Bullshit-Bingo

Wieder und wieder stelle ich fest, dass ich anscheinend auch mit 23 noch immer nicht alt und erwachsen genug bin, um dem Mist zu entkommen, den Erwachsene aus näherem und weiterem Umfeld unvermeidlich auf einen abfeuern. Nachdem ich dem Klassiker „Pass auf, jetzt geht der Ernst des Lebens los“ an bestimmt fünfzehn Wendepunkten meines Lebens lachend entkommen bin, sobald ich verstanden hatte, dass sowohl die Grundschule als auch das Gymnasium als auch die Oberstufe als auch, Surprise, das Studium nur so ernst ist, wie man es sich gestalten möchte, häufen sich nun seit ein paar Wochen die wohlgemeinten, besorgten, ratgebenden, ABSOLUT NICHT HILFREICHEN Kommentare und Erkundigungen.
Seitdem ich diesen Blog mehr als Selbsttherapie benutze denn als Berichterstattung, fühle ich das riesige Verlangen, mir meine vielleicht unangemessen große? Aggression von der Seele zu schreiben über diese Gesprächsschnipsel, die mit Sicherheit die meisten anderen Nicht-mehr-Freiwilligen auch schon gehört haben (von einigen weiß ich es sogar aus von hysterischem Gelächter und von Herzen kommenden Seufzern begleiteten Bullshit-Bingo-Runden).Allen dummen Fragen voran die dümmste aller Fragen: „UNd wAs MaCHsT dU jEtZt?“
Achso, ja! Lasst mich nur kurz umständlich das Papyrus aus meiner hinteren Hosentasche pfriemeln, auf dem ich in allen Details den absolut wasserfesten und idiotensicheren Plan B notiert habe, über den ich mir schon seit Monaten Gedanken mache für den Fall, dass mein Aufenthalt in Brasilien wegen einer nie zuvor dagewesenen, sämtliche globalen Prozesse und Strukturen aus den Angeln hebenden Pandemie einen Tag vor Abflug abgesagt wird.
… Würde man gerne erwidern. Stattdessen seufzt man matt: „Weiß nicht. Lässt sich nichts planen. Bin jetzt erstmal bei meiner Mutter.“ Und sinkt dann zurück auf die elterliche Couch. Deprimierend.

Dieser Antwort folgen dann im Allgemeinen allerhand (natürlich wieder nur gut gemeinte!) Vorschläge, was man denn tun könnte, bzw. entrüstete Fragen, warum man denn dies oder jenes nicht tut.
Zum Beispiel mein Onkel am Telefon: „Willst du dich jetzt anderswo engagieren?“
„Naja, ich habe nach wie vor meine beiden Ehrenämter am Start, die laufen ja remote, das kann ich also auch von Bremen aus machen.“
„Achso, aber ich meine so, in Zeiten der Corona-Krise? Also, dass du dich in der Krise engagierst, bei der Nachbarschaftshilfe oder so?“
Aus irgendeinem Winkel kratze ich die Motivation zusammen, ihm meine Meinung zu Verantwortlichkeiten „in der Krise“ zu erklären. Wenn Solidarität laut Regierung bedeutet, Abstand von einander zu halten, seine Großeltern nicht mehr zu besuchen und sein eigenes Ding zu machen, und ich mich wohlgemerkt ohnehin schon engagiere, im Gegensatz zu meinem Onkel, der Bier trinkend auf seiner Terrasse mit mir telefoniert, dann fühle ich mich nur so semi-verantwortlich, in der Frustration und der Enttäuschung, die die weltweiten Maßnahmen in meiner persönlichen Entwicklung ausgelöst haben, auch noch pro bono Defizite des Staats auszugleichen. (Von dieser Meinung kann man übrigens halten, was man will, ich sehe das inzwischen auch nicht mehr so radikal und einige Dinge haben sich seitdem geändert. Aber in dem Moment war ich einfach nur wütend.)

Auch ein Klassiker von egal wem, den man nicht um seine Meinung gebeten hat, wenn man eröffnet, dass man nicht – Überraschung! – „das Weite gesucht“ hat, sondern zuhause hängt: „Hab ich mir schon gedacht. Naja, aber ist doch besser, du bist jetzt zuhause.“
Danke für absolut nichts, Captain Obvious. Thema verfehlt, Sechs, setzen.

