Ungarn und Europa. Ungarn und Europa?

Sonnenschein, warme Luft, Freitagmittag: Eiszeit.
Der perfekt unperfekte Moment, um über Politik zu sprechen.

Oft bereits wurde mir als einer deutschen Freiwilligen, die für ein Jahr in Ungarn lebt, die Frage gestellt, wie die Einstellung der ungarischen Bürger zu Europa ist. Ich selber habe mich mittlerweile viel mit dieser Frage beschäftigt. Es liegt mir sehr am Herzen, diese Frage so gut und so fair, wie es mir möglich ist, zu beantworten.

Im Folgenden möchte ich auf drei Punkte eingehen:

  1. Wie ist die Einstellung der Ungarn zu Europa?
  2. Welche Maßnahmen ergreift Orbán, und wie arbeitet er?
    Wie findet das Volk ihn, seine Partei und deren politische Richtung?
  3. Was denken Ungarn über die Flüchtlingsproblematik?

Zuvor ist es mir noch wichtig, darauf hinzuweisen, dass alle hier geschilderten Erfahrungen, Meinungen o.ä. ausschließlich auf meinen eigenen Erlebnissen basieren und dieser Bericht außerdem, besonders aufgrund der Tatsache, dass ich mich zumeist in einer einzelnen Gesellschaftsschicht – dem Bildungsbürgertum – bewege, nur ein unvollständiges Bild voller Lücken und offen bleibender Fragen zeichnen kann. Ebenso wenig wie „den Deutschen“ oder „die Deutschen“ gibt es schließlich „den Ungarn“ oder „die Ungarn“ – alles, was ich im Folgenden schreibe, sind notwendigerweise Verallgemeinerungen, die weder dem einzelnen Menschen noch der komplexen Situation wirklich gerecht werden können.

Dennoch ist es meiner Meinung nach essentiell, einen Eindruck von der aktuellen Situation in Ungarn und der ungarischen Mentalität zu bekommen, um die Gedanken und Gefühle der Menschen hier nachvollziehen zu können.

Im Allgemeinen handelt es sich bei Ungarn um ausgesprochen fröhliche, gastfreundliche und hilfsbereite Menschen, die es jedoch in der Geschichte wie auch heutzutage nicht immer leicht hatten/haben. Sie sind – vermutlich aufgrund einer Vergangenheit, in der Ungarn regelmäßig als Spielball zwischen verschiedenen Mächten diente; oft ungerecht behandelt und zerrissen wurde – auf ihre Identität als Ungarn und somit ihre Nationalität stolz und sehr traditionsbewusst.

Die Familie hat in Ungarn eine zentrale Bedeutung, und die Kleinheit des Landes schützt die Menschen davor, sich aus den Augen zu verlieren. Auch Leistung ist wichtig, ist sie doch der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Aufgrund dessen stellen in den Schulen wie auch auf den Universitäten regelmäßige Wettbewerbe einen Grundbestandteil der Ausbildung dar. Junge Ungarn blicken oft eher desillusioniert in die Zukunft, konzentrieren sich mehr auf messbare Erfolge und Ergebnisse, nicht so sehr auf Träume. Sie entscheiden sich für Sicherheit und gegen Risiken – der klassische Zukunftstraum: ein guter Beruf und ein schönes Haus, um der kleinen Familie ein gutes Leben bieten zu können. Hierzu werden sie durch Eltern und Großeltern, auch aufgrund deren eigener Erfahrungen, ermutigt. Gerade die ältere Generation verfügt oft nur über geringe Mittel, vielfach zu gering zum Leben – die Renten sind niedrig und die Unterstützung durch den Staat nur in Maßen, wenn überhaupt, gewährleistet.

Auch der arbeitsfähige Teil der Bevölkerung hat keine Möglichkeit, etwa beim Verlust des Arbeitsplatzes Unterstützung zu bekommen: Ein Arbeitsloser ist – nach wenigen Monaten, in denen er Arbeitslosengeld erhält, jedoch oft kaum eine neue Anstellung finden kann – auf sich allein gestellt. In Ungarn herrscht teils, besonders auf dem Lande, noch immer große Armut; Häuser sind baufällig, Kinder schwänzen die Schule, und es mangelt an so Essenziellem wie ausreichenden Lebensmitteln. Das wenige Vorhandene wird aber stets großzügig und stolz geteilt. Auch Neues wird in Ungarn freundschaftlich und interessiert, allerdings eher leicht distanziert aufgenommen.

