Alligatoah trifft Schneewittchen

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Die Schule begann um halb acht in der Früh. Wenig Pausen. Jetzt ist es halb zwei. Ich stehe vor einer meiner zehnten Klassen.  „Guten Tag! Wie geht´s euch?“ – „Guten Tag, Antonia. Nicht gut. Wir sind alle müde! Seeehr müde.“ Na toll, denke ich ein wenig unmotiviert und beginne dabei das Thema, das ich mit ihnen kreativ bearbeiten soll, in großen Buchstaben an die Tafel zu schreiben: SCHÖNHEIT. Keine gute Idee. Ich bin gerade beim „Ö“ angelangt, da verwandelt sich die zuvor ruhige und schläfrige Klasse urplötzlich  in  eine ohrenbetäubend laute, unkontrollierbare Menschenmasse. „*stöhn. stöhn*NEEEEEEIN! NICHT SCHON WIEDER DAS THEMA! *stöhn* WIR MÖGEN ES ÜBERHAUPT NICHT!! KÖNNEN WIR NICHT ETWAS ANDERES MACHEN???“ Ich seufze leise, doch mir bleibt nichts anderes übrig, als diese Rufe zu ignorieren und trotzdem wie geplant fortzufahren. Ich beginne also an den Lautsprecherkabeln herumzuzupfen, um mein Handy anzuschließen und das Lied „Du bist schön“ von Alligatoah anzumachen. Schlagartig wird die Klasse wieder ruhiger und alle warten gespannt, bis endlich die ersten Töne des Liedes zu hören sind… „Gib mir ein schlaues Buch, ich mach die Augen zu. Schöööönheitsschlaaaaf….“

Ich lasse meinen Blick über die ganze Klasse schweifen und muss heimlich in mich hineingrinsen. Von wegen „Schööönheitsschlaaaaf“! Auf einmal sind die meisten, die noch vor ein paar Minuten laut eigenen Aussagen schon „viiiiiel zu müüüüde zum Deeeuuutschleeernen“ (gähnend :D) waren, wieder hellwach. Sie singen ab und zu leise mit, denken sich  kleine Tanzchoreographien aus und fordern den Text. Also teile ich die Kopien aus- allerdings mit einem Lückentext. Und obwohl so mancher protestiert: “ Och nö. Das ist doch viel zu schnell!“, geben sich letztendlich alle große Mühe den Rap zu verstehen.

Mein Blick schweift wieder über die ganze Klasse. Er bleibt an einigen unglaublich fleißigen Schülern hängen, die jedoch eher ein wenig frustriert auf die Vielzahl der unausgefüllten Lücken starren. Hmmm, vielleicht hatten sie doch recht und ist es bei dem rasanten Tempo ein bisschen zu schwierig, Wörter wie „Phänomen“ oder „Gesichtsfalten“ herauszuhören…, überlege ich. Aber nach dem ersten Durchlauf versuche ich sie erst einmal  zu beruhigen: “ Keine Sorge, wir können es jetzt noch ein paar Mal hören. So circa zwei oder…“ Sofort werde ich von einem lachenden Schüler unterbrochen: „oder auch drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Mal!“ Dann postiert er sich prompt direkt vor den Lautsprecher und hält sein Ohr ganz nah daran, um den Songtext auch ja so deutlich wie möglich verstehen zu können!

„Du bist schööön, aber dafür kannst du niiichts…“ So langsam kann ich das Lied nicht mehr hören… diesen Ohrwurm werde ich wohl die nächsten Tage erstmal nicht mehr los, denke ich und drücke erneut auf „Wiederholen“. Das ist jetzt die fünfte Wiederholung. Zum Glück fehlen den Schülern nur noch ein paar Wörter und wir können bald anfangen, sämtliche Wortspiele und die Kritik in dem Lied zu besprechen.

Drrrriiiing. Driiiing. Driiiiing. Zehn-Minuten-Pause.

Ich verschnaufe kurz und stimme mich auf die nächsten vierzig Minuten ein, in denen wir uns mit dem Märchen, das in dem Lied etwas abgewandelt vorkommt, beschäftigen werden. Ein Märchen in Alligatoah´s Lied??? Ja, genau! „Spieglein, Spieglein im Handy, sag mir, bin ich der King?“

Bei uns war´s dann eher "Spieglein, Spieglein an der Tafel

Bei uns war´s dann eher „Spieglein, Spieglein an der Tafel“

Drrrriiiing. Driiiing. Driiiiing. Die Stunde geht weiter.

Ich teile eine gekürzte Version vom Märchen Schneewittchen aus, bei der das Ende fehlt. Die meisten Schüler_innen beginnen den Text zu lesen. Mein Blick schweift wieder über die Klasse. Alle Blicke sind direkt auf die Arbeitsblätter gerichtet. Oder doch nicht? Manche halten ihre Kopie so seltsam senkrecht vor sich und schauen auf ihren Schoß… Ich drehe eine kleine Runde quer durchs Klassenzimmer und merke, wie plötzlich sämtliche Handys schnell und heimlich wieder in der Hosentasche versteckt werden. Hatte ich also recht!, denke ich und fordere alle noch einmal etwas eindringlicher auf, endlich mit dem Lesen zu beginnen.