Mehrere Nicht-mehr-Freiwillige haben mir erzählt, dass ihre Eltern nach einer Woche oder sogar nur wenigen Tagen, die sie apathisch im Bett  bzw. zuhause rumgehangen hatten, Sätze sagten along the lines von: „Jetzt ist aber auch mal gut, jetzt reiß dich mal wieder zusammen und kümmer dich um was Neues!“ Das (etwas weniger brutale) Equivalent, das ich von mehreren Freunden bekam, war: „Ist doch auch eine Chance, oder? Du findest bestimmt ganz schnell was Anderes, was du machen kannst, und reisen kannst du ja später immer noch.“
Erstens. Solche Kommentare scheinen immer von Menschen zu kommen, die vermutlich sogar vergessen haben, dass ein Tellerrand existiert, über den sie hinausschauen könnten (wenn sie denn wollten). Ist schon klar, dass sich für dich nicht sonderlich viel verändert, wenn du ohnehin deine Heimatstadt nur einmal jährlich für zwei Wochen Strandurlaub verlässt. Die Tatsache, dass für einige Menschen Fernweh ebenso schlimm sein kann wie Heimweh und die Sehnsucht nach Neuem ebenso schmerzhaft wie die Sehnsucht nach der eigenen Familie, ist für dich schwer vorstellbar, ok. „Dann macht man das eben nächstes Jahr“ ist aber nunmal leider in Hinblick auf kulturweit nichts, was sich so einfach anwenden lässt, denn:
Zweitens. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, wie viel wir tatsächlich in diesen Auslandsaufenthalt investiert haben – wie viel Zeit, wie viel Geld, wie viel Mühe, wie viel Aufwand für bürokratische Verrenkungen, das Vermieten von Wohnungen und Kündigen von Jobs, wie viel Engagement im ewig langen Bewerbungsprozess, in der Beantragung des Visums, wie viel Herzblut für die mentale Vorbereitung, für das Schüren von Vorfreude und das Bekämpfen von Ängsten, für schwierige Entscheidungen, das Schreiben von Packlisten und Abschiedsbriefen, wie viel Stolz auch, als klar war, wohin man gehen würde, und wenn man dann allen sagen konnte (und das auch tat): „Ich gehe nach Brasilien für ein halbes Jahr.“
Ich weiß nicht, ob dir klar ist, was das für ein Gefühl ist, wenn dir klar wird, dass all diese Vorbereitungen von einem Moment zum Anderen sinnentleert werden, für nichts und wieder nichts waren, in der ultimativen Antiklimax enden. Ganz abgesehen davon, dass viele von uns nächstes Jahr zu alt sind, um sich nochmal zu bewerben, oder bis dahin ein Studium oder einen Job angefangen haben müssen, ist die Entscheidung, diesen ganzen inneren und äußeren Prozess noch einmal durchzumachen – und das ohne die Sicherheit, nochmal genommen zu werden, geschweigedenn, in dieselbe Einsatzstelle zu kommen – keine, die man schnell oder leichtherzig trifft.
Drittens. Lass mir Zeit zum Trauern, BITTE. Stell dir vor, dein gesamtes nächstes Jahr wird abgesagt. Nicht nur ein Festival oder ein Urlaub. Nicht nur verschoben, verändert oder verkleinert. Sondern abgesagt. Mitsamt allen Sicherheiten, auf die du angewiesen warst, und allen Plänen, die du drumherum gebaut oder dementsprechend angepasst hattest. Stell dir vor, dieses Jahr in dieser Form war einmalig, unwiederbringlich, unersetzbar. Dich will ich sehen, denke ich jedes Mal im Stillen, womit wir wieder bei Erstens wären, dich will ich sehen, der/die du noch nie auch nur darüber nachgedacht hast, so viel Energie in ein solches Abenteuer zu stecken, wie du reagieren würdest an meiner Stelle, ob du direkt auf den Füßen landen würdest, ob du das nicht persönlich nehmen würdest, ob dir die Enttäuschung und der Frust und die aufgezwungene Untätigkeit nicht die Luft abschnüren und sämtliche Motivation rauben würde. Dich will ich sehen.

Natürlich sagt man all diese Dinge so gut wie nie. Ich – und auch alle Nicht-mehr-Freiwilligen, mit denen ich in Kontakt stehe – waren, gerade im Schock der allerersten Tage, aber auch bis heute erstaunlich gut gelaunt, zuversichtlich und voller Tatendrang. Wir hatten so viel vor, wir haben uns um so viel gekümmert, so viel versucht, wir haben uns engagiert und vernetzt und protestiert und nach Alternativen gesucht. Die meisten von uns sind jetzt zuhause und müssen entweder das erste Mal seit dem Auszug oder entgegen allen Plänen anstatt des ersten Auszugs nun wieder mit ihren Eltern koexistieren.
Natürlich sitzen wir nicht den ganzen Tag auf dem Sofa und lassen uns heulend durchfüttern. Und ich bin mir sicher, dass die meisten, genau wie ich, viel weniger über das Thema sprechen, als sie darüber nachdenken, weil man ja auch niemanden damit nerven will, weil alle betroffen sind, weil man nicht alleine auf der Welt ist, weil man es ja immerhin sehr gut hat und im Vergleich wirklich extrem privilegiert ist. Umso schlimmer ist dann – wenn man doch mal von der Wut erwischt oder der Wehmut übermannt wird und sich nicht verkneifen kann, zu sagen: „Jetzt würde ich vielleicht eigentlich irgendwo in Pinheiros in einem Café sitzen und einen cafezinho trinken.“ Oder: „In ein paar Wochen wären wir alle zusammen in Argentinien gewesen.“ Oder: „Ich frag mich, wie São Paulo zu dieser Tageszeit riecht und klingt.“ – folgende oder eine vergleichbare Antwort: „Man hat den Eindruck, du denkst, dir geht es von allen am allerschlechtesten und du stellst deine Probleme in den Mittelpunkt. Denk doch mal an (insert random example of someone who is worse off than you here).“
Man, ja, ich weiß, dass Menschen um ihre Existenz kämpfen. Ich weiß um die zynische Situation in überfüllten Asylunterkünften und um die Grausamkeit der Bedingungen in den Lagern in Griechenland. Ich weiß auch, dass manche Menschen sich von ihren liebsten Angehörigen nicht angemessen verabschieden können, weil Krankenhäuser nicht mal in den ernstesten Fällen noch Besuch zulassen. Nichts davon ist vergleichbar mit meiner Situation. Ich habe ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, keine Sorge um mich oder Menschen, die mir lieb sind, und auch ins Ausland kann ich später noch. ICH WEISS DAS. Und ich bin dankbar dafür.
Glaubt mir, ich denke nicht, dass es mir am schlechtesten von allen geht. Es fühlt sich richtiggehend schizophren an, zu versuchen, mit der eigenen Situation klarzukommen und sie gleichzeitig ins Verhältnis zu setzen mit all dem ungleich viel größeren Leid, das diese Pandemie auslöst. Und glaubt mir, was mir in diesem inneren Spagat ganz bestimmt nicht hilft, sind solche Kommentare, am besten noch verbunden mit emotionaler Erpressung – „Wir tun hier alles, damit es dir gut geht, und nie ist es genug, wir sind auch nicht glücklich mit der Situation“ – vor allem, wenn wir uns vor euch ohnehin schon zusammenreißen, um euch nicht ununterbrochen mit unserem Gejammere auf den Sack zu gehen (denn glaubt mir, das könnten wir.)

