Es ist schon ein befremdlicher, aber faszinierender Gedanke: Die Menschen, die in den Zug ein- und wider aussteigen, wird man in seinem Leben nie wieder sehen. Kaum sind sie das Treppchen an der Haltestelle hinuntergestiegen, tauchen sie im Nirvana der Lebenden ab. Kein Lebenszeichen mehr. Für immer. Oder doch?
Daher schaue ich mir die Menschen ganz genau an, bevor sie mich für immer verlassen. Vor mir sitzt ein Mädchen. Ich blicke sie an, sie starrt auf ihr Handy. Ein hübsches Gesicht, strahlend blaue Augen, die mysteriös wie der Ozean die WhatsApp-Nachrichten auf ihrem Handy aufsaugen, sie trägt ein wolkenblaues Top, Sneaker und ein großer schwarzer Rucksack ist zwischen ihre Beine gepresst. Ich suche den Blickkontakt. Woher kommt sie wohl? Was hat sie heute noch vor?
Unsere Füße berühren sich leicht, ein Zeichen?
Ich entdecke in ihrer Handyhülle das Foto eines jungen Mannes. Wahrscheinlich ihr Freund.
Wir reden kein Wort miteinander, schauen uns kein einziges Mal wirklich in die Augen, trotz liegt eine intensive Energie zwischen uns.
Der ICE wiegt uns beide leicht in einen Vier-Minuten-Pendler-Schlaf.
Irgendwann wache ich auf. Sie ist weg. Wohl in Gießen ausgestiegen oder den Platz gewechselt.
Es sind magische Momente wie diese, wenn sich mein Mikrokosmos mit 500 weiteren Paralleluniversen das Schicksal des gleichen Zuges teilt. Unsere Seelen berühren sich für kurze Zeit, um danach für immer im Nebel der Ungewissheit zu verschwinden.
Wir stehen da. Nackt. Unsere Erfahrungen, Geschichten, Verwandten, Gedanken, Gefühle sind außen vor. Wir haben nur unseren Koffer, der Maske und vielleicht einem Rucksack und müssen miteinander klarkommen. Daher: Freundliches Gesicht aufsetzen und Respekt zeigen!
Neben mir goldene Weizenfelder. Ich will es nicht wahrhaben, aber es wird Herbst.
Die in braun gekleideten Zugschaffnerinnen unterhalten sich über den Schulstart ihrer Kinder und werden sehr patzig, wenn man sie in ihrem Gespräch unterbricht, um sie nach der Toilette oder sonstigen Informationen zu fragen.