  1. Wie ist die Einstellung der Ungarn zu Europa?

Wie in jedem Land gilt auch hier: Verschiedene Leute, unterschiedliche Meinungen. Allgemein aber sieht vor allem die jüngere Generation Europa zumeist positiv und als eine wunderbare Chance, eine Gemeinschaft voller Möglichkeiten, deren Erhalt wichtig ist. Dass Ungarn an einem Austritt aus der EU interessiert ist, ist nicht mein Eindruck – der Wunsch nach mehr Eigenständigkeit der einzelnen Länder im Rahmen der EU ist zwar spürbar und wird auch von der Regierung propagiert. Die Vorteile der EU liegen aber auf der Hand; gerade für die schwächeren Mitgliedsländer, und dies ist auch den meisten Ungarn deutlich bewusst. Woher rührt also diese Angst vor gemeinsamen Entscheidungen, vor Autonomieverlust? Die Antwort liegt vermutlich in der Geschichte des Landes; wachgerufen wurden das Misstrauen gegenüber Europa und die Abwendung von gemeinsam beschlossenen Maßnahmen durch die Flüchtlingsproblematik (siehe Punkt drei).

  1. Welche Maßnahmen ergreift Orbán und wie arbeitet er?
    Wie findet das Volk ihn, seine Partei und ihre politische Richtung?

Orbán Viktor ist der Parteivorstand der konservativen, jedoch nicht rechtsextremen Partei Fidesz und seit 2010 erneut Ministerpräsident Ungarns. Zuerst ist es mir wichtig, zu betonen, dass die deutsche Berichterstattung zumeist spürbar voreingenommen über die ungarische Politik berichtet, wie auch im Gegenzug die ungarische Berichterstattung über die europäische und besonders die deutsche Politik. Eine deutliche Beeinflussung der Bürger beider Länder durch die jeweiligen Medien ist in Bezug auf diese Thematik in beiden Ländern gegeben, was es schwer macht, objektive Informationen zu erhalten. Bei den ungarischen Bürgern hat dies zwei deutlich wahrnehmbare Konsequenzen: Einerseits ist da ein Gefühl der ungerechten Behandlung, der Stigmatisierung und des Nicht-Verstanden-Werdens durch die (west-)europäischen Nachbarn im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen, was den perfekten Nährboden für eine Abneigung gegenüber der EU und das Driften in eine rechtsextreme Richtung bietet. Andererseits führt die einseitige Berichterstattung in Kombination mit der rechten Propaganda der Regierung unter einem großen Teil der Bevölkerung zu einer sich festsetzenden, von Vorurteilen und Falschinformationen geprägten Meinung. So wird vielfach etwa angenommen, dass sich in Deutschland die Missstände mehren und – salopp formuliert – das Land aufgrund der vielen dort aufgenommenen Flüchtlinge langsam im Chaos versinkt.

Wieso aber propagieren Orbán und seine Partei einen rechten Standpunkt, handelt es sich doch bei Fidesz nicht um eine rechtsextreme Partei? Orbán greift hiermit gekonnt eine sich im Land abzeichnende Stimmung auf, kommt der rechtsextremen Jobbik-Partei entgegen, hält sie somit als politischen Gegner klein und sichert sich Macht. Orbán provoziert gekonnt und kennt seine Grenzen. Im Land wird er deshalb nicht unbedingt negativ aufgenommen, jedoch auch nicht glorifiziert. Im Allgemeinen spielen sich meinem Eindruck nach die Machtspiele der Parteien eher im Hintergrund ab, das Interesse für Politik ist oft eher klein und es fehlt an ausreichender Wissensvermittlung, an Informationen. Umso sichtbarer sind im Gegenzug die Propagandamaßnahmen der Fidesz- oder der Jobbik-Partei. Zurzeit etwa sind überall Plakate mit dem Aufdruck „Stoppt Brüssel“ zu sehen. Diese beziehen sich erneut auf die Flüchtlingsproblematik. Orbán tritt durchaus für einen Verbleib in der EU ein, aber auch für mehr Autonomie der einzelnen Länder innerhalb selbiger. Besonders wirtschaftlich sieht auch er aber die Mitgliedschaft in der EU als äußerst wichtig an. Seit einigen Wochen hat sich Orbán allerdings insbesondere unter jungen Akademikern äußerst unbeliebt gemacht – mit dem Versuch, über die Einführung eines neuen Gesetzes (das Verbot ausländischer Universitäten ohne Sitz in ihrem Heimatland) die in Budapest ansässige amerikanische CEU (Central European University) zu verbieten, also zwangszuschließen. Dies wurde als ein Angriff auf die Bildungsfreiheit aufgefasst, und in wiederholten Demonstrationen gingen tausende junge Ungarn auf die Straße, um ihren Unmut und ihre Entrüstung zu zeigen.

