Bullshit-Bingo

Wieder und wieder stelle ich fest, dass ich anscheinend auch mit 23 noch immer nicht alt und erwachsen genug bin, um dem Mist zu entkommen, den Erwachsene aus näherem und weiterem Umfeld unvermeidlich auf einen abfeuern. Nachdem ich dem Klassiker „Pass auf, jetzt geht der Ernst des Lebens los“ an bestimmt fünfzehn Wendepunkten meines Lebens lachend entkommen bin, sobald ich verstanden hatte, dass sowohl die Grundschule als auch das Gymnasium als auch die Oberstufe als auch, Surprise, das Studium nur so ernst ist, wie man es sich gestalten möchte, häufen sich nun seit ein paar Wochen die wohlgemeinten, besorgten, ratgebenden, ABSOLUT NICHT HILFREICHEN Kommentare und Erkundigungen.
Seitdem ich diesen Blog mehr als Selbsttherapie benutze denn als Berichterstattung, fühle ich das riesige Verlangen, mir meine vielleicht unangemessen große? Aggression von der Seele zu schreiben über diese Gesprächsschnipsel, die mit Sicherheit die meisten anderen Nicht-mehr-Freiwilligen auch schon gehört haben (von einigen weiß ich es sogar aus von hysterischem Gelächter und von Herzen kommenden Seufzern begleiteten Bullshit-Bingo-Runden).Allen dummen Fragen voran die dümmste aller Fragen: „UNd wAs MaCHsT dU jEtZt?“
Achso, ja! Lasst mich nur kurz umständlich das Papyrus aus meiner hinteren Hosentasche pfriemeln, auf dem ich in allen Details den absolut wasserfesten und idiotensicheren Plan B notiert habe, über den ich mir schon seit Monaten Gedanken mache für den Fall, dass mein Aufenthalt in Brasilien wegen einer nie zuvor dagewesenen, sämtliche globalen Prozesse und Strukturen aus den Angeln hebenden Pandemie einen Tag vor Abflug abgesagt wird.
… Würde man gerne erwidern. Stattdessen seufzt man matt: „Weiß nicht. Lässt sich nichts planen. Bin jetzt erstmal bei meiner Mutter.“ Und sinkt dann zurück auf die elterliche Couch. Deprimierend.

Dieser Antwort folgen dann im Allgemeinen allerhand (natürlich wieder nur gut gemeinte!) Vorschläge, was man denn tun könnte, bzw. entrüstete Fragen, warum man denn dies oder jenes nicht tut.
Zum Beispiel mein Onkel am Telefon: „Willst du dich jetzt anderswo engagieren?“
„Naja, ich habe nach wie vor meine beiden Ehrenämter am Start, die laufen ja remote, das kann ich also auch von Bremen aus machen.“
„Achso, aber ich meine so, in Zeiten der Corona-Krise? Also, dass du dich in der Krise engagierst, bei der Nachbarschaftshilfe oder so?“
Aus irgendeinem Winkel kratze ich die Motivation zusammen, ihm meine Meinung zu Verantwortlichkeiten „in der Krise“ zu erklären. Wenn Solidarität laut Regierung bedeutet, Abstand von einander zu halten, seine Großeltern nicht mehr zu besuchen und sein eigenes Ding zu machen, und ich mich wohlgemerkt ohnehin schon engagiere, im Gegensatz zu meinem Onkel, der Bier trinkend auf seiner Terrasse mit mir telefoniert, dann fühle ich mich nur so semi-verantwortlich, in der Frustration und der Enttäuschung, die die weltweiten Maßnahmen in meiner persönlichen Entwicklung ausgelöst haben, auch noch pro bono Defizite des Staats auszugleichen. (Von dieser Meinung kann man übrigens halten, was man will, ich sehe das inzwischen auch nicht mehr so radikal und einige Dinge haben sich seitdem geändert. Aber in dem Moment war ich einfach nur wütend.)

Auch ein Klassiker von egal wem, den man nicht um seine Meinung gebeten hat, wenn man eröffnet, dass man nicht – Überraschung! – „das Weite gesucht“ hat, sondern zuhause hängt: „Hab ich mir schon gedacht. Naja, aber ist doch besser, du bist jetzt zuhause.“
Danke für absolut nichts, Captain Obvious. Thema verfehlt, Sechs, setzen.

