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Kälteschock

16. Februar 2012

Man kann den Zustand nicht besser beschreiben, in dem ich mich befand, als ich 7 Uhr morgens in Harbin aus dem Zug stieg. Draußen herrschte eine Temperatur von etwa -25°C. Als ich 36 Stunden vorher in Guangzhou mit T-Shirt und einem Sweatshirt in den Zug stieg, waren es frühlingshafte +18°C.

 

Obwohl ich mich eigentlich gut auf die Temperaturen vorbereitet habe (5 Lagen inklusive Ski-Unterwäsche und Ski-Pulli und „Nordpol-Mütze“ <– siehe Foto), dauerte es keine 20 Sekunden bis mir – ich entschuldige mich für meine Ausdrucksweise – arschkalt war und ich einfach nur noch fror. Zu allem Überfluss merkte ich nach den ersten 20 Metern auf dem Bahnsteig, dass meine Nase anfing einzufrieren. Also nichts wie in die Bahnhofshalle, raus zur Taxischlange, wo ich mich in der kuschligen Menschenmasse etwas aufwärmen konnte, dann ab ins Taxi und ins Hostel.
Dort erwartete mich das Kontrastprogramm: Heizungen in jedem Raum, Menschen in T-Shirts und ja, mein Zimmer hatte eine Fußbodenheizung. Selbst wenn man nur wenige Minuten vorher selbst da draußen war, kann man sich im Gebäude überhaupt nicht vorstellen, wie unwirtlich diese Kälte ist, wenn man aus dem Fenster schaut. Viel Zeit dazu blieb aber eh nicht, denn kaum war ich angekommen musste ich mich auch schon frischmachen und wieder in die raus in die Kälte. Genauer gesagt hieß das Ziel: Harbin Ice and Snow World. Der Name hält was er verspricht. Was sich wie eine märchenhafte Winterlandschaft anhört ist in Wahrheit noch viel beeindruckender und fantastischer! Man kommt sich wirklich vor wie in einem Märchen, bzw. im Palast der Eiskönigin aus „Die Chroniken von Narnia“. In dem Park ist alles aus Eis gebaut. Und damit meine ich nicht nur Eisskulpturen, sondern vor allem Nachbildungen von Gebäuden wie Kathedralen oder Palästen, die z.T. sogar begehbar sind. Diese Eisbauten waren auch der eigentliche Grund, weshalb ich mich entschieden habe diese Nordreise anzutreten. Ich muss sagen: DAS hat sich auf jeden Fall gelohnt!
Lustigerweise hatten drei andere kw-Freiwillige – Annina aus Shanghai, David und Johanna aus Wuhan – ebenfalls die Idee in den hohen Norden zu gehen. Wie es sich heraustellte sogar zufällig zur gleichen Zeit. Also haben wir uns natürlich in Harbin getroffen, um gemeinsam die Kunstwerke und die Stadt zu erkunden. Insgesamt gibt es fünf solcher Eisskulpturen Parks in Harbin, die alle ab Mitte Dezember bis Mitte/Ende Februar geöffnet haben. Ich habe aus Zeitgründen leider nur einen, aber dafür den Spektatkulärsten besucht. Am Anfang musste ich jedoch ein bisschen kämpfen, denn die Kassierer erkannten meinen Freiwilligen-Ausweis nicht an und wollten, dass ich den vollen Eintrittspreis von 300 Yuan (ungefähr 36€) zahle. Letztendlich konnte ich sie mit ein paar Tricks und netten Worten noch gnädig stimmen und durfte den ermäßigten Preis von 160 Yuan zahlen.
Neben den Eiswelten kann man in Harbin vielleicht nicht ganz so viel machen, wie in anderen Städten Chinas. Dennoch ist die Stadt ganz ansehlich und niedlich. Die Stadt wurde als russische Garnisonsstadt gegründet und hat an einigen Ecken noch ihren russichen Charme erhalten. Vor allem die russisch-orthodoxe Sofia Kathedrale zeugt noch von früher. Außerdem war Harbin vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Ziel vieler jüdischer Flüchtlinge. Noch heute zeugen zwei große Synagogen von dieser Zeit. Es lebten einst bis zu 20.000 Juden in Harbin. Doch heute gibt es keine jüdischen Einwohner mehr, der letzte starb in den 80er Jahren.
Außerdem erlangte die Stadt durch eine andere Sache traurige Bekanntheit. Nachdem Japan 1931 die Mandschurei (Region im Nordosten Chinas) besetzte, errichtete es einen Marionettenstatt namens Mandschukuo (Chinesisch für Mandschurei). Dieser Staat war sozusagen eine Kolonie Japans und diente zur Unterdrückung der chinesischen Bevölkerung und zur Ausbeutung der Rohstoffe und Bodenschätze des Landes. Außerdem errichteten sie überall Kriegsgefangenenlager. Eines davon, die Einheit 731, war in Harbin. Dort wurde an den Gefangen biologische Experimente vorgenommen. Vor allem wurde die Wirkung von Gas und Gasbomben auf Menschen untersucht bevor sie auf dem Schlachtfeld eingesetzt wurden. Doch auch Praktiken wie Erfrierungs- und Vakuumsexperimente oder Sektionen bei lebendigem Leibe waren an der Tagesordnung. In dieser Hinsicht standen die Ärzte den deutschen Ärzten in den Konzentrationslagern in nichts nach. Das Schlimme dabei ist, das viele von ihnen mit Straffreiheit davongekommen sind. Nach dem Krieg haben die USA einigen Ärzten Immunität zugesagt, wenn sie im Gegenzug die wissenschaftlichen Ergebnisse bekämen. Dabei waren auch einige US-Amerikaner in dem Lager bei den Experimenten umgekommen.