Ja, wir sind alle betroffen. Also wäre in jedem Fall ein kleines bisschen Empathie vielleicht nicht schlecht, alle miteinander. Rant over.

PS. Würde mich sehr über eure Kreuzchen im Bullshit-Bingo freuen, liebe Mitfreiwillige, und über Ergänzungen und Korrekturen.

Kleiner Aprilscherz!

Für die schätzungsweise null Leser*innen, die sich vielleicht gefragt haben, was in der Zwischenzeit so passiert ist, wie es mir ergeht, ob ich gut angekommen bin und warum ich so lange nichts mehr geschrieben habe. Einen kulturweit-Blog verspricht sie uns, und dann endet er mit guten Wünschen der Vorgängerin, endet an der Stelle, wo es erst anfängt, richtig interessant zu werden!

Tja, das hat folgenden Grund: Mein kulturweit ist geendet an der Stelle, wo es anfing, erst richtig interessant zu werden. Und zwar mit folgender eMail:

Sent: Thu 12.3.2020 10:33
From: freiwillige@kulturweit.de
Betreff: Sofortiger Stopp aller kulturweit-Ausreisen

Liebe Freiwillige,

angesichts der stetigen Verschärfung der Situation haben wir gemeinsam mit den Partner und dem Auswärtigen Amt die Entscheidung getroffen, alle Ausreisen sofort abzusagen.

Bitte sagen Sie sofort alle Reisepläne ab. Wenn Sie bereits losgefahren sind, kehren Sie um.

Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, allerdings ist sie im Moment die einzig verantwortliche für alle Betroffenen: für Sie, die Einsatzstellen und Ihre Gastländer. Die Situation in den vergangenen Tagen hat sich so unübersichtlich entwickelt – Schulschließungen, Einreisesperren, Flugabsagen, unklaren Quarantäneregelungen etc., dass wir uns zu diesem Schritt entscheiden mussten.

Wir informieren die Partner und die Einsatzstellen.

Mehr Informationen folgen, bitte warten Sie mit Rückfragen. Alle Freiwilligen die bereits im Ausland sind, werden wir in Kürze kontaktieren.
In Anbetracht der volatilen weltweiten Gesamtsituation gibt es keine andere Möglichkeit.

Mit vielen Grüßen & Bleiben Sie gesund
Anna Veigel und das kulturweit-Team

Um es nochmal sehr deutlich zu machen (und auch für mich selber, da ich es nach vier Wochen immer noch nicht ganz durchdrungen habe, weswegen ich auch geflissentlich diesen Blog ignoriert und das dazugehörige Lesezeichen aus meiner Taskleiste gelöscht habe.)
Ich bin nicht in São Paulo.

Ich werde auch nicht hinfahren.
Stattdessen sitze ich in Bremen auf dem Sofa meiner Mama.
Mein kulturweit-Vertrag endet in zehn Tagen. (Und ich kann froh sein, dass sich seit der Absage der ein oder andere Sachverhalt geklärt hat und ich nicht mehr, wie an Tag Null, so ganz ohne Studierendenstatus, Krankenkasse, Kindergeld, Job, Wohnung oder Plan dastehe.)

Ich war genau zwei Monate lang Freiwillige und habe es gerade so eben zum gepackten Koffer und zum leergeräumten Zimmer geschafft. Meine Mutter saß im Zug zu mir nach Hamburg, um mit mir Abschied zu feiern, als ich ihr und all meinen wichtigen Kontakten ohne einen weiteren Kommentar den Screenshot der eMail schickte, woraufhin wir ein laut meinem Telefonprotokoll 30-sekündiges Gespräch führten, das ungefähr so verlief:

„Ich hab gerade eine Nachricht von dir gekriegt, die ist nicht wahr, oder?“
„Doch, fürchte schon.“
„Heißt die das, was ich denke, was sie heißt?“
„Jap, fürchte schon.“
„Ok, ich komm erstmal trotzdem, und dann schauen wir weiter, ok?“
„Jau, bis gleich.“

Seitdem hat sich eine Menge getan. Ein Haufen Pläne wurden geschmiedet und verworfen, unter anderem der, diesen Blog weiterzuführen und ihn zu einem Stattdessen-Blog zu machen. Ich hatte sogar schon ein wahnsinnig originelles Motto: “ Quando se fecha uma porta, abre-se uma janela“, schrieb mir meine Betreuerin beim Goethe-Institut, die zugegebenermaßen sehr lieb ist und es nur gut meinte. Ich habe wohl ein recht sparsames Gesicht gemacht beim Lesen dieser Weisheit, das versprochene Fenster habe ich bislang weder gefunden noch geöffnet.
Dieser Blog aber ist heute mit folgenden Worten zurück ins Leben gerufen worden, die mir einer meiner liebsten kulturweit-Menschen schrieb: „Tut irgendwie gut, sowas zu lesen, auch in dieser schwierigen Zeit (…) Ich freue mich auf deine Berichte:)“ Manchmal braucht es nicht mehr als das.
Und ja, es tut gut, zu wissen, dass 200 andere Menschen in derselben Scheißsituation festsitzen, und es tut unendlich gut, diese Menschen persönlich kennengelernt zu haben, in zehn unvergesslichen Tagen am Werbellinsee beim EInführungsseminar, über das ich eigentlich auch hatte berichten wollen, wäre nicht etwas dazwischengekommen.
Aber jetzt.
Ich werde das Brasilianische Feuilleton weiterführen mit allen Büchern und Filmen, die ich nun mal als Vorbereitung gelesen und geschaut und zu denen ich mir Notizen gemacht und EInträge entworfen habe.
Ich werde von den Menschen beim Einführungsseminar berichten, von meiner geliebten Homezone, von diesen zehn Menschen, ohne die die letzten Wochen noch sehr viel spaßloser und frustrierender gewesen wären, als sie letztendlich waren.
Ich werde von allen Schnapsideen erzählen, die wir uns in der Zwischenzeit als kulturweit-Alternative ausgedacht haben, von unseren Isolations-Breakdowns, von stundenlangen Skype-Gesprächen und Palo-Santo-Gelagen, von to-do-Listen für 2020, bis 2030 und bis zu unserem unvermeidlichen Dahinscheiden (irgendwann in 500 Jahren vielleicht).
Ich werde alle Stadien der Wut, der Resignation und der neuen Hoffnung dokumentieren, die es von uns gibt.