Mehrere Nicht-mehr-Freiwillige haben mir erzählt, dass ihre Eltern nach einer Woche oder sogar nur wenigen Tagen, die sie apathisch im Bett  bzw. zuhause rumgehangen hatten, Sätze sagten along the lines von: „Jetzt ist aber auch mal gut, jetzt reiß dich mal wieder zusammen und kümmer dich um was Neues!“ Das (etwas weniger brutale) Equivalent, das ich von mehreren Freunden bekam, war: „Ist doch auch eine Chance, oder? Du findest bestimmt ganz schnell was Anderes, was du machen kannst, und reisen kannst du ja später immer noch.“
Erstens. Solche Kommentare scheinen immer von Menschen zu kommen, die vermutlich sogar vergessen haben, dass ein Tellerrand existiert, über den sie hinausschauen könnten (wenn sie denn wollten). Ist schon klar, dass sich für dich nicht sonderlich viel verändert, wenn du ohnehin deine Heimatstadt nur einmal jährlich für zwei Wochen Strandurlaub verlässt. Die Tatsache, dass für einige Menschen Fernweh ebenso schlimm sein kann wie Heimweh und die Sehnsucht nach Neuem ebenso schmerzhaft wie die Sehnsucht nach der eigenen Familie, ist für dich schwer vorstellbar, ok. „Dann macht man das eben nächstes Jahr“ ist aber nunmal leider in Hinblick auf kulturweit nichts, was sich so einfach anwenden lässt, denn:
Zweitens. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, wie viel wir tatsächlich in diesen Auslandsaufenthalt investiert haben – wie viel Zeit, wie viel Geld, wie viel Mühe, wie viel Aufwand für bürokratische Verrenkungen, das Vermieten von Wohnungen und Kündigen von Jobs, wie viel Engagement im ewig langen Bewerbungsprozess, in der Beantragung des Visums, wie viel Herzblut für die mentale Vorbereitung, für das Schüren von Vorfreude und das Bekämpfen von Ängsten, für schwierige Entscheidungen, das Schreiben von Packlisten und Abschiedsbriefen, wie viel Stolz auch, als klar war, wohin man gehen würde, und wenn man dann allen sagen konnte (und das auch tat): „Ich gehe nach Brasilien für ein halbes Jahr.“
Ich weiß nicht, ob dir klar ist, was das für ein Gefühl ist, wenn dir klar wird, dass all diese Vorbereitungen von einem Moment zum Anderen sinnentleert werden, für nichts und wieder nichts waren, in der ultimativen Antiklimax enden. Ganz abgesehen davon, dass viele von uns nächstes Jahr zu alt sind, um sich nochmal zu bewerben, oder bis dahin ein Studium oder einen Job angefangen haben müssen, ist die Entscheidung, diesen ganzen inneren und äußeren Prozess noch einmal durchzumachen – und das ohne die Sicherheit, nochmal genommen zu werden, geschweigedenn, in dieselbe Einsatzstelle zu kommen – keine, die man schnell oder leichtherzig trifft.
Drittens. Lass mir Zeit zum Trauern, BITTE. Stell dir vor, dein gesamtes nächstes Jahr wird abgesagt. Nicht nur ein Festival oder ein Urlaub. Nicht nur verschoben, verändert oder verkleinert. Sondern abgesagt. Mitsamt allen Sicherheiten, auf die du angewiesen warst, und allen Plänen, die du drumherum gebaut oder dementsprechend angepasst hattest. Stell dir vor, dieses Jahr in dieser Form war einmalig, unwiederbringlich, unersetzbar. Dich will ich sehen, denke ich jedes Mal im Stillen, womit wir wieder bei Erstens wären, dich will ich sehen, der/die du noch nie auch nur darüber nachgedacht hast, so viel Energie in ein solches Abenteuer zu stecken, wie du reagieren würdest an meiner Stelle, ob du direkt auf den Füßen landen würdest, ob du das nicht persönlich nehmen würdest, ob dir die Enttäuschung und der Frust und die aufgezwungene Untätigkeit nicht die Luft abschnüren und sämtliche Motivation rauben würde. Dich will ich sehen.