Nach zwei Tagen ging die Reise aber schon weiter. Diesmal aber zum Glück nicht so weit, nur 2 Stunden mit dem Zug ins benachbarte Changchun. Changchun ist an sich nicht besonders attraktiv. Sie ist eine typische nordchinesische Industriestadt: Viel Schwerindustrie, eintönige Architektur, eben ein bisschen heruntergekommen im Vergleich zu den Glanzstädten wie Shanghai, Shenzhen und sogar Guangzhou. Dennoch hat die Stadt etwas Besonderes. Wie schon erwähnt errichtete Japan ab 1931 den Marionettenstaat Mandschukuo. Dabei wurde Changchun als Hauptstadt auserwählt. Deshalb befindet sich hier der ehemalige Kaiserpalast, des letzten Kaisers von China, Pu Yi. Dieser, der sich nach seiner Absetzung 1911 und 1917 nach dem Thron sehnte, wurde von Japan zuerst als Präsident, später als Kaiser von Mandschukuo eingesetzt. Heutzutage kann man den Palast besuchen. Dabei erfährt man Einiges über das Hofleben, über das Privatleben und die Person Pu Yis und darüber wie in Wahrheit Japan Mandschukuo regierte. Außerdem ist ein weiteres Museum zur Besatzung durch das Japanische Kaiserreich angegliedert. Insgesamt kommen der Kaiser und Japan dabei nicht gut weg. Der Kaiser wird als Kollaborateur und Verräter am chinesischen Volk dargestellt, während die Japaner als Kriegstreiber gesehen werden. Besucht man diesen Ort oder auch die Einheit 731, kann man das schwierige Verhältnis zwischen Chinesen und Japanern gut verstehen. Von chinesischer Seite wird dabei vor allem kritisiert, dass Japan sich bis heute nicht in ausreichender Form bei China für die Taten während der Besatzungszeit und im Krieg entschuldigt hat. Außerdem wird Japan vorgeworfen, sich nicht selbstkritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Geschichte zu verdrängen. Man kann die Situation vielleicht im Entferntesten mit der zwischen Israel und Deutschland vergleichen.
Trotz dieser bedrückenden Last kann man auch angenehme Dinge in Changchun machen, so z.B. Skifahren. Nur etwa 20 km außerhalb des Stadtzentrums gibt es in einem Naturschutzgebiet ein Wintersportzentrum. Um dahin zu gelangen muss man von der Straßenbahn-Haltestelle ungefähr noch 3 km laufen. Ein Taxifahrer meinte er könne mich für 100 Yuan dahin bringen. Als ich nachfragte: „100?!? Du meinst einhundert??“ Nickte er und grinste mich hämisch an. Ich lachte ihn nur laut aus und ging weiter. 100 Yuan, dafür komme ich im teuren Guangzhou gut 30 km weit, fast bis zum Flughafen. Schon merkt man, dass man in einer Stadt von 2 Millionen Einwohnern für chinesische Verhältnisse auf dem Land ist und andere Regeln gelten. Er wollte aber nicht glauben, dass der Ausländer tatsächlich „3 km zu Fuß (?!)“ laufen will und lief mir hinterher. Am Ende war er, schon sichtlich verzweifelt, bei 60. Als ich ihn immer noch ignorierte und weiterlief stampfte er irgendwann wütend ab. Damit hatte er nicht gerechnet. Naja, selber schuld.
Das Skifahren war, auch wenn nicht besonders spannend und abwechslungsreich, ganz nett. Immerhin stand ich diese Saison wenigstens einmal auf den Brettern und kann jetzt stolz sagen, einmal in China Ski gefahren zu sein. Das Wetter war herrlich. Abends ging es dann nach einer Nacht in Changchun aber schon mit dem Nachtzug nach Peking. Im Nachhinein ärgerte ich mich, dass ich für die kurze Strecke von 9 Stunden einen Liegeplatz genommen hatte, wäre der Sitzplatz doch um Einiges günstiger gewesen. Interessant, wie sich nach einer 36-stündigen Zugfahrt der Fokus in Bezug auf Dauer und Entfernung verschiebt.