Scheißegal, ob irgendjemand das liest, aber ich brauche was zu tun und einen Raum für Eigentherapie. Und ich freue mich auf die Blogs aller Freiwilligen, die etwas Ähnliches tun, denn, trotz allem – sind wir zum Glück nicht allein!

Soviel zu meinen Plänen und genug für heute. Até já!

Tzelin teilt ihre Beruhigungsspritze

Flüge gebucht, Visum erhalten, Zimmer klargemacht, Untermieterin gefunden, mehr oder weniger hinter mir aufgeräumt: Es scheint fast, als würde ich in genau einer Woche schon in Berlin beim Einführungsseminar herumeiern und keine zwei Wochen später – LOSFLIEGEN. Ich erspare mir jetzt die verwirrte Suche nach der verschwundenen Zeit und versuche mich darauf zu konzentrieren, was ich bislang im Trubel des neuen Jahres, mehrerer Jobs und dem Abschluss meines Studiums vollständig vernachlässigt habe: mich mental vorbereiten. Natürlich kann man die to-do-Listen im Griff und die Deadlines im Auge haben, sich ohne größere Nervenzusammenbrüche um die Logistik kümmern und  allmählich vom Freundeskreis und den Großeltern verabschieden, aber das alles nützt nichts für das stetig wachsende Gefühl von Kontrollverlust, das sich in meinem Kopf und meinem Herz ausbreitet, wenn ich merke, wie wenig ich mich eigentlich mit dem auseinandergesetzt habe, was auf mich zukommt, und wie wenig ich abschätzen kann, was mich erwartet, was von mir erwartet wird, was ich von mir erwarte.

Auch in weiser Voraussicht auf die nächsten Kohorten verängstigter Kulturweitler, die in ferner Zukunft vielleicht über diesen Blog stolpern und zwischen Filmrezensionen und Gedichtschnipseln nach irgendetwas Hilfreichem forsten, möchte ich eine originale eMail-Korrespondenz meiner wunderbaren Vorgängerin am Goethe-Institut und mir mit euch teilen. Ich hatte eigentlich nur gefragt, wie viel Miete sie zahlt, und bekam auf meinen Dreizeiler zwei  wundervolle, ellenlange eMails zurück, die meine Stressfaktoren Nr. 1, 2, 7, 15 und 34 sang- und klanglos in Luft aufgelöst haben – gerade die, die ich nicht selber im Vorhinein positiv beeinflussen konnte. Ich war und bin unglaublich dankbar für diese herzliche, zugewandte Hilfe und Unterstützung und hoffe, dass sowohl die praktischen Infos als auch die verbalen Beruhigungsmittel auch noch weiteren Leuten zugutekommen. Achja – sobald wir  in derselben Stadt sind, bekommt sie mindestens drei DANKE-Biere oder -Kaffees ausgegeben!

Sent: Wednesday, January 22, 2020 4:21 PM
To: Céline Schneidewind
Subject: AW: Zimmer :)

Hi Hi Céline,

Na klar, kann man noch ein schönes Neues wünschen, finde ich – Also Frohes Neues! :)
(…) Die Frage nach dem Budget ist eine sehr wichtige und durchaus sehr berechtigte Frage. Diese habe ich meiner Vorgängerin auch gestellt, muss aber sagen, obwohl sie mir eine wirklich sehr liebe Mail geschrieben hat, war ich am Ende etwas überrumpelt von den Kosten, daher versuche ich dir alles bestmöglichst aufzulisten. Tut mir Leid, wenn ich dich mit Text überschwemme, aber so kannst du dich vielleicht schon etwas auf die Zeit hier eingrooven. Ich überschlage den Wechselkurs Reais – Eur immer auf 4,5, schau gerne mal nach dem genauen Wechselkurs ;).

Miete:
(…) Überweisungskosten in das Ausland sind unverschämt hoch, vermeide das einfach. Ich bezahle alles bar oder per Kreditkarte, denn dafür fallen keine Gebühren an. Bei der Bank hier um die Ecke kannst du sogar kostenfrei Geld mit der Kreditkarte abheben. Falls du die Kreditkarte bei Sparkasse, Volksbank oder Co. hast, kannst du deinem Ansprechpartner dort, deinen Aufenthalt in Brasilien mitteilen. Auf diese Weise verhinderst du womöglich, dass die Karte unangekündigt aus einer Sicherheitsmaßnahme heraus gesperrt wird. Ich habe die Visa-Karte von der DKB und bin super zufrieden.

