Flashback I

Ende Februar und schönster Sonnenschein, doch die bereits langsam verblassenden Erinnerungen an das Zwischenseminar und die Weihnachtszeit klopfen an, möchten endlich aufgeschrieben, festgehalten werden, schon beinahe verdrängt von vielen aufregenden und schönen neuen Erlebnissen.

Auf die Herbstferien in Budapest folgte eine kurze trubelige Zeit in Pécs, in der ich kaum Zeit hatte, meine Koffer auszupacken – an einem Freitagnachmittag im November fuhren Isi, Greta, Peter und ich schließlich los nach Budapest, wo wir Lorenz, Marvin und am Samstag auch noch Marius trafen. Bis Sonntagnachmittag durchstreiften wir die Stadt, spazierten an der Donau entlang und wanderten hoch zur Fischerbastei, zogen abends von Bar zu Bar und tranken Cocktails, aßen scharfes Gulasch im Brot und spielten Wizard; ich traf auch noch einen Bekannten aus den Herbstferien. Teuer, aber ein Erlebnis besonderer Art der Besuch in der Széchenyi-Therme: Heißes Wasser, kalte Luft, Dampfwolken ziehen über die Köpfe der Badenden, die gelben Wände leuchten in der Abendsonne (an dieser Stelle ein kleiner Hinweis: Wer im 50-Meter-Becken schwimmen möchte, braucht eine Badekappe); und in den Innenräumen Schwefelbäder, Dampfsauna, Sauna, Eisbad und Eiswürfel.

Am Sonntagnachmittag schließlich das Treffen mit unseren zwei Teamerinnen, Steffi und Anja, und den übrigen Freiwilligen. Im Anschluss an ein kleines (Wieder-)Kennenlern-Programm und die Frage, wie es uns so ginge, liefen wir durch die Stadt und machten etwas, das ich das letzte Mal wohl vor acht Jahren auf einem Kindergeburtstag gemacht habe: Dinge tauschen. Vom Überraschungsei über Kugelschreiber und Feuerzeuge hin zu Metrotickets und Salzstangen, und ganz nebenbei wurden wir zu einer Hochzeit nach London eingeladen. Später das Musical „Fame“ im Operettentheater – eine typische amerikanische Teeniestory, aber meisterhafte Tanz- und Gesangseinlagen.

Am Ende eines langen Tages, um ein Uhr nachts, bezogen wir unsere Zimmer im beschaulichen Gardony bei Budapest, und das Zwischenseminar begann wirklich.

Auf anderen Blogs wurde bereits viel darüber berichtet, meist ausschließlich positiv. Für mich war es zwar auch eine gute und wichtige Zeit mit vielen wunderbaren Momenten, jedoch recht anstrengend und teils positiv wie negativ sehr emotional. Eine Menge wurde angestoßen, manches aufgewühlt; etliche Fragen gestellt, manche auch beantwortet. Zwischen gemütlichen Momenten in der Küche, dem Versammlungsraum und am Seeufer lagen viel ernsthafte Arbeit und die Reflektion unserer Erfahrungen und unseres Verhaltens. So stellten wir uns die Frage, was für uns Zuhause bedeutet, analysierten unser Auftreten in der Gruppe oder dachten über Probleme und Konfliktlösungen nach.

Äußerst interessant, ja schockierend der Vortrag zur Situation von Sinti und Roma in Ungarn mit dem Fokus auf Antiromaismus, zur weiteren Information gab es eine von Steffi und Anja aufgebaute kleine Ausstellung. Entspannend unser kreativer Nachmittag, amüsant der Talentabend am letzten Tag, für den Chris und ich aus meinen Fotos der letzten Tage ein Video zusammenstellten. Langwierig, letztendlich aber immerhin erfolgreich, Leos und mein Versuch, den bereits kaputten Korken aus einer Weinflasche zu ziehen. Schade meine Erkältung, die sich erstaunlicherweise nicht gut mit pausenloser Action und wenig Schlaf vertrug; aus diesem Grund ging ich an unserem letzten Abend auch als erste schlafen – um zwei Uhr nachts.

Waren wir anfänglich wohl alle etwas enttäuscht, dass unser Zwischenseminar nicht etwa in Budapest oder Bratislava in einer schicken Jugendherberge mit Vollverpflegung, sondern im menschenleeren Gardony in einem kleinen Schullandheim und mit selbst zu kochendem Essen stattfand, so erwies sich diese Entscheidung im Nachhinein als genau richtig: der gemeinsame Großeinkauf für 17 Leute am Montagmorgen; das selbstgekochte Essen, besser als jede Kantinenkost; unser allmorgendliches großzügiges Frühstücksbuffet; die Abgeschiedenheit des Ortes, in der wir – ich etwa beim Spaziergang mit Chris und Lina am Seeufer – das Erlebte wunderbar verarbeiten, Probleme besprechen und über die Welt, unsere Existenz und den Sinn des Lebens philosophieren konnten. All das trug dazu bei, dass diese Tage den perfekten Raum boten, sich einmal auszutauschen, Abstand vom Alltag zu finden und die eigene Situation zu reflektieren.

