Ich stoße an meine Grenzen – schon jetzt.

Es beginnt mit den Menschen. Es ist mir nicht möglich, mir alle Namen zu merken. Ich kann nicht zuordnen, mit wem ich wann über was gesprochen habe. Ich schaffe es nicht, jeden Gedankengang zu verstehen. Bei über 330 Freiwilligen kann ich nicht jeden dieser wirklich interessanten Menschen kennen lernen, werde immer etwas verpassen, irgendwo außenvor bleiben.

Auch verzweifle ich an dem Programm, dass uns hier geboten wird. Jeden Abend möchte ich zu allen Abendveranstaltungen gehen. Bei jeder Auswahlmöglichkeit würde ich gerne an jedem einzelnen der angebotenen Workshops teilnehmen. Ich möchte über so vieles mich unterhalten, möchte Bücher zu so vielen Themen lesen.

Das bringt mich zum Beanspruchendsten, Ermüdensten und Kopliziertesten hier. Doch gleichzeitig ist es auch das Tollste, Unglaublichste, Interessanteste und Wichtigste, was ich je erlebt habe. Wir sprechen hier über Themen, mit denen ich noch nie in diesem Maße konfrontiert war. Themen, die mich noch nie in meiner Lebensrealität so berührt haben, Themen, deren Relevanz ich nie begriffen habe. Unsere Diskussionen, insbesondere zu Rassismus und Diskriminierung, bringen mich an die Extrema interaktiver Kommunikation; ich musste mich noch nie so vorsichtig ausdrücken bei einem Thema, das mit Menschen verschiedener Herkunft und Hautfarbe emotionaler kaum sein könnte. Und ich entdecke Rassismen bei anderen, bei mir und in der ganzen Gesellschaft, von deren Existenz ich niemals geahnt hätte. Ich werfe meine Grundsätze im Umgang mit anderen, insbesondere mit Menschen, die im Alltag Rassismus erfahren, vollkommen über Bord. Doch nach der Erkenntnis, dass ich all die Jahre Fehler, sowohl sprachlich als auch gedanklich, gemacht habe, steht die vollkommene Unwissenheit, bis hin zur Verzweiflung, wie ich diesen Menschen nun begegnen soll. Ich weiß einfach nicht, wie ich es richtig machen soll; ich habe noch mehr Fragen als davor.

Ich stoße nicht nur an die Grenzen der zwischenmenschlichen Kommunikation und auf skurrile Aspekte des interkulturellen Miteinanders, ich stoße ganz besonders auch an meine eigenen Grenzen. Bei der Reflektion über meine Identität, meine Stellung in der Welt und was ich in den letzten Jahren versäumt habe zu lernen, bin ich plötzlich nicht mehr der allgemeingebildete, rationale und gefestigte Mensch, für den ich mich immer gehalten habe.

All das, was ich hier geschildert habe, war Teil und vielleicht sogar Ziel der ersten Hälfte meines Vorbereitungsseminars. Während ich davor noch dachte, dass wir schlicht und ergreifend auf das Leben in einem anderen Land vorbereitet werden, wurden wir, zumindest in meinem Fall, zur Reflektion nicht nur über uns, sondern über die ganze Welt angeregt. Wir beantworten hier nicht die Fragen, die mir im Zug nach Berlin noch durch den Kopf geschwirrt sind – wir werfen neue Fragen auf, die uns das nächste halbe Jahr und auch darüber hinaus beschäftigen sollen. Auch wenn das Vorausgegangene vielleicht pathetisch klingen mag – ich habe das Gefühl meine tiefsitzende Verwirrung über die Flut an Input irgendwie in Worte fassen zu müssen.

Nur damit ihr mich nicht falsch versteht: Ich sitze hier gerade auf einer wunderschönen Wiese in der Sonne, als ich das schreibe. Ich habe um mich herum unglaublich nette und offene Menschen, denen ich mich nach knapp einer Woche schon so verbunden fühle, wie es vermutlich sonst erst nach Wochen oder Monaten wäre. Ich gehe jeden Tag im wunderschönen Werbellinsee schwimmen und esse so viel Schokolade wie noch nie (ich habe in Nora meinen persönlichen Dealer gefunden :)). Und von all diesen wunderbaren Erlebnissen, aber auch der kompletten kognitiven Überforderung vollkommen erschöpft, falle ich jeden Abend kurz nach zehn in mein Bett. Ich habe selten eine so intensive und lehrreiche Zeit erlebt – und ich möchte eigentlich nicht, dass sie zu Ende geht.