  1. Was denken Ungarn über die Flüchtlingsproblematik?Wenden wir uns nun der Frage zu, auf die auch die vorigen Punkte letztendlich hinausliefen. In Ungarn ist tatsächlich eine große Abneigung gegenüber Flüchtlingen spürbar. Diese baut sich auf begründeten genauso wie auf unbegründeten Ängsten auf. Es ist Tatsache, dass in Ungarn verglichen etwa mit Deutschland teils noch immer große Armut herrscht, besonders Sinti und Roma sind oft schlecht ausgebildet und haben somit keine Zukunftschancen; viele sind arbeitslos und leben in schlechten Zuständen. Dies liegt auch darin begründet, dass bereits die Kinder meist schlecht ausgebildet und unzureichend gefördert werden – ein Thema für sich, aber ein wichtiges Beispiel dafür, dass das Land viele innenpolitische Probleme und Baustellen hat, die behoben werden müssen. Viele Ungarn fühlen sich daher mit der zusätzlichen Aufnahme von Flüchtlingen im Land überfordert; sie befürchten eine sich ausbreitende Unzufriedenheit unter den Aufgenommenen, die nach einer Weile feststellen würden, dass sie keine Zukunft in Ungarn haben.

Auch besteht vielfach die Angst vor einer Überfremdung, einem Verlust der ungarischen Mentalität, des ungarischen Lebensgefühls. Auch hier ist der Grund für diese Angst in der Geschichte des Landes zu suchen, einer Geschichte, die durch Fremdherrschaften geprägt ist, seien es nun die Türken, die Österreicher oder die Sowjetunion. Dabei handelt es sich bei Ungarn tatsächlich um ein zutiefst multikulturelles Land – kaum ein Ungar ohne Vorfahren oder Freunde aus einem anderen Land wie etwa Österreich, Kroatien oder der Slowakei. Allerdings sind alle diese Länder mental wie auch geographisch Ungarn „näher“. Im Allgemeinen sind Ungarn wie bereits erwähnt ausgesprochen gastfreundlich, zumindest so lange keine Angst vor Einmischung, dauerhaftem Bleiben oder auch allzu großer Fremdheit besteht. Vielleicht lässt sich Ungarn mit einer kleinen Familie vergleichen, die Gäste zwar freundlich aufnimmt, jedoch auch froh ist, sobald sie schließlich wieder fort sind und die Familie in ihren gewohnten Rhythmus und ihre vielfältigen kleinen Traditionen zurückkehren kann.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass insbesondere Deutschland und Ungarn in Bezug auf die Fragen nach einer europäischen Politik und Identität, einer nationalen Selbstbestimmung, einer Aufnahme von Flüchtlingen oder einem Einreiseverbot usw. tatsächlich recht kontroverse Einstellungen und Gefühle vertreten. Wichtig ist, zu versuchen, sich von einseitiger Berichterstattung abzuheben, zu versuchen, Verständnis für die jeweils andere Meinung aufzubringen und den offenen Dialog zu suchen. Anstatt uns über dieser Frage zu entzweien, sollten wir versuchen, gemeinsame Lösungen zu finden, den Argumenten des Gegenübers zuzuhören und uns dann auf der Basis unserer eigenen Recherchen, nicht aber auf der Basis medialer Beeinflussung, unsere eigene Meinung zu bilden.

In diesem Sinne wünsche ich dir und allen Menschen auf dieser Welt ein schönes Wochenende, geprägt von entspanntem Miteinander, spontanem Lachen und lieben Worten.

Grüße aus dem warmen Juniungarn

Silja

23. Oktober

Der 23. Oktober ist einer von immerhin drei ungarischen Nationalfeiertagen.  An diesem Tag begann im Jahr 1956 der Volksaufstand mit einer von Studenten organisierten Großdemonstration in Budapest. Diese forderten bürgerliche Freiheitsrechte, Parlamentarismus, nationale Unabhängigkeit und schließlich das Wiedereinsetzen von Imre Nagy als Staatsoberhaupt.