Transport:
Installiere dir Uber, es ist nicht nur praktisch, sondern auch günstig hier. Ich behaupte nun mal, dass du für viele Trips in die Innenstadt mit Uber um die 13-25 BRL bezahlen wirst (SP ist groß, daher kommt es natürlich an, welche Strecke du zurücklegen wirst). Da du zum Institut laufen kannst, fällt dabei nicht tagtäglich Kosten für dich an. Für Trips mit dem Bus oder Metro wird dich jedoch auch eine Fahrt nur 4,30 BRL kosten, also unter einen Euro. Zweiter App Tipp, installiere dir Moovit, so kommst du super mit den Öffis im Großstadtdschungel überall hin.
Fernbusse für eventuelle Reisen sind auch sehr erschwinglich und gut zu buchen.

Lebensmittel:
Jaaa mhh, die doch hohen Kosten im Supermarkt haben mich zugegebenermaßen überrascht. Dienstleistungen sind hier günstig, jedoch Supermarkt ist einen mini-Ticken teuerer als in Deutschland, würde ich behaupten. Unglaublich leckere Früchte und Gemüse sind günstig, alles andere kann schon etwas teuerer sein. Liegt jedoch aber auch an unserer super Lage hier in Pinheiros. In ärmeren Viertel kann man bestimmt auch sparen. Meine Tipps für die Umgebung hier:

TOP: Mercardo Municipal Pinheiros, Pão de Açúcar (dort mache ich meinen normalen Einkauf, Rewe/Edeka-ähnlich), in verschiedenen Abständen finden auch Feiras Livres (Straßenmärkte) hier statt, einfach mal nach Zeiten und Standorten googeln.
OK: Dia (ist etwas die Aldi, Lidl-Variante nur in schlechter :D Dort kann aber super so Basics wie Reis, Nudeln, bla kaufen)
Ich würde Oba HortiFruti meiden, viiiiiiiiel zu teuer :D
Aber finde einfach selbst raus, was dir gefällt. Dazu ergänzend gibt es natürlich noch kleinere Geschäfte, tolle Bäckereien und alles weitere.

Mit allem (ab und zu Mittags essen gehen, Einkauf) würde ich sagen, dass du etwa 200-250 EUR rechnen musst. Natürlich sssseehr überschlagen und schwierig zu sagen, da jede Person da anders ist, jeder Monat mal anders ist, jedoch sollte man diesen Kostenfaktor nicht unterschätzen.

Freizeit:
Theater und Museen sind eher günstig und es gibt viele Konzerte und Kulturangebote umsonst. Da kannst du dir viel anschauen :)! Kino, Clubgänge oder Shopping sind wiederum etwa gleich teuer. (…)

Uff das war nun viel Text. Ich glaube ich möchte dir bereits auf der Schriftform etwas Begeisterung mitschicken ;).
Lass mich wissen, wenn du noch Fragen hast. (…)

Beijo
M.

Von: Céline Schneidewind
Gesendet: Sonntag, 2. Februar 2020 10:47
Betreff: RE: Zimmer :)

Liebe M.,

oh man, du entschuldigst dich, wenn du zwei Tage zum Antworten brauchst, und ich brauche mal eben zehn… tut mir wirklich sehr leid, ich hatte saumäßig viel um die Ohren!

Vielen, vielen, herzlichen, fetten Dank für diese ausführliche, beruhigende und Vorfreude stiftende eMail, und lass es dir bloß nicht einfallen, dich dafür zu entschuldigen, dass sie so lang ist (; zumal ich tatsächlich eigentlich nur die Miete erfragen wollte! :D Aber im Ernst: es hat mir sehr viel Spaß und Freude gemacht, sie zu lesen, und ich bin mir sicher, dass ich auf alle diese vielen Informationen noch dankbar zurückgreifen werde. (Außerdem habe ich sie zu Beruhigungszwecken meiner Mutter weitergeleitet und es hat funktioniert – vielen Dank also auch dafür). Das klingt alles wirklich wundervoll, und ich freu mich schon sehr!

Wo du dir nun schon die Mühe gemacht hast, mir so viel zu erklären, habe ich tatsächlich die eine oder andere kleine Rückfrage… ich habe von vielen Seiten gehört, dass Uber und Övis nicht die beste und sicherste Idee sind – hältst du das für Quatsch? Ich würde dir da im Zweifel sehr viel mehr trauen als irgendwelchen vermeintlichen Brasilien-Expert*innen, to be honest. (…)

Gleich im Anschluss daran meine eigentlich dringendste Frage: wie gut konntest du Portugiesisch, als du in São Paulo ankamst, und wie viel davon benutzt man tatsächlich bei der Arbeit im Goethe-Institut?

Ich frage deshalb so ängstlich, weil ich zwar offiziell auf B1.2-Niveau bin, aber nach monatelangem Schweigen wirklich EXTREM eingerostet (eher so A2). Ich glaube zwar schon, dass ich schnell wieder reinkommen und dann auch fix dazulernen werde, aber ich habe ein bisschen Horror vor den ersten Tagen und davor, mich maßlos zu blamieren und überhaupt nicht zurechtzufinden. Wie war das bei dir?

Ich danke dir von Herzen für deine wunderbare Vorab-„Betreuung“ und die ausführlichen Antworten auf meine endlose Fragerei… wirklich, das ist eine Riesenhilfe!

Hab ein paar wunderschöne letzte Wochen und nicht allzu viel Herzschmerz beim Abschied –
Beijo,
Céline

Sent: Monday, February 3, 2020 7:34 PM
To: Céline Schneidewind
Subject: AW: Zimmer :)

Oi Céline,
(…) Lieben Gruß auch an Mama, sie hat berechtigte Sorgen, die ich aber größtenteils ausradieren kann. Wie in jeder (Groß-)Stadt, muss man etwas auf das Bauchgefühl hören und gewisse Regeln beachten, d.h. in einer vollgestopften Metrobahn würde ich auch in Hamburg nicht mein Handy unbedingt in meine Po-Hosentasche unbeachtet stecken oder meine 100 Euro für alle sichtbar zählen. Ansonsten ist man, wie gesagt besonders hier im Viertel, aber auch sonst recht sicher in SP unterwegs. Auch wenn ich hier alleine als Mädel unterwegs war, ist mir nie etwas Unangenehmes oder Blödes passiert, auch alle meine Wertsachen sind noch nach 5 Monaten bei mir. Auch beim Reisen in Brasilien kann ich das so bestätigen. 