Donnerstagnachmittag fuhren die meisten von uns direkt weiter nach Zagreb. Auch wenn ich mich schon lange auf dieses Wochenende gefreut hatte, hätte ich in diesem Moment auch nichts dagegen gehabt, einfach nach Pécs zurückzufahren und zu schlafen, schlafen, schlafen…

In  Zagreb bezogen wir unsere Unterkünfte: fünf von uns eine AirBnb-Wohnung, sieben das enge Achter-Zimmer eines Hostels zusammen mit einem einzelnen Argentinier, einem ehemaligen Tennisprofi – immerhin fand an diesem Wochenende das Davis-Cup-Finale zwischen Kroatien und Argentinien in Zagreb statt. Woher ich das weiß? Während die anderen gleich am Donnerstagabend loszogen, verbrachten Ulrike und ich den Abend in der Hostelbar mit ihm und unterhielten uns. Sie verspürte wenig Lust, noch loszugehen und auch ich wollte mich lieber ausruhen, da ich immer noch angeschlagen war.

Voll frischer Energie brachen Ulrike und ich dann am nächsten Morgen mit Leo und Marius zu einer Free Walking Tour durch Zagreb auf; wir waren stundenlang unterwegs und lernten dank eines sehr kompetenten und sympathischen Guides sowohl touristische Punkte als auch versteckte Ecken kennen. Ganz nebenbei erfuhren wir viel über die Geschichte der hübschen Stadt und die politische Situation in Kroatien. Nach so viel Input bummelten wir den Rest des Tages entspannt durch die Innenstadt, verbrachten  viel Zeit in einem kleinen Secondhandshop – tolles neues/altes Kleid gekauft!-, trafen Freiwillige des Zagreber Zwischenseminars… und entdeckten anschließend in einer riesigen Gruppe aus kulturweit-Freiwilligen das Zagreber Nachtleben.

Am Morgen darauf brunchte unsere Gruppe sehr gemütlich, und als Marius und ich endlich Richtung Unterstadt spazierten, wurde es schon bald dunkel. Lebkuchen knabbernd ließen wir alte, charmant abblätternde Hausfassaden und Sehenswürdigkeiten, die große Zagreber Eisbahn, eine Bühne mit Vielzulautsprechern und den frisch eröffneten Weihnachtsmarkt – Gelegenheit für den Erwerb erster Weihnachtsgeschenke – auf uns wirken; trafen die anderen und gingen gemeinsam etwas essen; Ulrike und ich schlenderten erneut über den Weihnachtsmarkt, wo wir uns mit viel zu süßer heißer Schokolade mit Marshmallows in einen Hauseingang setzten und über unserer Unterhaltung die Zeit vergaßen.

Am nächsten Morgen ging es auch schon zum mit den anderen Pécsern zum Zug, wo wir alle schon mal etwas Schlaf nachholten. Bis heute gibt uns die kroatische Ticketpreisgestaltung Rätsel auf, war doch tatsächlich eine Hin- und Rückfahrt günstiger als eine einfache Fahrt…

Als wir schließlich in Pécs ankamen, herrschte auch hier vorweihnachtliche Stimmung – aber davon ein andermal, jetzt ist es zunächst einmal Zeit, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Liebe Grüße an alle, die mich auf dieser kleinen Reise in die Vergangenheit begleitet haben

Eure Silja

13 Mal mein Ungarn

Nachdem der vorige Beitrag sich um die Frage „Was vermisst du?“ drehte, ist es mir wichtig, an dieser Stelle einmal ganz bewusst zu betonen, dass ich hier in Ungarn glücklich bin.

Selbstverständlich – niemand ist immer glücklich, auch ich nicht; weder in Ungarn noch in Deutschland, weder auf Mallorca noch im Schlaraffenland oder meinen Träumen. Ich bin frustriert und müde, genervt oder gestresst, enttäuscht von mir selber; fühle mich allein oder unsicher. Ich bin wütend aufgrund von manch einem Zustand, traurig, wenn ich Hass oder Leid sehe. Fühle mich vielleicht hilflos.

Doch meistens geht es mir gut. Ich lache, liebe, lebe, schwebe. Ich tanze zu meinem ganz persönlichen Soundtrack durch die Stunden – schnell, dann wieder langsam.

Mir ist bewusst, dass ich viele Vorteile habe: ein leichter Start ins Leben; in der deutschen Bildungsschicht aufgewachsen, ohne materielle Probleme, eine gute Ausbildung, nun mit kulturweit ein FSJ im Ausland. Und dafür bin ich dankbar. Allerdings würde auch all dies mich nicht glücklich machen ohne Liebe.

„Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann ist glücklich“
Hermann Hesse

Und lieben können wir alle:
selbstverständlich Menschen, aber auch Dinge oder Orte; Gerüche, Geräusche, Gefühle, Gedanken und so vieles mehr. Schönheit finden wir überall.

An dieser Stelle eine kleine und mehr oder weniger willkürliche Auswahl der Dinge, die ich durch meinen Freiwilligendienst kennen und lieben lernen durfte:

  1. Die vielen wunderbaren Menschen, die mir begegnen: kulturweit-Freiwillige, die zu Freunden werden; meine süße Mitbewohnerin; charmante Lehrer bzw., zumindest im Deutschzweig, eher Lehrerinnen; Schüler und Schülerinnen, so verschieden wie die Farben des Regenbogens; Zufallsbekanntschaften in Pécs – über Lenau-Haus, Schwabenball oder die Uni – oder bei einer Unterhaltung im Zug oder Hostel, in Budapest auf einer Studentenparty…
  1. Die Wertschätzung von Traditionen in Ungarn – ich mag Altbekanntes, Gewohnheiten und eben auch Traditionen und empfinde Dinge wie den feierlichen Einzug der Abiturienten bei der Bandweihe als schön und wertvoll
  1. Die Tatsache, dass ich, die ich sonst gerne unpünktlich bin, noch nie meinen Bus verpasst habe, da dieser zumindest morgens genau wie ich stets treu um ein, zwei Minuten zu spät dran ist
  2. Dass mich dieses Land und seine Menschen immer wieder überraschen können – wie jener Zahnarzt, bei dem ich jeder Diskussion über die Flüchtlingsthematik lieber aus dem Weg ging, da seine Haltung dazu schon aus seiner Frage nach meiner Meinung zu dem Thema recht deutlich hervorging – und er sollte schließlich noch meinen Zahn behandeln; der mir dann aber auf die Frage, was der Zahnarztbesuch denn koste, antwortete, für mich sei er kostenlos – ich solle doch sehen, wie großzügig die Ungarn seien…
  3. Die ungarische Sprache, deren Sätze wie Zaubersprüche klingen
  4. Dass (fast) alle Post im Briefkasten für mich ist – und Briefe habe ich schon immer geliebt
  5. Den ungarischen Gentleman: ungeachtet der Tatsache, dass Frauen auch in Ungarn gleichberechtigt sind, gibt es ihn hier noch, den Gentleman alter Schule – Männer, auch schon Schüler aus der zwölften Klasse, halten die Tür auf oder bedanken sich für einen Tanz. Und auch die Grußformel „csókolom“, die frei mit „Küss die Hand“ übersetzt werden kann und nur von kleinen Kindern und von Männern Frauen gegenüber benutzt wird, würde in Deutschland wohl eher altmodisch anmuten
  1. Die unkomplizierte Freude, die hier beim Tanzen herrscht, gepaart mit der Überzeugung, dass wirklich jeder tanzen kann – mein Selbstvertrauen auf der Tanzfläche ist ungemein gewachsen; letzten Samstag führte ich zusammen mit einigen Lehrern vor der ganzen Schule eine Polka auf, und das auch noch im für mich als Norddeutsche ungewohnten Dirndl
  1. Dass die meisten Ungarn genauso gerne und viel essen wie ich
  1. Die entspannte Einstellung der Ungarn zu vielen alltäglichen Kleinigkeiten – langsam erst gewöhne ich mir ab, in jeder Kirche, jedem Museum als erstes nach dem „Fotos verboten“-Schild Ausschau zu halten und auch mein Fahrrad lehne ich mittlerweile ganz selbstverständlich überall an
  1. Das Lachen zusammen mit Schülern, wenn wir etwa ein Spiel spielen, bei dem die erste Assoziation genannt werden muss, und auf „Jesus“ der Name eines Schülers folgt; Schüler, die sich freuen, wenn ich in die Klasse komme, für jedes kleine ungarische Wort applaudieren, mir Anekdoten aus ihrem Leben erzählen, auf Facebook ein Foto mit mir posten möchten, mir eine Nachricht schicken, in der sie mich fragen, wie es mir geht, mich anlächeln oder mich fragen, ob sie mich umarmen dürfen
  1. Die Ampeln, die die Sekunden, die sie noch grün oder rot sein werden, anzeigen – das hat mir schon oft das Hetzen zu der vielleicht nur noch wenige Augenblicke grünen Ampel erspart
  2. Die große Anzahl wunderschöner Orte, die ich bereits entdeckt habe und noch entdecken werde: allen voran mein schönes Pécs, Ungarns Herz – Budapest, das Mecsek-Gebirge und viele mehr… Ungarn!

13 Blicke auf mein Ungarn. 13 einmal als Glückszahl. 13 der vielen kleinen und großen Dinge, die mich hier glücklich machen. Ich wünsche uns allen offene Augen und Herzen für all das, was unser Leben jeden Tag aufs Neue lebenswert macht.

Eure Silja