Natürlich sagt man all diese Dinge so gut wie nie. Ich – und auch alle Nicht-mehr-Freiwilligen, mit denen ich in Kontakt stehe – waren, gerade im Schock der allerersten Tage, aber auch bis heute erstaunlich gut gelaunt, zuversichtlich und voller Tatendrang. Wir hatten so viel vor, wir haben uns um so viel gekümmert, so viel versucht, wir haben uns engagiert und vernetzt und protestiert und nach Alternativen gesucht. Die meisten von uns sind jetzt zuhause und müssen entweder das erste Mal seit dem Auszug oder entgegen allen Plänen anstatt des ersten Auszugs nun wieder mit ihren Eltern koexistieren.
Natürlich sitzen wir nicht den ganzen Tag auf dem Sofa und lassen uns heulend durchfüttern. Und ich bin mir sicher, dass die meisten, genau wie ich, viel weniger über das Thema sprechen, als sie darüber nachdenken, weil man ja auch niemanden damit nerven will, weil alle betroffen sind, weil man nicht alleine auf der Welt ist, weil man es ja immerhin sehr gut hat und im Vergleich wirklich extrem privilegiert ist. Umso schlimmer ist dann – wenn man doch mal von der Wut erwischt oder der Wehmut übermannt wird und sich nicht verkneifen kann, zu sagen: „Jetzt würde ich vielleicht eigentlich irgendwo in Pinheiros in einem Café sitzen und einen cafezinho trinken.“ Oder: „In ein paar Wochen wären wir alle zusammen in Argentinien gewesen.“ Oder: „Ich frag mich, wie São Paulo zu dieser Tageszeit riecht und klingt.“ – folgende oder eine vergleichbare Antwort: „Man hat den Eindruck, du denkst, dir geht es von allen am allerschlechtesten und du stellst deine Probleme in den Mittelpunkt. Denk doch mal an (insert random example of someone who is worse off than you here).“
Man, ja, ich weiß, dass Menschen um ihre Existenz kämpfen. Ich weiß um die zynische Situation in überfüllten Asylunterkünften und um die Grausamkeit der Bedingungen in den Lagern in Griechenland. Ich weiß auch, dass manche Menschen sich von ihren liebsten Angehörigen nicht angemessen verabschieden können, weil Krankenhäuser nicht mal in den ernstesten Fällen noch Besuch zulassen. Nichts davon ist vergleichbar mit meiner Situation. Ich habe ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, keine Sorge um mich oder Menschen, die mir lieb sind, und auch ins Ausland kann ich später noch. ICH WEISS DAS. Und ich bin dankbar dafür.
Glaubt mir, ich denke nicht, dass es mir am schlechtesten von allen geht. Es fühlt sich richtiggehend schizophren an, zu versuchen, mit der eigenen Situation klarzukommen und sie gleichzeitig ins Verhältnis zu setzen mit all dem ungleich viel größeren Leid, das diese Pandemie auslöst. Und glaubt mir, was mir in diesem inneren Spagat ganz bestimmt nicht hilft, sind solche Kommentare, am besten noch verbunden mit emotionaler Erpressung – „Wir tun hier alles, damit es dir gut geht, und nie ist es genug, wir sind auch nicht glücklich mit der Situation“ – vor allem, wenn wir uns vor euch ohnehin schon zusammenreißen, um euch nicht ununterbrochen mit unserem Gejammere auf den Sack zu gehen (denn glaubt mir, das könnten wir.)

Ja, wir sind alle betroffen. Also wäre in jedem Fall ein kleines bisschen Empathie vielleicht nicht schlecht, alle miteinander. Rant over.

PS. Würde mich sehr über eure Kreuzchen im Bullshit-Bingo freuen, liebe Mitfreiwillige, und über Ergänzungen und Korrekturen.

Kleiner Aprilscherz!

Für die schätzungsweise null Leser*innen, die sich vielleicht gefragt haben, was in der Zwischenzeit so passiert ist, wie es mir ergeht, ob ich gut angekommen bin und warum ich so lange nichts mehr geschrieben habe. Einen kulturweit-Blog verspricht sie uns, und dann endet er mit guten Wünschen der Vorgängerin, endet an der Stelle, wo es erst anfängt, richtig interessant zu werden!

Tja, das hat folgenden Grund: Mein kulturweit ist geendet an der Stelle, wo es anfing, erst richtig interessant zu werden. Und zwar mit folgender eMail:

Sent: Thu 12.3.2020 10:33
From: freiwillige@kulturweit.de
Betreff: Sofortiger Stopp aller kulturweit-Ausreisen

Liebe Freiwillige,

angesichts der stetigen Verschärfung der Situation haben wir gemeinsam mit den Partner und dem Auswärtigen Amt die Entscheidung getroffen, alle Ausreisen sofort abzusagen.

Bitte sagen Sie sofort alle Reisepläne ab. Wenn Sie bereits losgefahren sind, kehren Sie um.

Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, allerdings ist sie im Moment die einzig verantwortliche für alle Betroffenen: für Sie, die Einsatzstellen und Ihre Gastländer. Die Situation in den vergangenen Tagen hat sich so unübersichtlich entwickelt – Schulschließungen, Einreisesperren, Flugabsagen, unklaren Quarantäneregelungen etc., dass wir uns zu diesem Schritt entscheiden mussten.

Wir informieren die Partner und die Einsatzstellen.

Mehr Informationen folgen, bitte warten Sie mit Rückfragen. Alle Freiwilligen die bereits im Ausland sind, werden wir in Kürze kontaktieren.
In Anbetracht der volatilen weltweiten Gesamtsituation gibt es keine andere Möglichkeit.