Ich habe von irgendeiner Ecke mal gehört, dass man auch aufpassen muss, wann und wo man sein Smartphone heraus holt. Auch das kann ich aus meiner Erfahrung keinesfalls so bestätigen, denn hier hat jeder überall sein Handy in der Hand und jeder besitzt eins. Vielleicht war das mal vor 10 Jahren ein Problem, als Smartphones noch ein „neues Ding“ war und nicht so erschwinglich. Aber du kannst beruhigt, dein Handy heraus holen.

Dass Öffis und/oder Uber unsicher sein sollte, ist nun sehr neu für mich und ist wirklich nicht so. Uber hat sogar einige Sicherheitsvorrichtungen von sich aus eingestellt: D.h. du siehst Informationen zu Fahrer und Fahrzeug, so dass du nicht in das falsche Auto einsteigen kannst und bereits etwas über Fahrer und seine Fahr-Erfahrungen kennenlernen kannst. Außerdem kannst du jederzeit die Strecke mitverfolgen, so dass du jede Abweichung sofort bemerken würdest. Zusätzlich kannst du noch deine Fahrt live an Freunde/Familie teilen, so dass die auch Abweichungen merken würden. Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es sogar einen „Notknopf“ an die Uber-Zentrale in der App. Die Autos sind auch alle gut in Schuss und es wird wert darauf gelegt, dass du dich anschnallst. Ich habe wirklich, weder hier noch anderenorts, Schlechtes über Uber gehört.

Und nun zu den Öffis: Die Metro hier ist sehr gut überwacht, sehr sauber und recht modern. Die kannst du ohne Bedenken nutzen. Der Metrobetrieb legt auch eine Nachtpause ein, so dass sie zu den vermeintlich unsicheren Stunden gar nicht erst verkehrt. Dann nimm einfach bequem das Uber. Die Busse mögen vielleicht etwas chaotisch sein und es ist nicht ganz einfach, die richtige Linie zu finden (deshalb auch die App „Moovit“ oder eine andere), aber als unsicher sehe ich die auch nicht an. Die Busfahrer haben manchmal einen Speed drauf aber sonst legen sie keine gefährliche Fahrmanöver hin und von Unfällen habe ich auch noch nichts gehört.

Hihi meine Portugiesisch-Kenntnisse waren bei A0 als ich her kam – Du bist mir also um einiges voraus ;)!
Also keine Sorge, denn du wirst hier mit einem Handkuss empfangen, wenn du schon Kenntnisse mitbringst. Blamieren wirst du dich keinesfalls, denn auch ich musste mich erst durchboxen und das hat jeder mit Geduld hingenommen. Du wirst hier manchmal in das kalte Wasser geschmissen, aber eigentlich bekommst du keine Aufgaben, die du nicht auf deinem Portugiesisch lösen könntest. Ich habe dadurch gute Vorschritte gemacht und übernehme auch ein paar Aufgaben, wo die Kommunikation dann nur über Portugiesisch läuft. Viele Kollegen am Goethe (z.B. dein ganzes Team in der Programmabteilung) können Deutsch, auch wenn sie sich freuen, wenn du Portugiesisch sprichst. Teammeetings laufen aber beispielsweise auch auf Deutsch ab. Also kurzum: Keine Sorge! Du bist auf einem sehr guten Weg, wenn du bereits sogar Vorkenntnisse mitbringst J.

Lass mich wissen, wenn ich dir vorab noch Sorgen oder Fragen abnehmen kann. Ich kann die Fragerei ja mehr als gut verstehen, wir sitzen ja alle in einem Boot.
Ich versuche derweil mein Abschieds-Herzschmerz etwas zu lindern und drücke dir weiterhin die Daumen für das Visum.

Beijo e um abraço
M.

Confessions of a Brazilian Callgirl – Brasilianisches Feuilleton #1

(von Dezember 2019)

Whoa.

Ich habe gerade einen richtig, richtig krassen Film gesehen – auf Netflix, ich geb’s zu, der erste Film, den ich über meinen eigenen Netflix-Account geguckt habe (der nur existiert, um Filme über Brasilien und über’s Boxen zu gucken). Confessions of a Brazilian Callgirl (2011) mit Deborah Secco in der Hauptrolle, Regie von Marcus Baldini, ist die Verfilmung einer Autobiographie von Raquel Pacheco, Das süße Gift des Skorpions. So weit die Fakten. Ich als blutige Netflix-Anfängerin gab „Brasil“ in der Suchleiste ein, fand diesen Film, hielt ihn für eine lustige, turbulente Sitcom und erinnerte mich vage an etwas Oberflächliches, Witziges namens „The Secret Diary of a Callgirl“, das ich vor Jahren mit meiner besten Freundin auf der Couch gesehen hatte.

…Tja, weit gefehlt. Ich hatte den Film vor ein paar Wochen angefangen und war dann mit meiner Mitbewohnerin in einem Türkisch für Anfänger-Sumpf versunken, und natürlich fiel es mir gerade an dem Abend ein, ihn zuende zu sehen, als ich vereinsamt, anxious und mit Rotwein in der Bude allein zuhause war und eh schon schlechte Laune hatte.