„So und jetzt findet euch bitte in kleinen Gruppen zusammen und erfindet ein neues Ende. Bitte schreibt es in Form eines Dialogs. Dieser soll dann in der nächsten Woche wie ein kleines Theaterstück aufgeführt werden.“ Wieder lautes Gestöhne. Und ich dachte, sowas Aktives wie Theaterstücke o.ä. würde ihnen Spaß machen. Tja, hab ich wohl falsch gedacht.  Ein wenig widerwillig teilen sich die Schüler_innen in mehr oder weniger kleine Gruppen ein. Wie so häufig bei Gruppenarbeit, schlängele ich mich mühevoll zwischen den eng aneinander stehenden Stühlen und Tischen hindurch ( ich bin froh, dass hier zumindest niemals eine Tasche auf dem Boden steht, da dies Unglück bringen soll), beantworte die ein oder andere Frage und versuche einige Gruppen zum Anfangen zu motivieren und den Lautstärkepegel so niedrig wie möglich zu halten. Letzteres mit eher weniger Erfolg… von Minute zu Minute wird es lauter und lauter. Ich merke, dass die Achtergruppe nach zwanzig Minuten immer noch nicht mit dem Dialog angefangen hat (Wobei ich sie ja von vorherein davon überzeugen wollte, dass es sehr schwierig ist einen Dialog zu Acht zu schreiben).

Drrrriiiing. Driiiing. Driiiiing. Stundenende.

Puhhh so langsam wurde es aber auch Zeit. Die Lautstärke war in den letzten paar Minuten kaum noch zum Aushalten gewesen. Ich schließe die Stunde etwas genervt mit dem Satz: “ In der nächsten Stunde habt ihr nur noch zwanzig Minuten, bevor ihr es der Klasse vorstellen müsst.“

Eine Woche später…

Es ist Abend, ich sitze in der Küche und esse Reis mit Gemüse. Plötzlich pfeift mein Handy. Eine Nachricht von einer 10.Klässlerin hat mich erreicht:

Hallo Antonia. Bitte sei nicht böse, wenn ich etwas frage. In dem letzten Unterricht haben wir eine Fortsetzung des Märchens „Schneewittchen angefangen. So, wir sind keine Schauspieler. Können wir die Fortsetzung in der nächsten Stunde auch nur vorlesen und nicht spielen?

Am nächsten Tag im Klassenzimmer:

Ich erkläre der gesamten Klasse noch einmal, dass es eigentlich nicht darum ging, ein perfektes Theaterstück auf die Beine zu stellen, sondern nur kleine spontane Sketche, sie aber auch das nicht unbedingt tun müssen, wenn sie ihre Texte lieber nur vorlesen wollen. Dann gebe ich ihnen noch die versprochenen zwanzig Minuten Vorbereitungszeit. Wieder drehe ich meine Runde durch die Klasse und stelle erstaunt fest, dass viele ihre Texte zuhause weiter- oder sogar schon fertig geschrieben haben. Insgesamt gehen sie heute mit viel mehr Elan an die ganze Sache. Ich bin erstaunt und freue mich, dass es nun doch besser klappt. In den letzten fünf Vorbereitungsminuten werden zu meiner Überraschung dann doch schnell noch ein paar Requisiten gebastelt, kleine Kunstwerke an die Tafel gemalt und Tische (Schneewittchens Bettchen) gerückt.

Den Inhalt und Spaß der nächsten zwanzig Minuten zeigen diese Bilder ziemlich gut:

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Der Prinz trauerte so theatralisch um Schneewittchen, dass die ganze Klasse Tränen lachte.

Der Prinz trauerte so theatralisch um Schneewittchen, dass die ganze Klasse Tränen lachte.

So wurde die Schneewittchenstunde doch noch zu einem vollen Erfolg.

Drrrriiiing. Driiiing. Driiiiing. Stundenende.

Alle packen fröhlich ihre Sachen zusammen, auch ich. Alle Schüler_innen strömen aus dem Raum hinaus, ich schließe ab und kann dabei nicht aufhören vor Freude zu grinsen.

Kaum bin ich aus dem Schulgebäude raus, kann ich nicht mehr an mich halten. Ich singe fröhlich vor mich hin und hopse im Wechselschritt nach Hause. Ich bin sooooo glücklich!!!

 

 

 

 

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Eine Antwort zu Alligatoah trifft Schneewittchen

  1. Hannelore und Hermann-J. Eblenkamp sagt:

    Über Deinen Bericht vom 17. 11.2016 (mit Fotos) haben wir uns gefreut. Du beschreibst anschaulich, wie es zugeht in Deinen Schulstunden. Aus Deiner lebendigen Schilderung des Unterichtsverlaufs zum Thema „Schneewittchen“ ist zu erkennen, dass die Schüler die Stunden mit ihrem Spontanverhalten durchaus „mitgestalten“. Das Märchen szenisch umzugestalten, ist sicher ein guter methodischer Kniff gewesen. Rollenspiele jeder Art lockern auf und motivieren zum freien Sprechen im Dialog. Ebenso das Singen, zumal wenn Texte und Medodien die Schüler ansprechen. Inzwischen wirst Du weitere Erlebnisse und Erfahrungen mit Deinen Schülern und Kollegen in der Schule gemacht haben. Wir freuen uns schon auf neue Berichte und wünschen Dir viel Erfolg und Durchhaltevermögen.
    Mit herzlichen Grüßen
    Oma und Opa Vreden
    (Hannelore und Hermann-J. Eblenkamp)

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