Mit vielen Grüßen & Bleiben Sie gesund
Anna Veigel und das kulturweit-Team

Um es nochmal sehr deutlich zu machen (und auch für mich selber, da ich es nach vier Wochen immer noch nicht ganz durchdrungen habe, weswegen ich auch geflissentlich diesen Blog ignoriert und das dazugehörige Lesezeichen aus meiner Taskleiste gelöscht habe.)
Ich bin nicht in São Paulo.

Ich werde auch nicht hinfahren.
Stattdessen sitze ich in Bremen auf dem Sofa meiner Mama.
Mein kulturweit-Vertrag endet in zehn Tagen. (Und ich kann froh sein, dass sich seit der Absage der ein oder andere Sachverhalt geklärt hat und ich nicht mehr, wie an Tag Null, so ganz ohne Studierendenstatus, Krankenkasse, Kindergeld, Job, Wohnung oder Plan dastehe.)

Ich war genau zwei Monate lang Freiwillige und habe es gerade so eben zum gepackten Koffer und zum leergeräumten Zimmer geschafft. Meine Mutter saß im Zug zu mir nach Hamburg, um mit mir Abschied zu feiern, als ich ihr und all meinen wichtigen Kontakten ohne einen weiteren Kommentar den Screenshot der eMail schickte, woraufhin wir ein laut meinem Telefonprotokoll 30-sekündiges Gespräch führten, das ungefähr so verlief:

„Ich hab gerade eine Nachricht von dir gekriegt, die ist nicht wahr, oder?“
„Doch, fürchte schon.“
„Heißt die das, was ich denke, was sie heißt?“
„Jap, fürchte schon.“
„Ok, ich komm erstmal trotzdem, und dann schauen wir weiter, ok?“
„Jau, bis gleich.“

Seitdem hat sich eine Menge getan. Ein Haufen Pläne wurden geschmiedet und verworfen, unter anderem der, diesen Blog weiterzuführen und ihn zu einem Stattdessen-Blog zu machen. Ich hatte sogar schon ein wahnsinnig originelles Motto: “ Quando se fecha uma porta, abre-se uma janela“, schrieb mir meine Betreuerin beim Goethe-Institut, die zugegebenermaßen sehr lieb ist und es nur gut meinte. Ich habe wohl ein recht sparsames Gesicht gemacht beim Lesen dieser Weisheit, das versprochene Fenster habe ich bislang weder gefunden noch geöffnet.
Dieser Blog aber ist heute mit folgenden Worten zurück ins Leben gerufen worden, die mir einer meiner liebsten kulturweit-Menschen schrieb: „Tut irgendwie gut, sowas zu lesen, auch in dieser schwierigen Zeit (…) Ich freue mich auf deine Berichte:)“ Manchmal braucht es nicht mehr als das.
Und ja, es tut gut, zu wissen, dass 200 andere Menschen in derselben Scheißsituation festsitzen, und es tut unendlich gut, diese Menschen persönlich kennengelernt zu haben, in zehn unvergesslichen Tagen am Werbellinsee beim EInführungsseminar, über das ich eigentlich auch hatte berichten wollen, wäre nicht etwas dazwischengekommen.
Aber jetzt.
Ich werde das Brasilianische Feuilleton weiterführen mit allen Büchern und Filmen, die ich nun mal als Vorbereitung gelesen und geschaut und zu denen ich mir Notizen gemacht und EInträge entworfen habe.
Ich werde von den Menschen beim Einführungsseminar berichten, von meiner geliebten Homezone, von diesen zehn Menschen, ohne die die letzten Wochen noch sehr viel spaßloser und frustrierender gewesen wären, als sie letztendlich waren.
Ich werde von allen Schnapsideen erzählen, die wir uns in der Zwischenzeit als kulturweit-Alternative ausgedacht haben, von unseren Isolations-Breakdowns, von stundenlangen Skype-Gesprächen und Palo-Santo-Gelagen, von to-do-Listen für 2020, bis 2030 und bis zu unserem unvermeidlichen Dahinscheiden (irgendwann in 500 Jahren vielleicht).
Ich werde alle Stadien der Wut, der Resignation und der neuen Hoffnung dokumentieren, die es von uns gibt.

Scheißegal, ob irgendjemand das liest, aber ich brauche was zu tun und einen Raum für Eigentherapie. Und ich freue mich auf die Blogs aller Freiwilligen, die etwas Ähnliches tun, denn, trotz allem – sind wir zum Glück nicht allein!

Soviel zu meinen Plänen und genug für heute. Até já!