Dieser war von 1953-55 Ministerpräsident gewesen; durch die Förderung von Landwirtschaft und Konsumgüterindustrie stieg der Lebensstandard unter ihm erheblich. Sein von Stalin eingesetzter und von Chruschtschow seines Amtes enthobener Vorgänger, Mátyás Rákosi, hatte vor allem die Schwerindustrie subventioniert. Nagy führte auch die Terrorherrschaft Rákosis nicht fort. Dieser hatte tausende Regimegegner ohne Gerichtsverfahren verhaften und in Arbeitslager bringen oder ermorden lassen. Mehr noch: In seiner Amtszeit 1952-53 waren rund 10 Prozent der ungarischen Bevölkerung angeklagt worden. Unter Nagy hingegen besserte sich die Situation im Ungarn der 1950er stetig. 1955 gelang es jedoch Rákosi als Oberhaupt der kommunistischen Partei, Nagy des Amtes als Ministerpräsident zu entheben und ihn aus der Partei auszuschließen.

Symbol des Volksaufstandes: die ungarische Nationalflagge, in der das in der Mitte herausgeschnittene sozialistische Wappen fehlt

Die Unzufriedenheit in Ungarn stieg nun erneut an und führte schließlich im Oktober 1956 dazu, dass die ursprünglich friedliche Studentendemonstration über Nacht in einen teils blutigen Volksaufstand überging; selbst Polizei und Militär schloss sich den Regimegegnern an. Imre Nagy wurde noch in derselben Nacht vom Zentralkomitee der Partei der Ungarischen Werktätigen zum Ministerpräsidenten berufen.

Die ungarischen Bürger lehnten sich gegen die sowjetische Unterdrückung auf – mit Erfolg, wie es zwei Wochen lang schien.

Der Aufstand weitete sich auf andere Städte aus; im ganzen Land wurden Arbeiter-, Revolutions- und Nationalräte gegründet, auch ein landesweiter Generalstreik wurde organisiert, und es erschienen wieder erste Ausgaben unabhängiger Zeitungen. Imre Nagy bereitete Wahlen vor und führte erneut ein Mehrparteiensystem ein. Außerdem erklärte er am 1. November 1956 die Neutralität Ungarns.

Auf dem Szechény ter in Pécs stand zum Gedenken an die Revolution von 1956 tagelang ein Panzer

Die Revolutionäre lieferten sich blutige Kämpfe mit den in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen, und schon bald schien die Revolution gewonnen. Die Sowjetunion jedoch schickte Verstärkung, am 4. November rollten sowjetische Panzer in Ungarn ein, die Sowjetarmee griff an; der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen, die Regierung Nagy für ungültig erklärt.

Über 200 000 Ungarn flohen über Österreich in den Westen. Imre Nagy sowie 350 weitere Menschen wurden hingerichtet.

Gesichter der Revolution
Statue von Imre Nagy in Budapest

Heute werden sie als Helden gefeiert; kaum eine Stadt, in der keine Statue von Imre Nagy steht.

 

 

 

Die Statue Nagys blickt direkt auf das Parlament; vor der Brücke liegen Blumen und Kerzen

Besonders am 23. Oktober wird der Opfer gedacht – Imre Nagy, aber auch Menschen wie dem beim Aufstand erst 15jährigen Péter Mansfeld, der aufgrund seiner Jugend zunächst zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, um dann nur 11 Tage nach seinem 18. Geburtstag doch hingerichtet zu werden.

Das große Plakat an den Treppen zeigt Péter Mansfeld

In diesem Jahr waren aufgrund des 60. Jahrestags die Feierlichkeiten besonders aufwendig, noch Tage und Wochen lang fand man Plakate oder Installationen, Kerzen und Blumen.

Auch auf einem Kreisel wird an die Revolution erinnert

Mit den Aufnahmen möchte ich zeigen, wie wichtig der 23. Oktober für Ungarn ist. Vielleicht seid ihr beim Betrachten insbesondere des Videos ähnlich ergriffen wie ich. Mir ist dabei wieder einmal aufgefallen, wie wenig wir in der Schule über die Geschichte anderer Länder gelernt haben, selbst über die jüngste Geschichte der anderen europäischen Nationen – und doch wäre dieses Wissen so wichtig, um die Menschen dort und ihr Denken zu verstehen.