Über fast zwei Stunden folgen wir Bruna/Raquel, einem Schulmädchen aus einer Adoptivfamilie, bei ihrem Weg vom bürgerlichen Stadtleben über ein abgeranztes Bordell in São Paulo, ein Edel-Eskort-Apartment, den Rausch nationaler Berühmtheit, den Straßenstrich, üble Spelunken und einen Aufenthalt im Krankenhaus bis zu dem Punkt der Geschichte, an dem sie anfängt, sie selber zu erzählen.

Der Film hat von Anfang an eine bedrückende Note, Raquel ist zwar der Mittelpunkt des Geschehens, wirkt aber die meiste Zeit, als ginge sie ihr eigenes Leben gar nichts an. Adoptiert in eine Familie mit mehr oder weniger normalen Eltern und einem fiesen Bruder führt Raquel einen sehr normalen Schulalltag, bis ein Klassenkamerad findet, dass „Hausaufgaben zusammen machen“ und „Raquel zum Blowjob zwingen“ zwei so unterschiedliche Dinge doch gar nicht sein müssen. Raquel beschließt kurz darauf, den ganzen Mist hinter sich zu lassen und in São Paulo neu anzufangen.

Nach den ersten zehn Minuten freute ich mich auf den Rest des Films, latschte an zankenden Junkies vorbei zum Kiosk, um mir ein Börek zu holen, und drückte guter Dinge wieder auf Play.
Raquel führt ein „Einstellungs“gespräch mit ihrer Zuhälterin in spe, ignoriert geflissentlich die anderen Mädchen, die in derselben Wohnung schlafen und für dieselbe Frau arbeiten, und macht irgendwie ihr Ding.

Nach fünfundzwanzig Minuten dachte ich zum ersten Mal: Hui, das ist aber ganz schön intensiv, ich hoffe, es ekaliert nicht noch mehr.
Raquel heißt inwischen Bruna, lernt auf die harte Tour, was es heißt, als Prostituierte zu arbeiten (TRIGGER WARNING: it might as well be a rape scene), ihr wird ihr ganzes Geld geklaut, aller Anfang ist schwer.

Nach einer halben Stunde hatte ich mich wieder entspannt, der Film nahm einen positiven Farbton an, Hoffnung lag in der Luft und ein blasses Glück.
Bruna hat sich inzwischen mit ihren Kolleginnen angefreundet, macht jede Menge Kohle und Unsinn, stylt sich die Haare anders, geht tanzen und berichtet lakonisch von den unterschiedlichen Penisformen ihrer Kunden und dem merkwürdigen Moment, als einer von ihnen nur Möbel mit ihr zusammen verrücken wollte. Ihr allererster Freier – der auch ihr erstes Mal war – kommt regelmäßig zum Quatschen und Rauchen vorbei, und einmal hat sie sogar wirklich guten Sex und denkt kurz, sie sei verliebt (und auch als Zuschauerin lauert man nur darauf, dass dieser Typ zurückkommt).
Sie kündigt zusammen mit einer Freundin im Bordell und startet einen Blog über ihr Leben als Callgirl, der – ganz „Brazilian Dream“ – absolut durch die Decke geht und ihr ein neues, völlig anderes Leben ermöglicht. Aber dann… shit goes down.

Etwa zur Hälfte des Films, die Handlung erreichte ihren absurden Höhepunkt wie in einem experimentellen Theaterstück, wo alle nackt sind und auf der Bühne eine Gurke vergewaltigt wird (ich erinnerte mich mit Schaudern an „Mother!“ mit Jennifer Lawrence, den letzten miesen Trip dieser Art, der mir heute noch nachhängt), hatte ich mir mittlerweile den Arsch abgefroren und saß bibbernd mit dem Rücken an der Heizung auf dem Boden hinter meinem Bett.
Bruna hat völlig die Kontrolle über sich und ihr Leben verloren, stößt die Menschen weg, die gut zu ihr sind, und lässt sich immer mehr auf Drogen und die falschen Leute ein, driftet ins Vulgäre ab und wird immer einsamer, geht immer kaputter. Derweil werden ihre Outfits und ihre Bude immer pompöser und die Zahl ihrer Kunden immer höher, während die Zahl ihrer Bewunderer rapide abzunehmen beginnt. Sogar der Mann, mit dem sie guten Sex hatte, kommt sie besuchen, findet sie alleine und depressiv Bier trinkend am Pool vor und nuschelt irgendwas von „So hab ich mir das aber nicht vorgestellt“, um dann den Schwanz ein- und wieder abzuziehen. In einer Talkshow, wo der Moderator  versucht, Fragen über ihr ruhmreiches Leben zu stellen, schaut sie in die Kamera und verweist mit dem Satz „Falls ihr mich ficken wollt…“ auf ihre Website. Irgendwann sehen wir Bruna zum allerersten Mal auf dem Straßenstrich stehen. Cut.

Die nächsten zwanzig Minuten dachte ich alle paar Szenen, dass es das doch jetzt bitte gewesen sein muss und dass es auf gar keinen Fall noch drastischer, elender, grausamer und more graphic werden kann. (Es kann.)
Der durch den Schnitt als solcher erkennbare „zweite“ Teil des Films beginnt mit einer langsamen Kamerafahrt durch eine verrauchte Kaschemme, in der Billard gespielt wird und sehr viele Leute aus scheinbar unerfindlichen Gründen in einem Flur stehen. Die Kamera fährt an jedem Einzelnen von ihnen entlang, allen, wie sie da aufgereiht herumlungern, große, kleine, dicke, dünne, vornehmlich hässliche Männer. Wait. Alles Männer. Einen von ihnen hört man „im Vorbeigehen“ murmeln, dass die Kleine ja wohl echt heiß sein müsse. Plötzlich realisiere ich, dass diese Kerle alle nicht nur rumstehen, sondern anstehen. Ein sehr, sehr böser Verdacht beschleicht mich und ich denke: Oh Nein. Oh Nein. Die Tür am Ende des Gangs geht auf und heraus kommt Bruna, in T-Shirt und Slip, die lacht, eine anzügliche Bewegung macht und ruft: „Na, welcher Süße ist als Nächster dran?“ Mir wird schlecht.

