Geräusche. Die Stimmen und das Ratten der einfahrenden Züge. Der Zug ist noch da, mit seiner Ruhe und Trägheit wirkt seine Anwesenheit beruhigend. Der Wagon am Treppenaufgang ist total überfüllt, 50 Meter dahinter fast noch leer. Warum dieser Stress, liebe Bulgaren? Sonst doch auch nicht so.
Einfach mal dem Wasser beim Kochen zuschauen. Ein Prozess, ein unaufhaltsames und unbeeinflussbares Prozedere. Wir müssen warten. Können nichts machen, außer mit unseren Augen auf das Wasser zu starrren, auf aufsteigende blassen zu hoffen und das Salz in der Hand bereitzuhalten.
Ein ganzes Land auf dem Vorplatz eines Supermarktes. Willst du Bulgarien erleben? Schnapp dir einen Döner und setzt dich vor Billa. Ein Laden, der ein Land verbindet. Eingebettet in einen sozialistischen Bau, liegt er nahe einer Hauptstraße in der Hauptstadt. Gegenüber einige moderne Wolkenkratzer verschiedener internationaler Banken. Auch vor Billa gibt es Bänke. Wir sitzen auf den Stufen vor dem Laden, essen Falafel und beobachten. Zwei junge Männer mit übermäßig großen Blumensträußen in der Hand und jeweils einer E-Zigarette im Mund – der eine in pink der andere gelb. Die Anzüge sitzen gut, die jungen Männer stehen lieber. Etwas weiter weg eine Frau, vor ihr 4 Kisten mit Kirschen, sie lächelt gerade aus, ihre Augen verfolgen müde aber aufmerksam das Treiben. Neben ihr auf dem Tisch steht eine gelbe Plastikwage. Ihr Ohr wird von einem alten Mann beansprucht. Ununterbrochen redet der Anzugträger mit dem langen Bart auf sie ein, währenddessen liest er in einem Astrophysik Heft. Seit geraumer Zeit hält er es verkehrtherum.
Der Moment, wenn der Regen aufhört. Der Moment, wenn der Regen aufhört und sich die dunkeln schwarzen Wolken am Himmel, wie von einem Seil gezogen, in eine gemrinsame Richtung bewegen. Wenn sie dem Blau des Himmels, dem Grau der Häuser und dem Grün der Bäume Platz machen. Und wenn sie ihre letzten Tropfen wie Abschiedsgeschenke auf uns hinunterfallen lassen. Wenn die ersten Sonnenstrahlen sich in den Fensterscheiben widerspiegeln und unsere Gesichter wärmen.
Zeit für Blumen. Eigentlich überhaupt keine Zeit für Blumen, ich habe keine Hände frei und bin total im Stress, aber ich kann nicht anders. Eine alte Frau sitzt an der Ampel und in einigem Abstand präsentieren sich Veilchen in einem Kübel. Meine Hände greifen zum Geldbeutel, kurz fällt mir etwas herunter. Die Dame ist nicht alleine, in der Stadt sitzen überall vorwiegend ältere Menschen und verkaufen das, was sie so in ihrem Garten finden. Und dies machen sie mit einer Ruhe, Gelassenheit, Zurückhaltung und einem ständigen Lächeln im Gesicht, für was ich sie besonders bewundere.
Bulgaria – Land of Roses. So schmückt sich das Land. Und in Kazanlak gibt es ein Rosenfest, 2 Wochen für die schönste Blume Bulgariens. Rosenparfum, Rosenwein, Rosenseife, Rosenkränze, Rosengarten, Rosenkönigin. Mir hängt der Duft noch in der Nase, als wir im Zug zurück nach Hause sitzen. Rosenfelder ziehen an uns vorbei und verschwinden hinter Hügeln und Felsen. Transporter stehen am Rand der Felder, Kinder und Frauen kämpfen sich unter der Mittagssonne durch die Büsche, Handschuhe trägt niemand. Es ist drückend heiß, die Arbeiter verschwinden in den Sonnenstrahlen. Der Duft dringt durch das geöffnete Zugfenster noch lange zu uns hinein. Die Realität ist dann doch gar nicht so rosig.
Stress auf dem Busbahnhof, der Bus nach Sofia hat eine Stunde Verspätung, wo er ist, wann er kommt, das weiß niemand, ich werde angeredet, mein Ticket jetzt zum Vorteilspreis zu wechseln, diverse Übersetzer stehen mir zu Seite, es gibt Stress am Ticketschalter, wenn ich mich hier nochmal zeige, dann schlägt mir die Frau ins Gesicht, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber es ist sowieso mein letztes Mal in dieser bulgarischen Kleinstadt, das Tschüss sagen dauert nur etwas länger. 1 Stunde später sitze ich im Bus. Der ist irgendwoher und irgendwann hier reingedüst, es ist ganz still, alle sind müde und erschöpft vom Streiten und sauer sein. Rechts von mir sitzt ein Mann mit Deutschland Trikot, er holt eine Boulevard Zeitung raus, auf der Titelseite eine sehr nackte Frau, er faltet sie extrem umständlich und begnügt sich mit dem Kreuzworträtsel. Mit meiner Sitznachbarin unterhalte ich mich so gut wie möglich. Sonst klappt es auch, einfach zu nicken oder den Kopf zu schütteln. Aber natürlich genau andersrum. Wir sind uns jedenfalls einig, dass es im Bus viel zu heiß ist. Stimmen werden wieder lauter, die letzte Reihe fordert mehr Klimaanlage. Der Fahrer schimpf zurück, die sei doch schon voll aufgedreht. Scheiß Bus, Scheiß Unternehmen, da ist man sich dann wieder einig. Meine neue Freundin holt einen Fächer aus der Tasche und wedelt uns Luft zu, noch eine Stunde bis Sofia.
Und dann merkt man plötzlich, dass diese Zeit geflogen ist. An uns vorbei geflogen wir haben mit ihr gelebt und gar nicht gemerkt, wie sie immer weniger wird. Wir waren so im hier und jetzt, dass wir Tage nicht von Nächten, Wochen nicht von Monaten unterschieden haben. Und das war ziemlich perfekt so.
Hajde, Ciao! Josi