Dafür kam ich aber ausgeschlafen am nächsten morgen in Beijing an. Es war übrigens der letzte Tag des Chinesischen Neujahrs, das Laternenfest. Nachdem ich im Hostel, welches sich ungefähr nur 10 Gehminuten von der Verbotenen Stadt entfernt befand, eingecheckt und mich frischgemacht habe, bin ich gleich wieder los und habe mich mit Moni getroffen. Moni ist, ihr könnt es schon erraten, ebenfalls Freiwillige und zwar bei DAAD in Peking. Zusammen wollten wir zum letzten Tag des Frühlingsfestes ein paar Special Events ausfindig machen und uns diese anschauen. So hat sie von Drachentänzen und einem Laternen-Lichterfest gehört, die wir aber leider nicht gefunden, bzw. nicht stattgefunden haben. So habe ich trotzdem ein paar andere Seiten von Beijing kennengelernt, wie den Beihai-Park, den Trommelturm und einige Hutongs (typische traditionelle Wohnsiedlungen in Peking). Da ich vor zwei Jahren mit meiner Familie schon einmal dort war, konnte ich die großen Sehenswürdigkeiten, wie die Verbotene Stadt, die Große Mauer oder das Olympiastadion auslassen. Am Abend kamen wir dennoch auf unsere Kosten: In der ganzen Stadt gab es überall kleine, private Feuerwerke, die zu einem einzigen großen Geballere und Geböllere verschmolzen. Zum Teil feuerten die Leute ihre Batterien auf der Straße genau neben den parkenden und fahrenden Autos und Bussen ab. Die schien das aber alle wenig zu stören. Auch die Leute stiegen ganz normal ein und aus, obwohl vielleicht in 2 m Entfernung eine Rakete gezündet wurde. Insgesamt hat es sich für 3 Stunden angehört, als sei Krieg ausgebrochen.
Am nächsten Tag war dann aber nichts mehr von dem nächtlichen Schlachtfeld zu sehen, alles blitzblank aufgeräumt. Mein Tag begann damit im morgendlichen Berufsverkehr zu einer Fernbusstation zu pendeln, von der im Internet behauptet wurde, dass von ihr Fernbusse nach Guangzhou fahren würden. Ich hatte nämlich noch keine Rückfahrt nach Guangzhou und alle Züge waren ausverkauft, selbst die Sitzplätze. Meine letzte Hoffnung auf eine halbwegs günstige Fahrt nach Hause war also eine Busfahrt. Leider stellte sich heraus, dass es keine Verbindung nach Guangzhou gab und ich musste ein Flugticket kaufen. Danach besuchte ich den Lamatempel. Zwar sehr schön, da dieser ein Tempel des tibetischen Buddhismus ist, aber nachdem man ein paar Tempel gesehen hat, ist das nicht mehr so atemberaubend, wie am Anfang. Zum Mittagessen traf ich mich mit Moni und abends traf ich mich mit meiner Mentorin, die auch gerade in Peking war.