Dann kam der Teil, wo ich mich endgültig fragte, was ich mir hier eigentlich antue und warum ich mir so was geben muss – als ersten cinematografischen Eindruck der Stadt, in der ich für fünf Monate leben werde. Das wäre so, als würde ich nach Hamburg kommen und mir als Erstes den Goldenen Handschuh von Fatih Akin reinziehen.
Die nächsten fünf Minuten (TRIGGER WARNING) sieht man, man kann es nicht anders sagen und es wird auch im Film so genannt, Bruna beim Geficktwerden und Koksen zu, und das ist nicht nur nicht schön, das ist absolut nichts, was ich mir ohne Vorwarnung alleine an einem entspannten Abend angucken würde. Das Grausamste an dieser nicht enden wollenden Szene ist der obligatorische Zwischenschnitt, der in immer kürzeren Abständen kommt und Bruna zeigt, wie sie die Tür aufreißt und mit immer rauerer Stimme, mit immer leereren Augen „Próximo!“ raunzt. Am Ende kommt der Notarzt.

Bruna landet im Krankenhaus, wo sie – ein wenig überraschender plot twist, könnte man meinen – ihr hartnäckiger erster Kunde und inzwischen so-was-wie-ein-Freund Huldson abholt. Er nimmt sie im Auto mit, sie hat eine Jeans und einen Pullover an, gekämmte Haare, ein müdes Gesicht, macht aber den Eindruck, als hätte sie das Gröbste überstanden, Ruhe gefunden und mit der Heilung begonnen. Huldson bietet Bruna ein sicheres und schönes Leben an. Er liebt sie, so, wie sie ist. Sie kann zu ihm ziehen, sie kann neu anfangen. Bruna wird wieder zu Raquel.
Und jetzt kommt der überraschende Teil, der Grund, warum ich den Film trotz seiner Grausamkeit letztendlich sehr genossen habe und lohnend fand: Raquel erklärt Huldson, dass er ihr dieses Angebot nicht machen würde, würde er verstehen, worum es ihr geht. Es ging ihr immer darum, unabhängig zu sein. Mit dem, was sie in São Paulo in großem Stil gemacht hat – „Ficken!“ – war sie unabhängig, auch wenn sie dafür einen sehr hohen Preis gezahlt hat. Cut. Man versteht Raquel, fragt sich aber gleichzeitig ein bisschen, wie man so blöd sein kann.

Dann kommt der Epilog. Raquel ist ein letztes Mal Bruna, aber sie bleibt sich dabei treu. Sie spricht darüber, wie sie sich selbst verloren hat, welche Fehler sie gemacht hat, was sie daraus gelernt hat. Sie sagt aber auch, dass es Raquel ohne Bruna nicht geben würde und umgekehrt, dass Bruna immer ein Teil von ihr bleiben wird.
Sie sagt außerdem den sehr simplen und sehr, sehr starken Satz: „Ich bin stolz auf mich.“ (An der Stelle hatte ich Gänsehaut.)
Sie erklärt mit fester, ruhiger Stimme aus dem Off, dass sie Huldsons Angebot annehmen wird, dass sie sich aber erst noch ein finanzielles Polster aufbauen will, um unabhängig zu bleiben. Dass sie deswegen noch sechs Monate anschaffen wird, also 800 Termine. Man sieht sie in einer schönen Wohnung, in einem schönen Kleid, gesund, entspannt, ihre Augen lächeln. Es klingelt. Sie geht zur Tür, die Kamera hält auf Brunas Gesicht. „Komm rein“, sagt sie.

Was ich an diesem Film bemerkenswert fand, war erstens die Tatsache, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Das hat vor allem in den Momenten eine starke Wirkung, in denen man mit den Augen rollen und „Come on, das ist jetzt aber wirklich ein bisschen abgedreht!“ rufen möchte (und es gab derer einige).
Zweitens die Hauptdarstellerin. Eine solche Wandlungsfähigkeit, ohne dass man das als Zuschauerin direkt bemerkt, habe ich selten gesehen. Deborah Secco leidet, liebt, kämpft, stirbt und steht wieder auf, so überzeugend, dass man nicht versteht, warum diese Frau nicht weltberühmt ist.
Und drittens die feinen plot twists, der feministische Unterton, der immer stärker wird, das vermeintliche Paradox zwischen dem Inhalt der Geschichte und der Tatsache, dass die Protagonistin sich selbst dazu entschieden hat, sie genau so zu erzählen. Hier gibt es keinen male gaze, sondern nur den unbarmherzigen und doch liebevollen Blick Raquels auf sich selbst. Kein Prinz, der zur Rettung eilt, keine Freunde, die nach einigen Szenen mit trauriger Musik doch wieder zurückkommen, keine moralischen Zeigefinger. Nur Raquel/Bruna und den Weg, den sie geht – stolz und unabhängig.

Goddayum

Ein lakonischer erster Eintrag ohne viel Inhalt, bis auf den Ausdruck meiner allgemeinen Überforderung, meine langsam keimenden Vorfreude, die vermutlich im Laufe der Zeit so grenzenlos wird wie das Betonmeer, in das ich ziehen werde, und ein Zitat, das hübsch und passend ist und vorgibt, ich könnte wer weiß wie toll Portugiesisch – mein geliebter Portugal-Nationaldichter, nicht Camões, sondern dieser merkwürdig pluralistische Eigenbrötler namens Pessoa…

A vida é o que fazemos dela. As viagens são os viajantes. O que vemos não é o que vemos, senão o que somos.