Am nächsten Tag besuchte ich noch den Himmelstempel, wo ich fast dem Kanadischen Ministerpräsidenten Stephen Harper über den Weg gelaufen wäre, wie ich später herausfand. Zusammen mit meiner Mentorin gingnen wir in die Art Zone 798, ein altes Fabrikgelände, das Künstler jetzt als ihre Werkstätten und Verkaufsräume nutzen. Ein paar wohnen auch direkt da. Es war ganz interessant die Vermischung von modernen und traditioneller, westlicher und chinesische Kunst zu sehen. Dabei waren aber auch ein paar exotische Werke dabei. In einer Gallerie konnte man z.B. nordkoreanische Kunst anschauen und kaufen. Abends sind wir zusammen mit Moni noch Pekingente essen gewesen. Die Pekingente wird ähnlich wie ein Wrap oder ein Yufka gegessen. Der Koch schneidet die Ente vor den Augen der Kunden in hauchdünne Streifen. Man bekommt ein paar kleine rundliche, dünne Pfannkuchen eine bestimmte Soße, Gürkchen und Lauchzwiebeln dazu. Man nimmt sich einen Pfannkuchen, taucht ein zwei Stücke der Ente in die Soße, legt sie auf den Pfannkuchen, legt ein paar Gurken und Zwiebeln dazu, rollt ihn zusammen und isst ihn. Hierbei dürfen, extrem selten beim chinesischen Essen, die Hände benutzt werden. Gut gefüllt ging es danach noch in das bekannte Bar- und Restaurantviertel Sanlitun. Wer in Peking ist und abends mal weggehen will, ist hier genau richtig. Hier gibt es Bars, Restaurants und Clubs auf engstem Raum. Dabei sind die Preise in manchen Bars für Pekinger Verhältnisse einigermaßen in Ordnung.
An meinem letzten Tag konnte ich nicht mehr so viel machen, da mein Flug schon relativ früh ging. Also entschied ich mich der morgentlichen Zeremonie des Fahnehissens auf dem Platz des Himmlischen Friedens beizuwohnen. Laut Aussage der Dame im Hostel reicht es locker, wenn man 20 Minuten vorher da ist. Hätte ich mich da nicht mal auf sie verlassen. Eine halbe Stunde vor der Zeremonie wird der Zugang zum Platz bereits abgesperrt. Somit blieb mir nur die Zeremonie von der anderen Straßenseite aus zu verfolgen. Wenn die Soldaten aus der Verbotenen Stadt kommen und auf den Platz marschieren wird extra für sie die Straße gesperrt. Genau zum Sonnenaufgang wird die Fahne unter Begleitung der Nationalhymne gehisst. Leider habe ich diesen Moment nur halb mitbekommen, da durch mein Sichtfeld immer wieder Busse und Autos fuhren. Bei dem Lärm hört man die Hymne auch nicht richtig. Das nächste Mal, wenn ich in Peking bin, werde ich nochmal hingehen und diesmal früher da sein.

 

Jetzt bin ich auch schon fast wieder eine Woche zu Hause. Seit Montag ist wieder normaler Schulalltag. Es fühlt sich ein bisschen so an, wie nach den Sommerferien. Aber ich freue mich auf den Alltag. Die Ferien waren sehr schön. Ich habe viel erlebt, bin viel rumgekommen und habe nette Leute kennengelernt. Jetzt ist aber auch mal wieder Zeit für mein Leben hier in Guangzhou.
Bei mir ist es übrigens seit Montag herrlich war, bei ungefähr 25°C. Durch das Internet und Gespräche mit zu Hause, weiß ich, dass es in Deutschland gerade ja nicht so gemütlich ist. Aber haltet durch, es kommen wieder wärmere Zeiten!

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